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Tagesmail

Donnerstag, 31. Mai 2012 – Shitstorm

Hello, Freunde Bob Dylans,

des weltberühmten Sängers, der mit dem Song Masters of War“ einst die pazifistische Hymne der rebellischen Weltjugend schrieb. Nun wurde er mit der höchsten Auszeichnung Amerikas geehrt.

Von einem Präsidenten, der einen sinnlosen Krieg am Hindukusch für richtig hält, einen brandgefährlichen Präventionsschlag Israels gegen den Iran bedingungslos unterstützen würde, ein Foltergefängnis namens Guantanamo nicht schließen lässt und die Terroristen in Jemen und Pakistan persönlich aussucht, die ohne Anklage und Gerichtsurteil mit ferngelenkten Drohnen hingerichtet werden.

Wer Obama verteidigen will, könnte auf das Prinzip Staatsraison verweisen. Was für einen Privatmann ein Verbrechen, muss für einen Staatsmann allzu oft Staatsraison sein. Raison ist Vernunft. In Verbindung mit Staat klingt diese Vernunft vor allem nach Gewalt. Gewalt ist nicht immer vermeidbar, wenn man auf eigenes Überleben und selbstbestimmtes Leben Wert legt.

Es kann der beste Mensch nicht in Frieden leben, wenn’s dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Der Satz ist umkehrbar: es kann der beste Nachbar nicht in Frieden leben, wenn es mir Bösewicht nicht gefällt.

Nicht selten sind böse Nachbarn Produkt meines böswilligen Blickes, meiner böswilligen Einschätzung – und vice versa. Ich kann mich

derart abfällig und feindselig verhalten, dass mein Nachbar genau so wird, wie ich ihn brauche, damit ich ihm die Ohren abschneiden kann.

Wir Deutsche waren einmal Weltmeister in der Kunst des Feindegewinnens. Viel Feind, viel Ehr. Spätestens nach Kaiser Willem wurde die Welt für uns zu einem einzigen hasserfüllten Leviathan, der unsere brillanten Fähigkeiten beneidete, unserer neuen Stärke misstraute und unsere Weltheilandmission nicht anerkennen wollte.

Wir waren die Auserwählten. Der minderwertige Rest der Völker wollte das partout nicht einsehen, also mussten wir‘s ihnen beibringen.

Welchen Blick hat Obama auf die Welt? Bräuchte er nur Zeit, um die unselige Last seiner Vorgänger abzuwickeln, schlüge aber im übrigen einen präventiven Friedenskurs ein – alles wäre okay.

In Afghanistan zieht er ab. Den Iran lässt er bisher ins Messer laufen – um einen Vorwand für den Erstschlag zu provozieren? Über Guantanamo wird nicht mehr gesprochen. Dort sitzen Menschen ohne Anklage und Gerichtsurteil, wenn’s sein muss bis an ihr unselig Ende.

Die Drohnenopfer, die er nach Unterlagen seiner Geheimdienste aussucht, sind Lynchopfer auf Zuruf. Getötet von Drohnenspezialisten, die 1000e Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Weltkugel in Tiefbunkern sitzen und Killerspiele auf ihren Computern spielen. Allerdings in Realität.

Von diesem Mann namens Obama lässt sich ein anderer namens Bob Dylan ehren, der in seiner Hymne gegen den Krieg die Meister des Krieges anklagte: „Ihr, die ihr niemals etwas anderes getan, Als zu bauen um zu zerstören, Ihr spielt mit meiner Welt, Als wäre sie euer kleines Spielzeug. Ihr, die ihr euch hinter Mauern versteckt, Ihr, die ihr euch hinter Schreibtischen versteckt …“.

Der Krieg ist für Obamas Killer zum Playgame geworden. Dass sie reale Menschen durchsieben, dass die virtuelle Welt die wahre Welt ist, muss die Spieler nicht kümmern. Sie handeln auf Befehl.

Wenn sie nach Hause kommen und ihre Kinder fragen: Papa, was hast du heute getan, hast du das Vaterland wieder vor bösen Feinden gerettet?, können sie sagen: Ich habe ein bisschen Wargames auf dem Computer gespielt. That’s all.

Von dem Philosophen Günter Anders (dem ersten Mann Hannah Arendts) stammt die Devise, dass er sich nur von Menschen ehren ließe, die er selber ehren könnte.

