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Tagesmail

Freitag, 05. Juli 2013 – Biedermann und die Brandstifter

Hello, Freunde der SZ,

Kurt Kister hat sich für die Karikatur ent-schuldigt, indem er jede Schuld in untadeliger Nullsprache von sich wies. Tschuldigung oder Pater, peccavi, wie man in Bayern zu sagen pflegt – dann ist nach christlichem Ritual alles vom Tisch. Sollte Broder Genugtuung empfinden über den lächerlichen Kotau, hätte er sich selbst als Schuld-und-Sühne-Denker enttarnt.

Sündiget tapfer, ihr Deutschen, doch dann tut Buße und alles ist porentief gereinigt vor Gott und der Welt? In Demokratien sollte es um Erkenntnisse gehen, um Einsicht, nüchterne Fehleranalyse und Aufklärung. Das will weder der Ankläger, noch der Verteidiger. Bei ihnen geht‘s um Angst, Subordination und mittelalterliche Prügelrituale.

Kister spricht von „missglücktem Versuch, mit den Mitteln der Karikatur darzustellen, wie der Staat Israel von seinen Feinden gezeichnet wird.“

Wie bitte? War die Karikatur – die für diesen Artikel gar nicht gezeichnet wurde – nicht die dämliche Dekorationsbeilage zu einem Artikel, in dem es um israelkritische Bücher ging? Um das exzellente Buch von Peter Beinart, einem jüdisch-amerikanischen Dozenten, der sein geliebtes Land von allen guten Geistern verlassen sieht und alle sogenannten Freunde – darunter die Deutschen – auffordert, dieses Land durch Kritik zu retten?

Inzwischen ist der infame Eindruck entstanden, als gehöre Beinart zu den Feinden Israels, die das Land breitmäulig vertilgen wollten. Es geht nicht um Feinde Israels, sondern um israelkritische Freunde. Der deutsch-jüdischen Harmonie ist es

in herzlicher Verbundenheit geglückt, Kritik in feindseligen Hass umzutaufen. Orwell würde von Neusprech reden.

Broder wirft dem Blatt Antisemitismus vor. Das anrüchige Wort nimmt Libero Kister gar nicht in den Mund. Ein Streit unter Tauben und Stummen: dieser deutsch-jüdische „Dialog“. Ein sadomasochistisches Monotheisten-Vergnügen. Hat Kister nun dem Vorwurf Broders recht gegeben und einen antisemitischen Abgrund in seiner Gazette festgestellt oder nicht? Hat er dieses – sicherlich nicht bewusste – Restgift in seiner Redaktion verstanden und zu erklären versucht oder nicht?

Gar nichts hat er. In klinisch gereinigter Tschuldigungssprache erklärt er: „Es wurde also ein Klischee verwendet, um Klischees anzuprangern, und das hat nicht funktioniert, auch wenn in der Bildunterzeile die Erklärung versucht wurde. Wir bedauern sehr, dass wir diesen Fehler gemacht haben. Und wir bitten jene, die wir dadurch verärgert oder verletzt haben, um Entschuldigung.“

Welcher Fehler war das noch mal? War es nun Antisemitismus oder nicht? Hat Broder Recht mit seiner Kritik oder nicht? Wenn einem sonst nichts einfällt: wie wär‘s mit Missverständnissen? Die Edelschreiber bedienen sich des leeren Politiker-Jargons. Welches Schweinderl hättens denn gern? War es Antisemitismus, sollte dieser „Fehler“ erklärt und verstanden werden. War es keiner, warum scheinbußfertige Krokodilstränen?

Der unter Wiederholungszwang stehende Streit soll davon ablenken, dass es gar keine echten Unstimmigkeiten unter den Zankdarstellern gibt. Die jüdisch-deutsche Harmonie ist unübertrefflich. Beide Seiten tun alles, um vom eigentlichen Thema Beinarts abzulenken und auf keinen Fall das wahre Objekt der Begierde in den Mittelpunkt zu stellen: Israel bleibt außen vor. Über Israel wird nur gesprochen, wie die von Beinart scharf attackierte Jewish Company es fernmündlich für richtig hält.

