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Dienstag, 30. April 2013 – Deutsch-jüdische Antibiose

Hello, Freunde der Juden,

Israel und Deutschland sind keine befreundeten Staaten. Sondern Staaten, die Freundschaft zelebrieren. Auf deutscher Seite mit erhöhtem Über-Ich-Druck, die Vergangenheit bearbeitet zu haben. Manche denken auch an Erpressung. Denn ohne Freundschaftsbeweise wäre Deutschland nie in die Reihe der Völkergemeinschaft zurückgekehrt.

Woran erkennt man echte Freundschaft? Dass man in Notzeiten zusammensteht. Würde Deutschland Israel zur Seite stehen, wenn das Land der Juden in Not geriete? Warum im Konjunktiv reden? Der Indikativ der geheuchelten Freundschaft ist schon lange zu besichtigen. Dass beide Völker tun, als ob alles paletti wäre, spricht weder für offizielle Deutsche noch für staatstragende Juden.

Zu echter Freundschaft gehört aufrechte Kritik, die gibt es im deutsch-israelischen Verhältnis nicht. Hier wird geheuchelt, dass sich die Balken biegen. Merkel scheut sich nicht, in der Knesseth zu sagen: „Ich weiß sehr wohl: Sie brauchen keine ungebetenen Ratschläge von außen und schon gar nicht von oben herab.“ Damit wurde jede Kritik als „ungebetener Ratschlag von oben“ abgefertigt.

In echten Freundschaften gibt’s keine ungebetenen Ratschläge, denn Freundschaft ist kritische Solidarität. Wenn die Meinung des Freundes nicht von Interesse ist, ist auch der Freund von keinem Interesse. Aber auch unter Nichtfreunden muss es in der heutigen Weltlage gestattet sein, dass jedes Volk

jedem anderen in der Welt Rückmeldung gibt. Wir sitzen alle im selben Boot, das Verhalten des einen betrifft stets das Verhalten aller andern.

Das sind Trivialitäten, die im deutsch-jüdischen Verhältnis nicht gelten. Im falschen Glanz einer ausschließlich von höllischen Untaten geprägten, dennoch im Himmel geschlossenen Partnerschaft wird der gesunde Menschenverstand ausgeschlossen. Damit nicht genug, Merkel verfälscht wachsame und kritische Loyalität zur blinden Staatsraison:

„Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“

Gerade um der Sicherheit Israels willen, wären deutliche Worte an die Regierung in Jerusalem notwendig. Merkel will nicht sehen, in welchem Maß die israelische Gesellschaft von Problemen geplagt ist, die nicht nur von außen importiert wurden.

Israelische Kritiker des Landes wie Uri Avnery, Moshe Zuckermann, Avraham Burg werden von der deutschen Regierung mit gänzlicher Nichtbeachtung bestraft, was identisch ist mit Verachtung, der Vorform eines staatlichen Antisemitismus gegenüber selbstkritischen Juden. Wenn es den Juden nicht gibt, so kann Benjamin Netanjahu mit Bestimmtheit nicht der repräsentative Jude sein.

Dass die Staatsraison eines Staates mit der eines anderen identisch sein soll, unabhängig von seiner friedlichen oder unfriedlichen Politik, ist fahrlässige Unterwerfung unter die Interessen eines anderen Volkes – unter verfassungswidriger Vernachlässigung der Interessen des eigenen, für die einzutreten die Kanzlerin vor ihrem protestantischen Gott einen Eid ablegte.

Würde Israel einen unverantwortlichen Krieg gegen den Iran beginnen und Deutschland wäre in botmäßiger Unterwürfigkeit dabei, müsste die ganze Regierung wegen Verfassungsbruchs angeklagt und abgesetzt werden.

Schon im Falle der umstrittenen Beschneidung war die Kanzlerin nur von der Sorge beherrscht, sich vor der Welt nicht lächerlich zu machen. Die herrschende Gesetzeslage in Deutschland kümmerte sie einen Pfifferling. Ihre Unterwerfung unter religiöse Steinzeitrituale empfand sie als großzügige Souveränität und Wiedergutmachungsgeste. Wieder war es ihr gleichgültig, dass moderne Juden sich von diesen Ritualen längst losgesagt haben. (Ein Prozess, der bereits im deutschen Reformjudentum des 19. Jahrhunderts begonnen hatte.)