Bevor wir Dylan in den pazifistischen Himmel heben, müssen wir ihn unter die Lupe nehmen. Welcher Philosophie entstammt sein Friedenswille? Welcher Religion? Es gibt viel Friedensgewäsch in der Welt, jugendliche Anwandlungen von Weltumarmungen, die übermorgen vergessen sind.

„Wie Judas aus alter Zeit, Lügt und täuscht ihr Auch Jesus würde niemals vergeben, was ihr tut“.

Jesus ist Vertreter einer Religion, die das Böse vernichtet, welches er zuvor geschaffen und der Welt auferlegt hat. Er würde den Kriegsmeistern sehr wohl vergeben, wenn sie in seinem Namen das Böse ausrotteten.

Ob Judas getäuscht hat, ist zwingend nicht nachweisbar. Sollte er es getan haben, tat er es als Marionette eines Gottes, der ihn benutzte, um die festgelegte Heilsgeschichte mit seiner unfreiwilligen Hilfe zu exekutieren.

Wie es Jesus erst allmählich dämmerte, dass er zum Heiland der Welt auserkoren war, so könnte es bei Judas auch gewesen sein, dem erst allmählich klar wurde, was er zu tun hatte, um Schaden von seinem Volk zu wenden. War der Verrat eines gotteslästerlichen Propheten kein Dienst an seinem Volk, das sich berechtigt fühlte, Verstöße gegen das Gesetz zu ahnden?

Nicht Jesus war Opfer Gottes, sondern Judas, denn Jesus wurde zum Richter des Universums erhöht, Judas aber in die Hölle gestürzt, obgleich er nur tat, wofür Gott ihn ausersehen hatte. Er war der Gehorsamsten einer, für seinen Gehorsam gilt er noch heute als der Verruchteste aller.

Die meisten Kriege des Abendlandes und des Neuen Kontinents geschahen im Namen des Gottes, auf den Dylan sich als Friedensgott beruft. In dessen Namen wurden die Indianer als nichtexistent oder lästig betrachtet, die man mit dem Segen des Herrn ausradieren konnte.

Jesu Frieden am Ende der Geschichte ist ein Siegfriede über die Majorität böser und verworfener Menschen, die nun dran glauben müssen, weil sie nicht freiwillig dran geglaubt haben, obgleich – nach dem amerikanischen Calvin – es gar keine Freiwilligkeit in Glaubensfragen gibt. „Also erbarmt er sich, wessen er will, verhärtet aber, wen er will.“

Es geht völlig in Ordnung, dass Dylan sich von Obama ehren lässt. Der Segen des gleichen Friedensgottes ruht auf ihnen.

Wenn Bob Dylan tatsächlich der singende Prophet der Hippie- und Woodstock-Bewegung war, wird verständlich, warum die Mehrheit der Friedensbewegten wieder reumütig ins Lager ihrer anfänglich verachteten Eltern und in den Schoß des friedensbewegten militär-technischen Komplexes zurückkehrte (den Bob Dylan in seinem Lied ausdrücklich erwähnt).

Wer‘s noch immer nicht verstanden hat, lese das Gleichnis vom Verlorenen Sohn, der von seinem Vater abfiel, ein selbstbestimmtes Leben nicht führen konnte und bußfertig zu Vatern zurückgekrochen kam. Zur Feier des Tages gab‘s ein opulentes Grillfest.

Lieber unter Pharao bei den Fleischtöpfen Ägyptens bleiben, als auf sich allein gestellt am Hungertuch zu nagen. Das Gleichnis sollte besser heißen: Gleichnis vom autonomieunfähigen Sohn und der verspielten Freiheit.

Ob Friedensbewegte, Linke, Marxisten, Kapitalismusgegner: solange ausgerechnet jene Menschen, die die Gesellschaft menschlicher machen wollen, im Grunde ihres Herzens gefühlte Jesuaner sind, solange werden sie das Übel herstellen, das sie bekämpfen. Was sie mit links erbauen, reißen sie mit rechts ein.

Ein Gott, der die Welt erschuf, um sie am Ende zu 99% wieder zu vertilgen: kann man sich ein besseres Friedenssymbol vorstellen?

 

Ein Shitstorm ist eine Empörungswelle, die von den Medien zunehmend zum Ausbruch satanischer Mächte deklariert wird. Eine Empörungswelle in Echtzeit, was die Chose offensichtlich noch verschlimmert.

