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Welt retten! Aber subito! XCI

Tagesmail vom 23.06.2023

Welt retten! Aber subito! XCI,

Blitzlichter.

„Wir werden das Weltall besiedeln. Ein neues Zeitalter wird beginnen. Auf Mond und Mars werden wir unter kontrollierten Bedingungen beobachten, wie Gesellschaft entsteht.“ (Astronaut)

„Richard Branson, Jeff Bezos und Elon Musk träumen entweder von Weltraumhotels im All oder gar von Marssiedlungen. Die neuen Weltraumgurus wollen nicht weniger als eine Zivilisationswende. Die Begeisterung kennt keine Grenzen. Endlich gibt es wieder authentische Vorbilder. Millionen junger Menschen begeistern sich für eine Zukunft im All. In diesem Sinne lässt sich die Menschheit als Gemeinschaft von Sinnsuchenden verstehen, die sich auf einer ständigen Pilgerfahrt zur Vollkommenheit befindet. Wie wäre es eigentlich, in einer idealen Welt zu leben? Einer ohne verwirrende Komplexität, dafür mit klaren Regeln, die das allgegenwärtige Durcheinander bändigen? Der Schritt vom Vertrauten ins Unbekannte ist der Treibstoff aller Utopien. Die Entwicklungsmöglichkeiten sind dabei so grenzenlos wie das Universum selbst – behauptet die NASA. It`s not enough.“

„Entweder wir verlassen die Erde oder wir verschwinden.“ (Michio Kaku)

Die Miesmacher sind nicht auszurotten.

„Für den Wissenschaftler James Lovelock ist die Vorstellung eines Ersatzplaneten hingegen eine perverse Vorstellung, solange die Menschheit den wirklichen Zustand der Erde ignoriert.“

Wer an die ganz große Vision nicht glauben kann, glaubt an die kleine exquisite:

„Gegenwärtig entstehen Bunkerstädte als Rückzugsorte für die post-apokalyptische Gemeinschaft der Superreichen. Libertäre Vordenker wie Peter Thiel planen in in Form von „Seastads“ schwimmende Mikronationen in internationalen Gewässern. Die Magie des Wunschlands besteht darin, immer wieder an den eignen Ansprüchen zu scheitern und dennoch weiterzumachen. Warum wollen Menschen stets das Beste, erschaffen dann aber Chaos und Leid? Utopisten sehen auch in der lebensfeindlichen Umwelt auf dem roten Planeten die einzigartige Chance, Gesellschaft neu zu erfinden. Der Schritt vom Vertrauten ins Unbekannte ist der Treibstoff aller Utopien.“ (Alle Zitate aus Stefan Selke, Wunschland, Von irdischen Utopien zu Weltraumkolonien – eine Reise in die Zukunft unserer Gesellschaft)

Ein Chaos voller Widersprüche, die einzige fruchtbare Quelle eines Neuen, welches das Alte hinter sich lässt.

Das Sperma aller Genies dieser Welt wird vermengt. Daraus entstehen die tollkühnen Widersprüche der neuen Welt, die das Alte verrotten lassen, um das Nochniedagewesene auszubrüten.

Die Superreichen gieren nach neuen Aufgaben. Das Beste dieser Welt haben sie im Überfluss. Nun heißt es, ihre Goldberge politisch zu verwerten. Unendliche Gelder müssen zu Materie werden – die die Erde so verändern, dass kein Mensch sie morgen wiedererkennen kann.

„Durch die Hinwendung zum Neoliberalismus wurde in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr virtuelles Kapital angehäuft, dem rein gar nichts mehr entspricht. Diese Form des Kapitals ist reines Machtmittel.“

Halt. Aus politischen Machtprojekten besteht das Zukünftige eigentlich nicht, sondern aus Projekten, die alles Politische ausschalten.

„»Man erbettelt nichts vom Staat«, so David Graeber, der den Begriff populär machte. Vielmehr handelt man, »als existiere der Staat gar nicht«. Anarchisten, die sich direkten Aktionen verschreiben, nehmen so das eigene Leben in die Hand und wirken direkt auf ihre Umwelt ein.“

Da schaut: echte Aktivisten kleben sich nicht an die dürftige Realität, um sie zu verändern, sie verändern die Realität selbst und erschaffen eine nagelneue.

Der Traum der Neoliberalen hat sich erfüllt. Der Staat ist verschwunden, er wurde am Boden zerstört, er war nur noch ein lästiges Hindernis für die wahren Projekte des himmelhochjauchzenden Menschen.

„Gerade deshalb ist die Weltraumexploration kein rein technologisches Unterfangen, sondern ein fortwährender Dialog mit der Menschheit.“

Wahrhaftig, die gänzlich neue Form eines Dialogs, in welchem beide schweigen und nur noch Taten und Dinge reden lassen.