Wenn Entenküken angegriffen werden, bietet sich die Mutter als scheinbar leichte Beute an, um von ihrem Nachwuchs abzulenken. Die deutsch-jüdische Harmonie ist eine perfekt funktionierende Entenmutter. Mit dem klitzekleinen Fehler, vor lauter Schutzmaßnahmen ihre Küken zu vergessen und dem Verderben zu überlassen. Schalom aleichem und Halleluja.

(Kurt Kister in der SZ)

Christian Stöcker vom SPIEGEL bemerkte es, als er den Anne-Will-Talk beobachtete:

„Den ehrlichsten und ernüchterndsten Satz des Abends sagte US-Politikberater Denison: „Die NSA ist da, um die Gesetze anderer Länder zu brechen, zu verletzen, ohne die Gesetze der Amerikaner zu brechen.“ Niemand widersprach.“

Worum geht’s noch mal beim Streit über die Gigantoschnüffler? Über Terroristenabwehr? Es geht um Macht. Genauer um Gewalt. Denn rechtlose Macht ist Gewalt. Denison sagte es ungeschminkt: Ihr Deutschen seid Deutsche, wir Amerikaner sind keine Deutschen, sondern Amerikaner. Also haben wir amerikanische Interessen und keine deutschen. Wir sind wir und ihr seid im Zweifelsfall unsere Gegner.

Schon längst ist der Zweifelsfall eingetreten. Für uns seid Ihr Angriffsland. Man könnte auch ökonomisch korrekt von Konkurrenten sprechen. Doch im wirtschaftlichen Endkampf um schwindende Ressourcen wird Konkurrenz zum Kampf mit harten Bandagen. Momentan noch im Cyber-Kampf. Sollte der nicht ausreichen: im finalen Waffengang. Hello, Germanen: es geht dem apokalyptischen Endkampf entgegen. Its theology, stupid!

Da wird’s kein transatlantisches Bündnis mehr geben. Schon gar keine partnership in leadership. Da zeigen sich die wahren Fronten: wer gehört zur kleinen Schar der Masters of Universe und wer nicht? Viele sind berufen, wenige auserwählt. Glaubt ihr eingebildeten europäischen Aufklärungschristen im Ernst, ihr werdet zu den Auserwählten gehören? Rapide geht’s zur Endausscheidung. Die Arche Noah reicht knapp für uns. Fangt schon mal an, das Dauerschwimmen zu üben.

Die Deutschen in ihrer historisch-kritischen Deutungshoheit über die Schrift schauen hochmütig auf die wortwörtlichen Bibelleser in Amerika herab. Obgleich jene noch immer am lutherischen Prinzip festhalten: solo verbo, allein durch das Wort. Das Wort, sie sollen lassen stahn und kein Dank dafür haben. (In Ohio hatten ausgewanderte deutsche Lutheraner noch viele Generationen lang eine vollständige Lutherausgabe, die lateinischen Schriften komplett ins Deutsche übersetzt. Sie kannten ihren Reformator aus dem Effeff.)

Das Prinzip solo verbo ist bei den deutschen Christen längst aussortiert. Bei Käßmann & Huber & Co gilt schon lange das Prinzip: allein durch Privaterleuchtung, die identisch ist mit dem Zeitgeist. Alle dogmatischen Bestandteile, die man nicht rational erklären kann, haben die Deutschen aus ihrem Glaubensrepertoire entfernt.

Sie würden sich schämen, im Wort zum Sonntag von der Hölle zu reden. Schöpfung, Menschwerdung Gottes, Weltuntergang, Himmel und Hölle? Muss man symbolisch und allegorisch verstehen. Das sind Mythen für Kinder, die man – so Bultmann, der theologische Lehrer Heideggers – nicht wörtlich nehmen darf.

