Kategorien
Tagesmail

Dienstag, 20. August 2013 – Orhan Pamuk und der Westen

Hello, Freunde des arabischen Frühlings,

wenn Journalisten ernst werden, sagen sie Wir. Sie verbrüdern sich mit der ganzen Republik und sind die Stimme aller Deutschen. Von distanzierter Beobachtung keine Spur. Sie betreten heiligen Boden. Im sonntäglichen Presseclub wurden sie ernst, sehr ernst.

Wie waren wir alle begeistert vom arabischen Frühling, vom Aufbruch der Demokraten. Und nun? Alles dahin! Unsere Begeisterung verraten, unsere Parteinahme enttäuscht. Wie konntet Ihr das mit uns machen, Ihr Araber? Wie stehen wir nun da vor denen, die wir immer schon sagten, diese Muslime seien genetisch demokratieunfähig? Nun sitzen wir in unseren Fernsehsesseln und sind blamiert. Das soll uns eine Warnung fürs ganze Leben sein. Diese Schande werden wir euch nie vergessen.

Doch die Blamage geschieht uns recht. Immer wollen wir auf der richtigen Seite sein. Das ist der Psychohygiene unserer deutschen Seelenverfassung geschuldet, dass wir Partei ergreifen und schwarz und weiß streng voneinander trennen müssen. Wissen wir nicht schon längst, dass es wahr und falsch nur in Kinderbüchern gibt?

Nun haben wir die Quittung: die Welt ist grau, unübersichtlich und komplex. Nichts für träumerische Idealisten. Wir Deutsche sind zu gut für diese Welt. Wir müssen knallharte Machiavellisten werden. Die Welt zwingt uns dazu, ob wir wollen oder nicht. Wir sind unschuldig.

Wenn Sie, Herr XY, Bilder von der blutigen Revolution sehen, wie geht es Ihnen dabei? Diese Frage nach den Bildern gehört zum

dogmatischen Inventar aller deutschen Beobachter. („Wir, die wir die Szenerie schon seit Jahrzehnten beobachten …“) In der dritten Frage geschieht der Übergang von der Wirklichkeit in die Bilderwelt. Die Welt können wir nicht erkennen, wir sehen nur Abbilder. Wenn wir auf Bilder reagieren, können wir die Welt vergessen, die es gottlob nicht gibt.

Es gibt keine Toten, es gibt nur Bilder von Toten. Deutsche wissen, dass sie die Wirklichkeit nicht direkt erfassen, sie sind weltmeisterliche Erkenntnistheoretiker.

Und wenn sie keine Bilder haben, erzählen sie Geschichten. Was diese mit der Wirklichkeit zu tun haben: schon die Frage klingt blasphemisch in ihren Ohren. Zwischen dir und der Welt sind deine Augen, mein Sohn. Und die können dich trügen. Sind deine Sinne, mein Sohn, und die können dich belügen. Ist deine kleine subjektive Person, mein Sohn, und die kann die Wirklichkeit gar nicht erkennen. Denn siehe, mein Sohn, alles ist Sache der Perspektive deiner Interessen und Begehrungen. Im Grunde hast du es nur mit dir selbst zu tun.

Ägypten? Reine Projektion. Lass fahren dahin die Ägypter. Begnüge dich mit Bildern. Kann man mit Bildern Trauer tragen? Wirf die Bilder weg, morgen gibt es neue in TV.

Waren Sie überrascht, Frau XY, vom Ausmaß der blutigen Wirren? Waren Sie keine gute Prophetin? Muss eine gute Beobachterin nicht in der Lage sein, in die Zukunft zu schauen?

Nein, Herr XY, das konnte niemand voraussehen. Alles schien bereits in trockenen Tüchern. Und nun dies! Ich bin schwer enttäuscht über dieses unberechenbare Volk am Nil. Meine treuen Beobachtungsgaben wurden mit Undank belohnt.

Die folgende Frage wurde nicht gestellt: war die Heftigkeit der Kämpfe nicht doch vorauszusehen? Immerhin geht es um wahre Religion. Haben die Abendländer sich um der wahren Religion willen nicht oft genug gerädert und gepfählt? Haben sie Muslime nicht hekatombenweise vom Leben in den Tod befördert?

Ist Religion mit Demokratie vereinbar? Oder werden wir der Religion unserer Väter untreu, wenn wir nach westlich-dekadentem Vorbild die Bestie des selbstbestimmten Volkes entfesseln?