Bei Individuen wird es für gut gehalten, wenn sie in Echtzeit ihre authentischen Gefühle zeigen. Nicht so bei Volkskörpern, wie man in der Vorkriegszeit die Massen zu nennen beliebte. Vor denen man aus hochbürgerlicher Sicht nicht genug warnen konnte.

Bis über Nacht diese Kollektivbestien im Jahre 1933 zu gesunden Volkskörpern wurden, die mit untrüglichem Instinkt ihre wahren Führer fanden, die sie ins Tausendjährige Reich führen sollten. Was die auch prompt taten. Allerdings schafften sie es nur zum 12-jährigen Reich. Das war immerhin mehr als 1% des versprochenen Ziels, für den Anfang gar nicht schlecht.

Dass der Volkskörper nicht in Apathie versunken oder gar tot ist, darüber sollten sich demokratrie- und diskurskundige Experten eigentlich freuen. Denn Shitstorms wären die Widerlegung der ach so oft gehörten Politverdrossenheit.

Doch so einfach machen‘s hochkomplexe Medien nicht. Ist der Shitstorm positiv, war‘s ihr Verdienst, dass sie ein wichtiges Thema gefunden und angesprochen hatten. Ist er aber negativ, und die – zumeist anonyme – Meute wird ausfallend und hässlich, hat‘s mit ihnen nichts zu tun. Schaut euch diesen Pöbel an, das ist also der „Preis des technischen Fortschritts“, dass die einfachsten Regeln der Fairness nicht mehr eingehalten werden. Gewiss doch, wer will schon unflätig beschimpft werden?

Andererseits, ist es nicht besser, zu wissen, welche emotionalen Tiefentemperaturen in der Gesellschaft herrschen? Wären das nicht ideale Sensoren, um uns Hinweise zu geben, was die Gesellschaft denkt und fühlt? Ist es nicht ein Fortschritt in Ehrlichkeit, wenn Tausende sofort Rückmeldung über ein Ereignis geben?

Gemach, nicht alle hastigen Reaktionen sind die klügsten und überlegtesten, aber es gibt ja nicht nur affektive Primärreaktionen, sondern auch in Distanz gewonnene, durchformulierte, wohlabgewogene Meinungen? Was geschieht mit denen? Über die berichtet kein Medium, denn sie geben nichts her unter dem Motto: only shitstorm ist a good storm.

Hier geschieht etwas, was den kapitalistisch regulierten Monopolmedien gar nicht ins Konzept passt: das Volk meldet sich zu Wort. Eben nicht durch staatstragende Medien kanalisiert, observiert und stranguliert, sondern wild und authentisch.

Das Volk hat keine Lust mehr, unter Demokratie die Möglichkeit zu verstehen, einmal in vier Jahren ein Kreuzchen zu machen oder Leserbriefe in Unechtzeit zu verfassen, die gnädig oder ungnädig veröffentlicht werden oder nicht.

Demokratie ist Teilhabe in Echtzeit. Von der Athener Demokratie könne man gar nichts lernen, befand neulich Christian Meier, ein Experte für griechische Geschichte. Er bezog sich nur auf die Regularien des Wählens, die in unseren riesigen Massendemokratien nun mal nicht so organisiert werden könnten wie im überschaubaren Stadtstaat Athen, wo alle Stimmberechtigten auf ein Forum passten.

Na und, Herr Meier? Noch nichts von Shitstorm gehört, der in Echtzeit die Meinung des Volkes abbilden kann? Womit wir die athenische Polis an Authentizität schon übertroffen hätten. Demokratie, Herr Meier, besteht nicht nur aus Regularien, sondern aus dem Geist der Demokraten, die in der Lage sind, sich eine Meinung zu bilden und sie in der Öffentlichkeit zu vertreten.

In dieser Hinsicht allerdings könnten wir, Herr Meier, von Athen ne Menge lernen. Schließlich hat Europa von den Griechen das Denken und Reden gelernt. Zumindest ein wenig. Und wir könnten noch sehr viel den prächtigen Gestalten wie Perikles, Solon, Thukydides, Isokrates oder Demosthenes ablernen, von Sokrates ganz zu schweigen.