„Weltraumflüge sind eine moderne Metapher für den Weg zu einem höheren Bewusstsein, also zu einer ganzheitlichen Wahrnehmung, die physische, mentale und spirituelle Aspekte unserer Existenz integriert.“

Womit der Traum der Technik erfüllt wäre, sich selbst zu überholen und mehr zu sein als schnöde Technik. KI wäre keine geistlose Maschine mehr, sondern ein menschen-ebenbürtiges, ja, den Menschen überrundendes Wesen.

Jetzt schon kann KI mehr Wissen umfassen als alle Gehirne der Menschen zusammen. Bald wird sie dem zusammengewürfelten Wissen kreatives Bewusstsein einhauchen und die Geschäfte des Planeten übernehmen.

Der Mensch beweist seine Gottheit, indem er das unvollkommene Geschöpf der ersten Schöpfungstage, das er einst war, überrundet. Das gilt nicht für alle:

„Jenseits aller Kennzahlen erfahren immer mehr Menschen das eigene Leben als sinnentleert, weil sie bemerken, dass sie nur noch an den Kreuzungspunkten von Märkten existieren. Einzig und allein die globale Elite prahlt damit, sich im Falle eines Falles auf künstliche Inseln, in geheime Bunker oder dick verglaste Unterwasserstädte zurückzuziehen. Die Konfektionsgröße des Planeten passt nicht länger zum Größenwahn der Menschheit.“

Dieses Monster nennt Selke das „Monster der Bodenlosigkeit“, dessen Drohgebärden soziale Desintegration, ökonomische Konkurrenz und ökologische Zerstörung sind.

Wäre die Ausdehnung der Menschheit ins All ein Zeichen des Friedens? Der Autor glaubt das nicht. „Die aktive militärische Nutzung des Alls wäre schlussendlich ein Armutszeugnis, denn Militarisierung und Entzivilisierung sind das Gegenteil eines utopischen Aufbruchs.“

Die Superreichen haben kein Interesse an einem friedlichen Planeten. Haben sie doch hinterlistige Methoden, um sich dem Weltuntergang des Pöbels zu entziehen:

„Prophylaxen gegen den Weltuntergang gibt es genug – von Bunkeranlagen über schwimmende Städte bis hin zum Plan, Siedlungen auf dem Mars zu bauen. Wer sich vorstellt, die Erde zu verlassen, wird nur noch wenig Interesse daran haben, unseren Planeten wieder zu einem lebenswerten Ort zu machen. Die Superreichen fühlen sich in Bedrängnis. Nicht erst seit der Bankenkrise 2008 leiden sie am schwelenden Sozialneid der Massen. Der eigentliche Skandal besteht jedoch in der nahezu kompletten kulturellen Entkopplung der Eliten im globalen Maßstab. Das reichste eine Prozent der Menschheit führt das bestmögliche Leben und ist gleichzeitig nicht zur Einsicht fähig, „dass ihr Schicksal untrennbar an das der übrigen 99 Prozent geknüpft ist“, kritisiert der Nobelpreisträger Joseph Stieglitz. Neben Peter Thiel kauften sich weitere Milliardäre aus dem Silicon Valley Immobilien in Neuseeland, um sich dort auf einen „kuscheligen Weltuntergang“ vorzubereiten. Sie sprechen von einer „Vollkaskoversicherung gegen die Apokalypse“.

Hätten die Armen und Überflüssigen nicht das Recht, die Superreichen zu bekämpfen – damit diese endlich ihre maßlose Naturverwüstung zur Kenntnis nehmen? Nein, die Armen sind nicht nur Faulenzer, sondern auch die endlos Neidischen:

„Euer Hass auf Reiche ist so arm!“ (BILD.de)

Seit Erfindung des Kapitalismus definierten sich die Reichen nicht nur als Sieger im wirtschaftlichen Wettbewerb, sondern auch als moralisch Überlegene, die es verstanden, ihren Egoismus als wohlstandsbringendes Motiv für die ganze Gesellschaft, ja für die ganze Welt einzusetzen.

Ein genialer Coup, dem die doofen Ausgebeuteten nichts entgegenzusetzen hatten. Ganz nebenbei werden die Reichen zu Erlöserfiguren der Menschheit:

„Auch Musk sieht sich in der exklusiven Rolle, auf großer Bühne zur Rettung der Menschheit beizutragen. So setzen einige der Superreichen auf gigantische Luxusschiffe, um die Apokalypse zu überleben.“

Ein anderes Beispiel dafür, wie man durch Zerstörung glaubt, etwas erlösen zu können.

Indem die Superreichen aus ihren Gesellschaften verschwinden, unternehmen sie alles, um sie zerstört hinter sich zu lassen. Wahrlich, sie sind keine Wohltäter, gerieren sich aber als solche.

Wer sind nun die Hauptschuldigen am Untergang der gegenwärtigen Wohlstandsgesellschaften?

