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Die ERDE und wir. X

Tagesmail vom 06.09.2024

Die ERDE und wir. X,

Der Münchner OB Reiter benutzte das Wort „umdenken“, als er den missglückten Angriff eines Österreichers (!) auf das israelische Konsulat in München vor den Kameras kommentierte.

Hinter ihm standen drei Herren, unter ihnen der bayrische Ministerpräsident Söder – der keine Miene bewegte.

Wurde er denn von den Medien nicht aufgefordert, seine Meinung zu Reiters Wort „umdenken“ zu sagen? Was, bitte, lief bisher schief bei den bisherigen Maßnahmen der deutschen Politik gegen die Gewalttaten auf der Straße – besonders gegen Juden oder Israelis?

Normaler Medienalltag in Deutschland? Es werden Sätze und Begriffe gesprochen, die nicht erklärt werden und in der Luft verhallen?

Wollte Reiter Söder kritisieren oder benutzte er rein zufällig einen Begriff, der ihm gerade einfiel, der aber weiter nichts zu bedeuten hatte?

Was wollte der Reporter der Öffentlichkeit mitteilen? Hat die bayrische Regierung versagt, hätte sie konsequenter handeln müssen? War sie denn auf der richtigen Spur?

Husch, in einem Nu alles vorbei. Was soll nun der Zuschauer denken?

Sind wir auf dem richtigen Weg der Terroristenbekämpfung? War das nur eine kleine Unachtsamkeit der Münchener Polizei, die doch an diesem Termin besonders hätte aufmerksam sein müssen?

Wenn ein Mensch sich mit einem Riesengewehr dem israelischen Konsulat nähert – hätten da nicht alle Warnlampen anspringen müssen? Warum konnte der Bewaffnete nicht frühzeitig festgenommen werden, warum musste er – um Schlimmeres zu vermeiden – gleich erschossen werden?

Das Gehirn vollgestopft, in Verwirrung gebracht – und weiter geht die Weltgeschichte.

Über Deutschlands Israelpolitik wird ohnehin kaum debattiert. Ganz oben, fast am Himmel, hat eine Pastorentochter das Schwert Gottes – zu richten alle Völker, die sich am Heiligen Volk vergreifen wollen – für alle Zeiten befestigt: Deutschland, Täterland, wird sich einer bedingungslosen Loyalität dem Land der Opfer unterwerfen.

Haben denn die Medien ihre Lektion gelernt und der Öffentlichkeit weitergegeben?

Geschieht denn jetzt das Unvorstellbare – das sich sehr wohl jeder vorstellen kann – und die Untaten der Nazis werden sich in irgendeiner Weise wiederholen?

Das ist die plötzliche Angst von Richard C. Schneider, der von den Geistern seiner deutsch-jüdischen Vergangenheit überfallen wurde:

„Seit den Landtagswahlen vom vergangenen Wochenende in Thüringen und Sachsen aber ist alles anders. Und heute mussten wir auch noch den islamistischen Angriff auf Polizisten rund um das israelische Konsulat und NS-Dokumentationszentrum in München verarbeiten. Was mich aber diese Woche am meisten wunderte, war die Überraschung und der Schock meiner nichtjüdischen Freunde über die Nachrichten und die Wahlergebnisse, die mich anriefen oder auf WhatsApp entsetzte Einzeiler mit entsprechenden Emojis schickten. Sie hatten es nicht glauben wollen. Bis zuletzt schienen sie, trotz der Wahlumfragen und wider besseres Wissen, nicht wahrhaben zu wollen, was sich in Deutschland schon länger zusammenbraut. Ich fühlte mich auf einmal sehr einsam, obwohl diese Freunde ja ähnlich fühlen wie ich. Und doch waren sie überrascht und geschockt, wohingegen für mich das Wahlergebnis nur eine Bestätigung dessen war, was ich längst wusste.“ (SPIEGEL.de)

Was war geschehen? Warum misstraute Schneider plötzlich seinen deutschen Freunden, von denen er bislang annahm, sie dächten nicht anders als er?

„Die Zeichen an der Wand waren doch schon lange, sehr lange zu sehen. Konnten meine nichtjüdischen Freunde sie nicht auch erkennen? Wollten sie nicht? Oder sahen sie die Zeichen genau wie ich und glaubten, anders als ich, es werde schon nicht so schlimm werden? Wahrscheinlich ging es vielen Deutschen in den Dreißigerjahren ähnlich. Doch wir sind im Jahr 2024, dieses Mal kennen wir alle schon die Geschichte. Und wir sehen doch den Entwicklungen in anderen Ländern schon seit Jahren zu. Le Pen, Meloni, Kickl und wie sie alle heißen, wir wissen doch, wohin Europa gerade driftet.“

Waren das so eindeutige Zeichen an der Wand – oder war Schneider besonders empfindsam durch die Opfergeschichten seiner Verwandten und Stammesgenossen?