Nun gab es einen aktuellen Shitstorm, der von Mely Kiyak ausgelöst wurde. In der BZ hatte sie eine scharfe Kritik an Sarrazin geäußert, ja ihn persönlich angegriffen, indem sie ihn als „lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“ beschrieb. Nicht wissend, dass der Held der Deutschtümler vor Zeiten eine Tumoroperation überstanden hatte, die ihm jene Gesichtsmimik einbrachte, welche zu seinen mangelhaften Empathiefähigkeiten so trefflich zu passen schien.

Die gebürtige Kurdin entschuldigte sich, sie habe von diesem Schicksalsschlag nichts gewusst. Nach dieser Entschuldigung hielt der BZ-Verlag diese Sache für beendet. Von wegen. Nun kam ein fremdenfeindlicher Shitstorm über die BZ.

Die BZ spricht von der „Jauchegrube des Internet und von intellektuellem Müll“. Das kann man so bewerten, wenn man gleichzeitig bereit ist, vom intellektuellen Müll und der Jauchegrube der herrschenden Medien zu sprechen.

Sagen wir’s mal so: Hass ist Hass und nicht die allerschönste Tugend der Menschheit. Besser aber, er äußert sich, dringt ans Licht und die Gesellschaft lernt sich kennen.

Von solchen Gefühlsäußerungen sollen auch Edelfedern nicht ganz frei sein. Sie haben allerdings, wie alle höflichen Großbürger, die Fähigkeit, ihre unkoscheren Gefühle per Sprache geschickter zu verschleiern. Ob solche Verschleierungstechniken demokratietauglicher sind als spontane Beschimpfungen, darf bezweifelt werden. In einer heutigen Zeitung dürfte der grobianische Luther nicht mal den Wetterbericht formulieren.

Kein Kind einer ordentlichen Familie darf heute Scheiße sagen, Shitstorm hingegen würde problemlos durchgehen. Doch dieselbe Gesellschaft hat keinerlei Einwände, wenn Unterschichten und Fremde tagtäglich als faule und dumme Säcke beschimpft werden: auf Hochdeutsch natürlich, unterfüttert mit empirischen Zahlen und Fakten à la Sarrazin. Das klingt wissenschaftlich und seriös.

Das Ergebnis dieser hochdeutschen Beleidigungen und Diffamierungen sehen wir jeden Tag deutlicher. Die Gesellschaft sortiert sich nach Einkommen, Bildung, Tischsitten und seriös daherkommender Diffamierungsmacht. Der Mischkrug-Charakter einer intakten Gesellschaft ist verloren gegangen, die Mischungselemente wurden ausrangiert, der soziale Teig wird härter und sklerotischer.

Wer aus einer Villa stammt, bleibt in der Villa. Wer aus einem heruntergekommenen Block kommt, traut sich nicht mal, in der Villengegend spazieren zu gehen. In den USA würde er sofort festgenommen, bald wird dies auch bei uns Realität. Auf Bahnhöfen dürfen, gerichtlich genehmigt, farbige Mitbürger ohne realen Verdacht nach Belieben überprüft werden.

Der gestelzten Ziererei und manirierten Feinfühligkeit der sich nach oben orientierenden Mittelschichten entspricht die zunehmende Brutalität der individuellen und nationalen Rivalitäten. Man muss verfolgen, wie das auflagenstärkste Blatt die Griechen bejaucht, bald auch Spanier und Italiener. Dafür darf BILD aufrücken in die Reihe der nannenwürdigen Investigationspresse.

Je affektverbotener das Getue bedenkenloser Eliten, je affektiver das Echo aus den Tiefen anonymer Schichten, die nicht gelernt haben, ihre Meinung emotional und diskursiv zugleich auszudrücken.

Solange es kein Internet gab, hatte die Presse das Volk nach Belieben am Bändel. Nun entgleitet der Große Lümmel zunehmend den von oben diktierten Regeln des Sagens und Meinens. In den oberen Etagen wird man nervös. Bislang funktionierte es problemlos, wenn man unliebsame Empörungen des Volkes durch Nichtbeachten und Verschweigen ersticken konnte.

Diese obrigkeitlichen Zensurmaßnahmen seitens der Vierten Gewalt, die eher das Volk als die Drei Gewalten kontrolliert, sind vorüber. Wenn Neues am Horizont auftaucht, das wahrhaft neu und verheißungsvoll ist, pflegen windige Neuigkeitspriester seltsam bleich zu werden.

Shitstorm ist wie das Wehen des Geistes an Pfingsten: unberechenbar und unzähmbar.