Geht man den Klagen nach, sind es nicht nur die üblich verdächtigen Sozialparasiten, sondern die kapitalismus-verteidigenden fetten und doofen Kinder, die in den Kasernen zum Drill der Arbeitsabhängigen auf der Strecke bleiben:

„Fast jedes sechste Vorschulkind zeigt sprachliche Defizite bei Tests. Laut einer Studie ist zudem rund ein Zehntel der Kinder übergewichtig. Viele von ihnen verbringen demnach viel Zeit vor dem Bildschirm.“ (SPIEGEL.de)

Sollte man nicht besser von Arbeitssklaven sprechen? Jaja, äußerlich haben sie demokratische Rechte, in Wirklichkeit unterlässt der Staat nichts, um die Kinder – schon ab Kitazeit – zu funktionierenden Rädchen der Gesellschaft zu dressieren. Ausgerechnet der freiheitsliebende Neoliberalismus denkt nicht daran, den Kindern selbst zu überlassen, was und wie sie lernen wollen.

Bildung ist Selbst- und Welterforschung. Ich erkenne die Welt, indem ich im vitalen Kreis freier Menschen zum Selbstdenken angeregt werde. In einer von Konkurrenzängsten getriebenen, genötigten Gesellschaft kann kein Kind zu sich kommen, um sich die Frage zu beantworten: ist die heutige Welt genau jene Welt, in der ich ein ganzes Leben lang leben will?

Tests, Tests und Tests vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang sorgen für das angstbesetzte Gesamtklima, um die jungen Menschen zum Wohl der Monopolgiganten abzurichten.

Zum Hohn wird das Ergebnis der ganzen Prozedur Bildung genannt: scheinbare Gleichheit durch scheinbar gleiche Bildungschancen. Merke: der Kapitalismus kennt nicht die geringsten Skrupel, um seine Inhumanitäten als Moral zu verkaufen.

Noch verheerender wird der Eindruck, wenn wir uns den vielen psychisch Kranken zuwenden, deren Therapeuten – von den Freudianern bis zu den Verhaltenstherapeuten – sich unwissend stellen dürfen, welche Faktoren normale Menschen in Neurosen und Psychosen treiben, ohne dass die wahren Schuldigen genannt werden dürfen. Schuldig an seiner Psychoverfassung ist jeder Mensch selbst.

„Die erschöpften Menschen, die zu mir kamen, fanden einfach keine Antwort mehr auf die gewaltige Liste der Aufgaben, die sie täglich absolvieren sollen. Sie wussten nicht mehr, wie sie all die Erwartungen erfüllen sollen, die sie ja teilweise auch selbst an sich stellen. Alles sollte immer besser, schneller und größer sein. Manche kämpften sich schon lange Zeit, manchmal Jahre, durch ihren Alltag. Bis sie an den Punkt kamen, an dem sie nicht mehr konnten. Erschöpfung ist ein schlimmer mentaler Zustand, bei dem natürlich auch Angst entsteht. Die Erschöpfung begleitet uns schon seit der Industrialisierung. Thomas Mann im Zauberberg von den »Bleigewichten der Mühsal«, die auf Hans Castorp lasten. Ich finde den Begriff toll, denn er beschreibt genau, wie die Neuerungen in der Arbeitswelt auf der Seele lasten. Wir sind mit einer neuen Arbeitskultur konfrontiert. Und zusätzlich zu der Frage, was der einzelne Mensch leisten kann oder will, sind wir ja alle auch von den globalen Krisen berührt, der Klimakrise, dem russischen Krieg gegen die Ukraine, Ich kann ihnen Trost geben und vielleicht Stärke, doch dann muss ich sie wieder in das System zurückschicken, das sie kaputt gemacht hat.“ (SPIEGEL.de)

Ein unfasslicher Satz:

„Ich kann ihnen Trost geben und vielleicht Stärke, doch dann muss ich sie wieder in das System zurückschicken, das sie kaputt gemacht hat.“

Jeder Mensch muss selbst Schuld tragen an seinem Elend. Mächte, die Gewalt haben über den Einzelnen, gibt es keine, darf es keine geben. Der fast omnipotente Kapitalismus hat nicht nur die Körper seiner Abhängigen im Griff, sondern auch deren Seelen.

Vor allem: niemand darf es wissen und klar ansprechen, niemand darf Täter und Opfer auseinanderhalten. Wie Frauen immer höchstpersönlich schuldig sein müssen, wenn sie von Männern belästigt oder drangsaliert werden, so ist es bei allen seelisch Kranken.

Es ist wie im Christentum. Jeder Bösewicht muss seine Schuld, seine alleinige übergroße Schuld bekennen. Dass das Böse das Teuflische ist, was Gott ihm von Geburt an persönlich eingepflanzt hat, darf niemand laut sagen. Wenn Gott dem Sünder vergibt, vergibt er sich selbst.

Die deutsche Gesellschaft ist eine Niedergangsgesellschaft. Solange sie die tiefsten Ursachen ihre psychischen Defekte nicht zur Kenntnis nimmt, wird sie weiterhin in den Abgrund rutschen.

Fortsetzung folgt.