(Merkels Rede vor der Knesset in der WELT)

 

Im Jahre 1939 verfasste Martin Buber einen Aufsatz mit dem Titel „Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose“. Das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden sei vor 1933 „produktiv, echt und naturhaft“ gewesen. Als der ehemalige Bundestagspräsident Gerstenmeier sich 1966 auf die deutsch-jüdische Symbiose berief, widersprach ihm Gershom Scholem vehement und sprach von einem „zurückprojizierten Wunschtraum“.

1946 prägte Hannah Arendt den Gegenbegriff „Negative Symbiose“, den Dan Diner und andere aufgriffen, um zu beweisen, dass es in der gemeinsamen Geschichte nie eine echte Symbiose gegeben habe.

In einer Sym-biose, dem Zusammenleben zweier Organismen, nützen Partner sich im gegenseitigen Tauschgeschäft. Auf gleicher Augenhöhe? Wenn Ehe eine Symbiose ist, waren dann Frau und Mann stets auf gleicher Augenhöhe? Eva war Gehilfin des Mannes, war Adam Gehilfe Evas? Nationen sind Symbiosen – waren Herren und Knechte auf gleicher Augenhöhe? In sadomasochistischen Beziehungen braucht der Sadist die Masochistin – auf gleicher Augenhöhe?

Komplementäre Beziehungen sind keine auf gleicher Augenhöhe, aber notwendige Ergänzungen zu einer Art Ganzheit, die in jeder Beziehung anders definiert sein kann. Der Herr verteidigt den Knecht, der Knecht füttert den Herrn. Die emanzipierte Alternative wäre: der Herr verteidigt und füttert sich selbst, ebenso der Knecht.

Wenn aber jeder autark und selbständig wäre, bräuchten wir weder Gesellschaft noch Arbeitsteilung. Nicht jeder kann alles, nicht jeder kann alles gleich gut oder so gut, dass er den bestehenden Zustand aufrecht erhalten, geschweige für Fortschritt sorgen kann, sofern Fortschritt erwünscht wird.

Der Papierform nach sind in einer kapitalistischen Gesellschaft alle auf gleicher Augenhöhe, doch die Eliten sind „gleicher als gleich“, beanspruchen materielle und reputierliche Privilegien und Machtvorteile. Je autarker ein Organismus, je weniger ist er auf ergänzende Symbioten angewiesen.

Die moderne, auf Emanzipation zielende Partnerschaft zeigt die dialektische Wendung: je mehr der Einzelne sein Leben allein gestalten kann, je weniger er also eine hilfreiche Ergänzung benötigt, je weniger ist er auf eine Partnerschaft mit anderen angewiesen: Singles müssen autonom und autark sein. Wozu brauchen sie noch Partner?

Der Volksmund hat die Widersprüchlichkeit der Partnerwahl erfasst: „Gegensätze ziehen sich an“, sie benötigen Streit und Auseinandersetzung, um sich aus der Antithese zur Synthese hochzuarbeiten. Bei „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ ist gleiche Augenhöhe garantiert – aber auch der Anreiz zur agonalen Fortentwicklung?

Welcher Art war die deutsch-jüdische Symbiose, aus der Perspektive vor und nach dem Holocaust? Martin Buber hat 1939 notiert:

„In unserer Galuth-Geschichte (Geschichte des jüdischen Exils) trägt jede fest und dauerhaft scheinende Lage den Keim der Zerstörung und Zersetzung in sich Aber wir fallen immer wieder in die Illusion, diesmal sei es endgültig, eine Illusion, die man freilich nicht einfach mit der verächtlichen Bezeichnung „Assimilation“ abtun darf, denn neben äußerer Anpassung gibt es doch immer wieder die Erscheinung einer echten, gewachsenen Verbundenheit mit Erde und Kultur, einer zwar in sich problematischen, aber doch existentiellen, in die Tiefen unserer Existenz reichenden Synthese, deren Ende den Charakter der Zerreißung eines organischen Zusammenhangs hat.“

Die Deutschen des Dritten Reichs hätten eine Synthese zerstört, die aber nicht nur aus Illusionen bestanden habe. Wer mit Erde und Kultur verbunden sein wolle, ist angewiesen auf echte Beziehungen mit anderen Völkern und Kulturen. Man kann Fremdbeziehungen als Illusionen betrachten, doch dann bleibt man für sich und wird nie die tiefe Verbundenheit mit Andersdenkenden erleben.

Freilich, jeder Versuch des synthetischen Brückenbaus kann in einer schrecklichen Falle enden. Wie im Falle der Deutschen, die mit der „automatischen Gründlichkeit einer Vernichtungstat“, in einer „ausgerechneten Raserei“ die gelebte deutsch-jüdische Symbiose in eine verhängnisvolle Illusion verwandelt hätten.