„Wirklich, also so wirklich wirklich? Es mag geradezu eine Ironie des Schicksals sein, dass die sogenannten etablierten Parteien angesichts des explodierenden Antisemitismus seit dem 7. Oktober, dem Tag des Hamas-Massakers in Israel, über eine Resolution zum Schutze jüdischen Lebens in Deutschland streiten. Im Grunde ist diese Resolution ein Witz. Egal, ob man sie gut oder schlecht findet, es gibt ja für beides eine Menge Argumente, die derzeit öffentlich und vor allem aggressiv debattiert werden. Doch jeder normal denkende Mensch weiß, dass eine solche Resolution jüdisches Leben in Deutschland natürlich nicht schützen kann. Und im Grunde gibt es ja längst eine solche »Resolution«, den Paragraphen 1 des Grundgesetzes. Der sollte doch eigentlich ausreichen.“

Kleiner Einwand: war das wirklich ein Akt des „explodierenden Antisemitismus“– oder ein Racheakt gegen die israelische Nation, wie UN-General Guterres es von Anfang an angedeutet hatte:

„Guterres hatte bei der Sitzung des UN-Sicherheitsrates erneut den Hamas-Angriff auf Israel scharf verurteilt. Er sagte aber auch, die Angriffe der radikalislamischen Palästinenserorganisation seien „nicht in einem Vakuum erfolgt“. Die Palästinenser würden seit 56 Jahren unter „erstickender Besatzung“ leiden.“ (STERN.de)

Wenn es stimmt, dass die Palästinenser unter erstickender Besatzung litten, war der Hamas-Angriff nicht unerwartet, ja, er lag immer in der Luft. Lässt sich ernsthaft dementieren, dass die Israelis sich als rechtlose Besetzer des palästinensischen Landes betätigt hatten, und – wenn man ihren Ultras glauben will – dass sie das gesamte frühere biblische Gebiet noch erobern wollen?

Wer Bücher kritischer Juden liest, weiß, dass diese Vorwürfe stimmen.

Diese Argumente wurden eine kurze Zeit debattiert, dann waren sie plötzlich verschwunden. Schneider ist heute felsenfest von seinem Vorwurf des Antisemitismus überzeugt.

Seine Ängste, dass sich die Untaten der Deutschen wiederholen würden, die er bis jetzt beiseiteschieben konnte, überkamen ihn jetzt.

Nein, er weiß es natürlich nicht genau, aber so könnte es kommen:

„Ein weiser jüdischer Freund, der in Berlin lebt, sagte mir vor Kurzem, wann genau dieser Zeitpunkt gekommen ist, da »wir« gehen müssen. In fünf Jahren, so lautete seine Prognose. In einem Jahr seien die Bundestagswahlen, da würden die Rechtspopulisten wohl ordentlich hinzugewinnen, aber noch nicht regieren können. Und dann, so mein Freund, würden die etablierten Parteien in komplizierte Koalitionen einsteigen müssen, das Land würde zunehmend unregierbar werden. Und bei den nächsten Bundestagswahlen, also 2029, sei es dann so weit. Fünf Jahre. Das klang wie ein Axiom, unausweichlich. Es könnte auch anders kommen. Es könnte. Wenn dieses Land, wie es das immer wieder seit 1949 behauptet, tatsächlich aus seiner Geschichte gelernt hat. Mal sehen.“

Ein weiser Freund steht auch unter Ängsten. Was die Geschichte bringt, nicht nur in wirtschaftlichen Dingen, weiß er genau so wenig wie unweise Freunde. Richtig ist: es könnte auch anders kommen. Niemand weiß es, denn die Geschichte ist keine Heilsgeschichte, die von Gottes Geboten bestimmt wird.

Dass sich Unheilstaten wiederholen, wenn sie nicht bearbeitet werden, ist die psychologische Erkenntnis Sigmund Freuds, von der wir ausgehen. Diese Erkenntnis ist uralt, aber tiefenpsychologisch wurde sie erst von Freud in Begriffe gefasst.

Was ist der Unterschied zwischen Antisemitismus und Hass gegen das heutige Israel? Antisemitismus ist ein uralter Akt der gegenseitigen Verfemung in einer Religion, in der sich die Juden als Lieblingsvolk Gottes darstellen. Doch es geht nicht nur um die religiöse Einzigartigkeit eines Volkes, sondern um viele historische Zusatzelemente, die andere Völker kaum ertrugen – wie z.B. die überragende Intelligenz und die Erfolgstüchtigkeit nicht nur in wirtschaftlichen Dingen.