Deutsche Medienarbeiter wissen, dass Religion immer gut sein muss, denn sie ist göttlich. Wenn sie einmal schlecht sein sollte, trügt der Schein. Von verborgenen Interessen wird sie nur instrumentalisiert. Im Grunde geht’s nur um egoistisches Treiben, das sich mit heiligen Floskeln drapiert.

Religion soll das Wichtigste im Leben sein  aber mit dem Leben hat sie nichts zu tun. Rein und unberührt steht sie in der Vitrine oder auf dem Altar und darf mit Realität nicht befleckt werden. Nein, Religion ist vollkommen. Dass die Ägypter sich um der wahren Religion willen den Schädel einschlagen, ist natürlich Unsinn. Sie wissen es nicht besser, diese zurückgebliebenen Wüstenanrainer.  

Bei der nächsten Revolution werden die deutschen Tagesbeobachter gewitzter sein. Herr Schönborn vom Presseclub wird auf kein demokratisches Geflunker mehr hereinfallen. Herr Schönborn ist Chefredakteur bei der ARD.

Eine der unintelligentesten Erfindungen der Medien sind Interviews. Ein Dummkopf, der von nichts eine Ahnung hat, aber alles besser weiß als der Befragte, es aber aus taktischen Gründen zurückhält, um nicht alle Karten zu früh auf den Tisch zu legen, stellt einem, der alles weiß, aber nur so lange, bis der Dummkopf ihm bewiesen hat, dass er ein eingebildeter Lackaffe ist, gewisse Fragen auf Nullniveau, aber mit hochexpressiver Stimme, die Leidenschaftlichkeit signalisieren soll.

Gab es irgendein Übel zu vermelden aus Deutschland, dem Land des Wohlstands und des inneren Friedens, so begann ZDF-Anchorman Wolf von Lojewski sich leidenschaftlich in Pendelbewegungen zu bringen und mit Timbre in der Stimme einen schnell herbeigekarrten Experten zu befragen: Was eigentlich ist los in Deutschland? In welchem Land leben wir eigentlich, wenn solche Dinge möglich sind – als da sind Morde und Verbrechen?

Zumeist waren die Anchormänner Reporter im Ausland, da ging es wüst her  aber das war weit weg in der Tundra oder im schwarzen Afrika. Dort war nichts anderes zu erwarten. Mitten in Deutschland aber soll es Böses geben? Ohne, dass es vorher dem Herrn von Lojewski zu Genehmigung vorgelegt wurde? Das war so ungeheuerlich, dass es dem Herrn von Lojewski regelmäßig die Sprache verschlug. Alle anderen deutschen Befrager sind ähnlich geistesabwesend wie Herr von Lojewski, nur nicht so altadlig.

Im Interview zeigt sich das ganze Abendland in seiner Spaltung in Alleswisser oder Priester und Nichtswisser oder tölpelhaftes Volk, das den Priestern gelegentlich Fragen stellen darf über das Jenseits oder wie Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen konnte, wo es doch selbst in sechs Tagen nicht mal seine Ernte einfahren konnte.

Rein erkenntnistheoretisch ist der ignorante Frager ein leeres Fass, in das der alleswissende Beantworter in herablassender Art seine überlegene Wahrheit hineinschüttet. Ende des Interviews.

Der Antworter hat die Rolle des Offenbarers, der Fragende die des törichten Ignoranten. Im Interview wiederholt sich die Predigtsituation: der da oben weiß alles, die unter der Kanzel wissen nichts. Von oben kommt die geballte Ladung an Wissen und Weisheit, die unten müssen schlucken und nicken.

Natürlich stellen moderne Interviewer ungeheuer kritische Fragen. Ein gleichberechtigtes Streitgespräch aber wäre eine Tabuverletzung und ein Verstoß gegen alle medialen Gepflogenheiten. Der Frager muss seine Meinung nicht offen legen oder dem Antworter entgegenstellen. Ob er von den Antworten überzeugt wird, ist belanglos. Im Medienwesen geht’s nie um Überzeugen und Überzeugtwerden. Es geht um rhetorische Scheinattacken.

Der Frager fragt selten für die eigene Person, er stellt stellvertretende Fragen für Abwesende. Ein Gespräch zwischen Frager und Antworter kann es gar nicht geben. Ein Interview ist ein Gespräch unter Abwesenden. Das Gespräch geht über die Bande: „Was sagen Sie zur Meinung Ihrer Kritiker?“

Kein Antworter dürfte sagen: warum fragt er mich nicht selbst? Warum führt er kein öffentliches Streitgespräch mit mir? Warum mault er nur hintenrum und stellt sich nicht dem öffentlichen Streit um die Wahrheit? Was sagen Sie denn, Herr Frager, zur Frage meines Gegners. Sind Sie seiner Meinung  oder spielen Sie nur den advocatus diaboli? Glauben Sie im Ernst, dass wir uns im windschlüpfrigen Rollenspiel gegenseitig ernst nehmen können?