Doch trotz der Katastrophe beharrt Buber darauf, dass die „Produktivität der deutsch-jüdischen Beziehungen echt und naturhaft“ war. „Es gibt kein Gebiet deutscher Existenz, in dem in diesem Zeitalter nicht jüdische Menschen führend mitgewirkt hätten, ordnend, deutend, führend und gestaltend. Das war kein parasitäres Dasein; ganzes Menschentum wurde eingesetzt und trug seine Frucht Ich selbst habe es im Umgang mit bedeutenden Deutschen immer wieder erlebt, wie unvermutet Gemeinsames aus der Tiefe aufbrach und zu Wort und Zeichen zwischen uns wurde.“

Doch nun, nach dem Holocaust, sei die Symbiose zu Ende und könne nie wiederkommen. Es bliebe nur, dass deutsche Juden nach Palästina kämen: „Sie bringen uns, in jüdische Substanz eingegangen, von jenem deutschen Seelenelement mit, das ihre Peiniger verleugnen und ersticken.“

Das klingt hoffnungslos – und müsste es doch nicht sein. Denn das Weltgespräch zwischen allen Völkern dieser Welt kann sich weder auf jüdische Substanz noch auf deutsche Seelenelemente beschränken. Wer immer sich am Gespräch der Welt beteiligen will, muss sein Besonderes ins Allgemeine erweitern, im Allgemeinen seine Besonderheit wiederfinden.

Für Gershom Scholem hat es nie eine echte deutsch-jüdische Symbiose gegeben. Die Symbiose war „niemals etwas anderes als eine Fiktion, eine Fiktion, von der Sie mir erlauben werden zu sagen, dass sie zu hoch bezahlt worden ist.“

(Gershom Scholem und Martin Buber)

 

Wie ist der momentane Stand der Dinge? Mit ihrem Pflichtgehirn haben die Deutschen Demokratie und Menschenrechte gelernt. Warum aber hat man das nie nachlassende Gefühl, sie würden nicht viel vermissen, wenn morgen das ganz Neue vor der Tür stünde und Demokratie zum alten Eisen geworfen werden würde? Demokratie wurde ihnen nach militärischen Niederlagen übergestülpt. Sie mussten diese „westlichen Werte“ nie selbst gegen Widerstände erarbeiten.

Laut Merkel stehen Deutsche und Israelis auf dem Boden gemeinsamer Werte: „Für mich steht außer Frage: Israel und Deutschland, Israel und Europa sind solche Partner. Verbunden durch gemeinsame Werte, verbunden durch gemeinsame Herausforderungen und verbunden durch gemeinsame Interessen.“

An welche gemeinsamen Werte denkt Merkel? „Diese Kraft zu vertrauen – sie hat ihren Ursprung in den Werten, die wir – Deutschland und Israel – gemeinsam teilen. Den Werten von Freiheit, Demokratie und der Achtung der Menschenwürde.“ Das klingt, als ob die alte deutsch-jüdische Symbiose wieder aus dem Grabe erstanden wäre. Doch weder im deutschen Christentum noch in der rabbinischen Thora sind Freiheit, Demokratie und die Achtung der Menschenwürde zu finden.

Diese Werte teilen sich alle Menschen rund um den Planeten, die Anhänger einer völker-übergreifenden Humanität sein wollen. Die deutsch-jüdische Beziehung muss sich zu einer weltweiten Anerkennung von Demokratie und Menschenrechten erweitern. Nur im Schutz einer planetarischen Verbindung der Völker zu einem gerechten und gleichberechtigten Friedensbund können Juden und Deutsche zueinander kommen.

Noch immer haben Deutsche und Juden mit einer gemeinsamen Vergangenheit zu tun, die von deutscher Seite mehr verleugnet als verstanden wird. Ausgerechnet ein Engländer gilt als der Nüchterne und Genaue unter den Historikern des Dritten Reiches. Während die Deutschen mit allen Tricks ihr kontaminiertes Erbe als aufgearbeitet betrachten, Hitler und eine kleine Clique noch immer als Hauptverantwortliche und das deutsche Volk als verführtes betrachten, lässt sich Ian Kershaw nicht hinters Licht führen. Für ihn war Hitler eine charismatische Figur, die fast allen Deutschen eine Stimme lieh, einem Volk, das er nicht verführen und vergewaltigen musste, um es seines Weges zu führen.