Hass gegen Israel hingegen ist ein Element der Gegenwart. Nachdem die anfänglich humane Haltung des Staates Israel verschwand und einer typisch bigott-westlichen Gewaltpolitik wich, gingen die Herren des jungen Staates immer mehr dazu über, die politisch schwachen Palästinenser zu entmachten und peu a peu dem Staat Israel einzuverleiben.

Da die Ultrafrommen, die anfänglich keine Bedeutung hatten, immer mehr die psychische Hoheit über das Land gewonnen hatten, wurde aus Israel ein religiöser Staat, der keine Toleranz gegen Andersdenkende mehr aufbrachte.

„Wir sind Söhne des Lichts, die anderen Söhne der Finsternis“, das ist das Credo Netanjahus, das er unerbittlich in völkerrechtswidrige Politik übersetzt.

Der Hass vieler Westler gegen Israel begann zu eskalieren, als – in Reaktion gegen den schrecklichen Hamas-Terror – die Israelis die „gerecht sein wollende“ Haltung der Völker nicht ertrugen und ab diesem Zeitpunkt zu erkennen glaubten, dass es tatsächlich einen globalen Antisemitismus geben muss.

Hass gegen Israel wurde mit dem jahrtausendealten Antisemitismus vermischt. Kaum jemand machte sich die Mühe, diese beiden Elemente säuberlich auseinanderzuhalten.

Israel wird von der Welt als überheblich und arrogant empfunden. Die Israelis hinwiederum fühlen sich von der Welt verkannt, wenn sie sich ihrem Leid des Gaza-Angriffs hingeben und das Mitleid der Welt vermissen. Beispiel:

„Man erlebt dieses Massaker und die Welt sagt: Es ist eure Schuld.“ (SPIEGEL.de)

Einwand: dieses Ereignis fiel nicht vom Himmel und war auch von Israel verursacht worden.

Moshe Zimmermann gehört zu den wenigen selbstkritischen Israelis, die die Reaktion der anderen Völker verstehen wollen. Er sieht viel Empathie der Welt mit den Palästinensern. Doch dieser Empathie misstraut er:

„Ich sehe eine Bekundung von Empathie. Ich bin mir nicht sicher, ob der wahre Beweggrund die Empathie für die Palästinenser ist oder der Wunsch, Israel einen Seitenhieb zu verpassen – und zwar der Gesellschaft, nicht der Regierung. Die Empathie könnte eine Art vorgetäuschte Taktik der Kritik an Israel sein.“ (TAZ.de)

In vieler Hinsicht mag Zimmermann Recht haben und die angebliche Empathie mit den „Opfern“ als versteckten Hass gegen die Israelis deuten.

Gleichwohl ist die Grundlage seiner Kritik psychotherapeutisch einseitig und falsch:

„Der Tenor der Diskussion ist nicht nach meinem Geschmack. Man muss kausal denken und zwischen Ursache und Folge unterscheiden.“

Die Kausalität des psychischen Geschehens ist kein Geschenk der Natur, sondern beruht auf der mühsamen eigenen Erkenntnisart der Menschen. Man muss seine Vergangenheit erkundet und verstanden haben. Und da gibt es die verwirrtesten Knäuel, die sich, unter dem Einfluss endloser Erziehungsmethoden, gebildet haben.

Eine kausale Linie lässt sich erst dann erkennen, wenn die akausalen irrationalen Einschläge der national verschiedenen Psychen aus dem Weg geräumt sind.

Fazit: alle westlichen Christenvölker sind schuld am israelisch-palästinensischen Krieg und am herrschenden Antisemitismus, der sich mit jenem nach Belieben vermischt.

Der Westen muss sein ganzes religiöses Fundament von Anfang an bis heute mit dem eisernen Besen der Aufklärung durchkämmen. Erst dann wird es die Chance geben, sich als gleichberechtigte Menschen und Völker anzuerkennen. Das christliche Europa darf das jüdische Volk auf keinen Fall in Hass verloren geben.

Solidarisch werden, heißt, sich verstehen lernen. Verstehen ist erkennen, was geschah und noch immer geschieht. Doch nach dem Verstehen kommt die eigene kritische Wertung.

Wer seine Freunde nicht kritisch versteht und sie vor inhumanen Taten warnen kann, ist nicht freundschaftsfähig.

Juden und Christen: beginnen wir, uns zu verstehen und kritisch zu begleiten. Erst dann können wir echte Freunde werden und mit gemeinsamer Empathie die ERDE und uns selbst retten.

Fortsetzung folgt.