Sie, Herr Journalist, spielen nach Belieben die Rollen Andersdenkender, ohne sie authentisch zu verkörpern. Wäre es nicht besser, alle Kasperlspiele zu verabschieden und jeder vertritt allein seine Meinung  und dann gehen wir in den sokratischen Clinch? Was soll die Öffentlichkeit von solchem Tandarei haben?

Erkenntnisgewinne sind von solchen Medienpossen nicht zu erwarten. Der ach so kritische Journalismus will keck auftrumpfen und einen auf altklug machen. Selbst Rechenschaft über seine eigene Meinung abzulegen, das will er nicht. Wird der Frager ausnahmsweise zurückbefragt, antwortet der Frager: Hier stelle ich die Fragen.

Das ist autoritärste Anmaßung, ein Hohn für jeden Disput zwischen Gleichberechtigten. Hier entlarvt sich das mediale Wesen als Bastard der Offenbarungsreligion: Du unten, ich oben. Der Frager ist der alleinige Herr des Verfahrens. Wer sich der Despotie des Rituals entzöge, hätte keine Chance mehr, in die Gazetten oder ins Studio zu kommen.

Hat schon jemand die Frage an Sandra Maischberger gehört: Was eigentlich wählen Sie und warum? Warum agieren Sie als eintönige Fragenmaschine, die an der Beantwortung der Fragen ganz offensichtlich kein Interesse hat? Beantworten Sie ihre forschen Fragen doch gefälligst selbst. An jenem fernen Tage, an dem solche Worte gesprochen werden, wird in Deutschland die Revolution ausbrechen.

In der SZ erschien ein Interview mit dem türkischen Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk über die Lage in Ägypten. Ist schon was, wenn Nichtdeutsche am machtfreien Diskurs in Deutschland teilnehmen dürfen. (Im Presseclub sind Ausländer exotische Tierchen. Für diesen seltenen Fall hat man den Internationalen Frühschoppen zur Verfügung, der immer dann auf Phönix kommt, wenn in der ARD Wichtigeres übertragen werden muss. Zum Beispiel, wie schnell gedopte Erwachsene eine gewisse Strecke zurücklegen können, um eine Zehntelsekunde vor ihren Konkurrenten ins Ziel kommen  ohne unterwegs zu kollabieren.)

Orhan Pamuk ist empört über die Heuchelei des Westens, der auf den angekündigten Putsch in keiner Weise warnend reagiert und somit Gewalt als Mittel der Politik zugelassen hat, wenn nur die Richtigen davon profitieren. Das war bei der ersten korrekten Wahl in Palästina auch nicht anders, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Dort wurden die Falschen gewählt, die anschließend vom Westen unter Kuratel gestellt wurden.

(Die staatstragende Rolle Westerwelles besteht darin, mit Predigten, Warnungen und Ermahnungen durch die Welt zu düsen, um den Weltfrieden rund um die Uhr zu garantieren. Streitet euch nicht, vertragt euch, lasst Vernunft walten, sprecht miteinander, Kinderchen, mir egal, wer angefangen hat, ich stehe über allen Parteien.)

Pamuk: „Zwei Tage, bevor das Militär die Macht übernahm, kündigte er der ganzen Welt seinen Coup an. Und die ganze Welt drehte die Köpfe weg, allen voran der Westen, und wollte nichts wissen. Und jetzt tötet die Armee und tötet, und nicht nur die Regierungen der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union, sondern auch die öffentliche Meinung in den westlichen Ländern tut so, als gäbe es da gar keine Verantwortung.“

Wie müsste die Anschlussfrage lauten, jedenfalls unter Demokraten?

Sie haben vollständig recht, ich verstehe Ihre Empörung. Wie erklären Sie sich die fatale Reaktion des Westens?

Stattdessen: „Das könnte ja etwas damit zu tun haben, dass die Möglichkeiten, etwas zu verändern, begrenzt sind, auch für die Vereinigten Staaten. Der ganze Nahe Osten befindet sich ja in Aufruhr“.

Der Frager verteidigt in falscher Nibelungentreue den Westen, tut, als hielte er die Empörung Pamuks für eine orientalische Exotenreaktion. Der arme Westen, wie soll er anders reagieren als auf heuchelnde Art und Weise? Wie lange plagt uns schon dieser chaotische Nahe Osten, dass wir kaum noch aus den Augen schauen können!?