„Dass Hitler kein Tyrann war, der einem unterdrückten deutschen Volk seinen Willen aufzwang“, schrieb Kershaw. Vielmehr sei er ein Produkt der deutschen Gesellschaft gewesen „und für einen Großteil der dreißiger Jahre der wohl populärste Führer der ganzen Welt„. Dies erkläre zum Teil, warum er nicht „vergangen“ ist und warum sein Schatten immer noch auf die Gegenwart falle.“

(Bernhard Schulz in der ZEIT über Ian Kershaw)

 

Zwei Beispiele, in welchem Maß die deutsch-jüdischen Beziehungen noch immer verkrampft, unoffen und unbearbeitet sind. Das erste ist die TAZ-Beschreibung der Ausstellung „Juden, Geld“ im Jüdischen Museum Frankfurt. (Klaus Hillenbrand in der TAZ)

Es fällt auf, wie penibel der geringste moralische Schatten ausgeräumt wird, der auf den jüdischen Charakter fallen könnte. Die durch und durch bösartigen Klischees der Nazis müssen heute mit durch und durch gutartigen Klischees ausgeräumt werden. Juden müssen Engel sein, damit die Deutschen keinen Vorwand haben, sie aus „gerechten Strafgründen“ in die Hölle zu befördern. Das böse Klischee wird mit dem blütenweißen Klischee ausradiert.

Juden dürfen keine Menschen sein wie Du und Ich, mit Vorzügen und Schwächen. Die Vorzüge lobt man, die Schwächen kritisiert man. Müssen Juden noch immer Übermenschen sein? Früher waren sie teuflische Übermenschen, die die ganze Welt in den Abgrund stürzten. Heute müssen sie himmlische Überwesen sein ohne die geringsten Fehler und Mängel.

Diese historische Katharsis als Reaktionsbildung könnte den Verdacht aufkommen lassen, die heutigen Deutschen müssten sich unter äußersten Anstrengungen davon überzeugen, dass ihre Naziväter partout nicht Recht haben konnten. Muss das durch nachträgliche Reinwaschung der Opfer noch immer bewiesen werden? Hätten die Deutschen mit ihren Massakern Recht gehabt, wenn jeder Jude ein Schwerverbrecher gewesen wäre?

Das ist abenteuerlich. Menschen haben Menschen wie ihresgleichen zu behandeln, auch wenn diese nicht unfehlbar sind. Die Deutschen können ihre Verbrechen niemals mit dem Charakter ihrer Opfer rechtfertigen. Was sie taten, bleibt allein an ihnen haften. Für ihre Taten sind nur sie verantwortlich – und wenn die Juden sie auf Knien gebeten hätten, sie für immer aus dem Verkehr zu ziehen.

Es gilt ein für alle Mal Bubers Wort: „Was uns widerfährt, ist, auch wenn es uns ans Mark greift, nicht das Entscheidende; das Entscheidende ist, wie wir uns dazu verhalten – was wir daraus machen, was es aus uns macht.“ Das ist der wahre Geist des Sokrates, der Unrecht erleiden für besser hielt als Unrecht tun.

Der Kapitalismus ist von Juden nicht erfunden worden. Als einziges Volk, das den Untergang der Antike überlebt hatte, war es in der Lage, die in der hellenischen und römischen Diaspora erlernten Regeln des Geldmachens ins finstere Abendland zu bringen. Fast immer auf Einladung germanischer Fürsten, die mit Hilfe jüdischen Herrschaftswissens in Gelddingen selbst reich werden wollten.

Christen durften keine Zinsgeschäfte machen, die Juden nur mit Ungläubigen, also den Christen. Andere Berufe waren ihnen zumeist verboten – die sie vermutlich ohnehin abgelehnt hätten. Doch niemand zwang sie  wie die TAZ behauptet , Geldgeschäfte zu betreiben: „So folgt die Ausstellung zwei unterschiedlichen Spuren: einerseits der sozialgeschichtlich bedingten Tatsache, dass tatsächlich viele Juden zum Geldhandel gezwungen waren und einige dabei großen Wohlstand erreichten, andererseits aber der antisemitischen Imagination, nach der Juden dieses Geld nicht nur „unehrlich“ verdienten, sondern ihre damit verbundene Macht auch dazu nutzen würden, um ihre Umgebung zu beherrschen und auszubeuten.“

Hier werden Fragen berührt, die noch heute umstritten sind. Ist Zinsnehmen moralisch gerechtfertigt? Damals war der Zinssatz oft beträchtlich hoch, was auch damit zusammenhing, dass Fürsten ihre Kapitalgeber über Nacht enteignen und zum Teufel jagen konnten. Wer Zins generell ablehnt, für den sind Wuchergeschäfte amoralisch. Ob von Juden, Christen, Hindus oder Konfuzianern.

Später nahmen auch christliche Banker zuerst in Venedig und Norditalien Zinsen, um ihr Kapital mit Gewinn auszuleihen. Wer Christen ob dieses Mammonismus für unmoralisch hält, kann Juden für dieselben Taten nicht für unschuldig erklären. Es muss möglich sein, den Kapitalismus für eine unmenschliche Erfindung zu halten, auch wenn Juden unter dieses Urteil fallen.

Es käme einem Denkverbot gleich, heute von einem sekundären Antisemitismus zu sprechen, wenn antikapitalistische Kritik geäußert wird. Um philosemitisch untadelig zu sein, müsste man demnach alle neoliberalen Machenschaften für legitim halten. Allerdings wäre es aus psychologischen Gründen durchaus möglich, bei deutschen Kapitalismuskritikern unbearbeitete antisemitische Reste zu vermuten.

Spätestens mit der Erfindung des englischen Frühkapitalismus haben sich die Regeln des Wohlstands und Profits unter den europäischen Nationen verbreitet und sind in Amerika zum Neoliberalismus aufgebläht worden. Wer in Wallstreet vor allem Juden am Werk sähe, würde ihnen eine absurde Allmacht zuschreiben und den Rest der Welt von aller Schuld befreien. Juden mögen sein, wie sie wollen sie sind nicht besser und schlechter als der Rest der Welt.

(In Berlin gab es eine Plakataktion mit dem Slogan: Juden sind das auserwählte Volk. Wenn das mehr sein sollte als eine Provokation, die sich die auserwählten Deutschen redlich verdient haben, müsste man zurückfragen: was bitte sind andere Völker und welche Folgerungen im israelisch-palästinensischen Konflikt sollen daraus gezogen werden?)

Die krampfhaften Idealisierungen des jüdischen Volkes verraten durch ihren reaktiven Charakter noch immer das gestörte Verhältnis zwischen Juden und Deutschen. Wir sind noch weit davon entfernt, uns freudig anzuerkennen und angemessen zu kritisieren. Alles muss höllenschwarz sein oder himmelweiß: ein Drittes gibt es nicht. Ein demokratisches Miteinander auf gleicher Augenhöhe findet woanders statt.

Das zweite Beispiel das wir heute nur andeuten können, eine genauere Analyse des Wagner-Hitler-Syndroms folgt später ist in Matthias Küntzels WELT-Artikel zu lesen: „Wagner war Avantgarde  als Musiker und Antisemit“.

Dem Autor ist unbedingt beizupflichten, dass die deutsche Ästhetenelite alles unternimmt, um Wagner vom Vorwurf des Antisemitismus reinzuwaschen. Wer nur einen kleinen Blick in Joachim Köhlers Buch: „Wagners Hitler. Der Prophet und sein Vollstrecker“ wirft, wird aus dem Staunen nicht herauskommen. Ohne Wagners christlichen Vernichtungskampf vorgeführt in germanischen Kostümen gegen die mammonistische Höllenbrut der Juden ist Hitlers Gesamtpolitik nicht zu verstehen.

Hitler kannte das Werk Wagners fast auswendig. Rienzi war seine frühste Identifikationsoper. Den Ring des Nibelungen kann man als Drehbuch der NS-Vernichtungsorgie betrachten.

Heute pilgern die deutschen Eliten wieder nach Bayreuth, als ob sie mit dem Seziermesser die berauschende Musik von dem tödlichen Text ablösen und als unschuldige Beilage genießen könnten. Dass die Musik dazu da ist, den antisemitischen Text betörten Zuschauern unbemerkt ins Herz zu senken, erscheint den musikalischen Puristen wie Blasphemie. Gegen solche Versuchungen fühlen sich die Bewunderer der unendlich forcierten Blechakkorde gefeit.

Das ist die reinste Selbsttäuschung. Den Versuchungen können die Wagnergläubigen gar nicht entgehen, denn ihr steriler Ästhetizismus ist außerstande, diese wahrzunehmen, geschweige kritisch zu relativieren.

Es sind nicht die singulären Schreihälse, die für eine Wiederkehr des Unbearbeiteten gefährlich werden. Es sind die feinsinnigen Intellektuellen aus den oberen Gesellschaftsetagen, die in unschuldiger und überlegener Miene dem Verhängnis die Tore öffnen.