Die überzeugende Antwort auf eine absurde Frage, die gar keine ist:

„Es kann schon sein, dass der Westen nach dem sogenannten arabischen Frühling weniger Einfluss in den arabischen Ländern besitzt. Aber das ist nicht der Punkt. Man hätte wenigstens ‚Nein‘ sagen können, laut und deutlich, ‚Nein, ein Militärputsch darf kein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein‘. Stattdessen waren die wichtigsten politischen Institutionen des Westens nicht einmal zwei Tage nach dem Putsch in der Lage zu sagen, dass die Machtübernahme durch das Militär eben ein solcher war.“

Ist der Westen unfähig geworden, seine abendländischen Grundwerte zu formulieren? Wer erwartet, dass die sich über Nacht in der ganzen Welt verbreiten? Wäre es nicht dringend notwendig, demokratische Forderungen zu stellen, wenn man nicht als Heuchler empfunden werden will?

Die Schwäche der ägyptischen Demokraten liegt auch daran, dass sie sich nicht auf das leuchtende Vorbild des Westens berufen und verlassen können. Ihre Position wirkt unglaubwürdig, wenn sie die Meinungen unglaubwürdiger Vorbilder vertreten müssen.

Erneut wird der Westen verteidigt. Natürlich, nur als Anwalt des Teufels. Die eigene Meinung darf man nicht preisgeben, sonst wäre man parteiisch:

„Nun, man demonstriert seine Machtlosigkeit, wenn man etwas öffentlich missbilligt und der Kritik dann keine Taten folgen“.

Warum sollte man etwas öffentlich kritisieren, wenn man keine Macht hat, den Worten Taten folgen zu lassen? Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Kritik ist nur sinnvoll, wenn ich meine Kritik per Gewalt anderen aufzwingen kann? Das wäre faschistische Zwangsbeglückung.

In freien Republiken habe ich immer meine Meinung zu sagen und mich zu denen zu bekennen, deren Standpunkt ich teile Alles andere ist Heuchelei und Feigheit. Zwei Begriffe übrigens, die Pamuk aus Feingefühl nicht verwendet, obgleich er alles Recht dazu hätte.

Pamuk muss nun so deutlich werden, wie man einem Strohkopf das Einmaleins beibringen muss  durch geduldige Wiederholung:

„So kann man schlecht argumentieren. Lassen Sie uns die Sache ganz altmodisch betrachten: Entweder gibt es so etwas wie westliche Werte, wie die Ideale von Demokratie, Meinungsfreiheit und so fort, oder es gibt sie nicht, weil sie immer wieder politischen oder ökonomischen Kalkülen unterworfen werden.“

Müssten das nicht Trivialitäten für überzeugte Demokraten sein? Müsste der Frager nicht zugestehen, dass eine andere Meinung in dieser Frage schlechterdings unmöglich ist  wenn ich Parteigänger der Demokratie bin?

Iwo, weit gefehlt. Nun kommt eine klassische Null-Niveau-Frage, die nur eine empathielose Edelfeder stellen kann:

„Und warum soll diese Unterscheidung so wichtig sein?“

Spätestens hier müsste jeder Interview-„Partner“ das Mikrofon auf dem Kopf des Fragers zertrümmern und sagen: verarschen kann ich mich selber.

Antwort Pamuk: „Weil etwas auf dem Spiel steht. Denn hinter diesem Problem erhebt sich die Frage, ob die Ideale von Demokratie und freier Meinungsäußerung noch etwas gelten, wenn sich die Bevölkerung eines Landes gegen eine politische Nähe zu den westlichen Ländern entscheidet. Kann der Westen eine Demokratie dulden, in der sich die Wähler für eine nicht-westlich gesonnene Partei entscheiden? Um diese Frage ging es ja auch in meinem Roman ‚Schnee‘, nur bezogen auf türkische Verhältnisse. Jetzt aber existiert dieses Problem global, dieses Missverhältnis zwischen demokratischen Idealen auf der einen, den westlichen Interessen auf der anderen Seite.“

Wer solche Leuchten der Gesprächskunst  pardon, des sinnfreien Befragens  in seinen medialen Reihen hat, braucht sich um militärische Putschfreunde in unzivilisierten Ländern nicht zu sorgen. Der Interviewer ist übrigens Thomas Steinfeld, er soll Chef der Kultur in der SZ sein.

Der Westen schirrt an der ganzen Front ab. Zuerst krümmt sich das Rückgrat. Dann stirbt der Verstand. Danach die Demokratie.