Die alten Märchen müssen ent-mythologisiert werden. Es geht nur um das, was uns heute existentiell angeht: um das persönliche Kerygma oder die Botschaft in heutiger Zeit, im heutigen Sein. (Bultmann hatte Heideggers Philosophie als Grundlage seiner Theologie genommen.)

Mit all diesem deutschen Tiefensinn geben sich echte amerikanische Gläubige nicht ab. Sie schlagen das unverfälschte Wort auf und lesen, was geschrieben steht: Schöpfung in sechs Tagen, Sintflut, Jesus am Marterholz, Auferstehung, Himmelfahrt – und Wiederkunft Christi demnächst in diesem Theater. Es wird nämlich Zeit. Der Herr der Parusie ist nicht der pünktlichste und zuverlässigste.

Nur wenn’s die Amerikaner in die Hand nehmen, wird die Wiederkehr zum baldigen globalen Ereignis. Im Zweifelsfall kann man den Messias zur Rückkehr nötigen, indem man mit einem kleinen Atomkrieg die Tenne säubert, damit ER auf gerader Straße landen kann.

Die planetarische Überwachung ist eine präapokalyptische Maßnahme zur Aussortierung der Menschheit in Spreu und Weizen. Ist es nicht erstaunlich, dass niemand mehr von Recht und Unrecht, von Macht oder den Freiheitsrechten des Grundgesetzes spricht? Die deutschen Freunde des Großen Bruders treten in einer ideologischen Dreistigkeit und Verwegenheit auf, dass man nur staunen kann. Noch vor kurzem wäre diese Anbetung der Omniszienz des Großen Bruders unmöglich gewesen.

Es geht nicht nur um wachsende Kluft zwischen Reichen und Armen, sondern um die unüberbrückbare Differenz zwischen amerikanischen Endzeitanbetern – und entmythologisierten Aufklärungsschwaflern mit christlichem Hintergrund in Deutschland.

Das Problem ist, dass die Deutschen das Problem nicht mal erkennen. Während die Wiedergeborenen des Bible Belt die neuheidnische Dummheit der Deutschen kaum fassen können. Zurzeit ergeben sich eigenartige Konkordanzen zwischen deutschen Realpolitikern (etwa dem Historiker Stürmer und allen „Konservativen“) und amerikanischen Biblio-Realpolitikern. Einig sind sich die beiden unterschiedlichen Fraktionen, dass sie die Blauäugigkeit deutscher Weltverbesserer, Vernünftler und Ökologen nur verachten.

Bislang wurde die Verachtung hinter diplomatischen Floskeln versteckt. Doch jetzt scheint sich was getan zu haben. Denison hat den Bann gebrochen. Er redet Klartext mit den atheistischen Deutschen, die sich noch immer als Christen drapieren. Der atlantische Tiefenriss zwischen den Kontinenten scheint kaum noch reparabel. Wie auch, wenn er von der deutschen Seite vollständig verleugnet wird?

Noch agiert die NSA relativ harmlos. Doch wo Aas ist, sammeln sich die Geier. Der Appetit kommt beim Essen. Sind die Machtinstrumente erstmal im Kasten, die ersten nervösen Bewegungen gegen sie verpufft, kann man in aller Ruhe drüber nachdenken, wie man den Hobel ansetzen kann. Das Schicksal setzt den Hobel an und hobelt alle – ungleich. Die einen ins Töpfchen, die anderen ins Kröpfchen.

Obgleich Merkel schein-rabiat gegen ihre Überwachung protestieren ließ, gehen die Verhandlungen um eine Freihandelszone unbekümmert weiter. Ein Wölklein war‘s, es wird vorübergehen. Mach‘s kurz, am Ende war‘s nur ein Furz, pflegte Luther auf Klardeutsch zu sagen.

Eric Bonse bringt es in der TAZ auf den Punkt: Bei den Banken konnte man sehen, was es bringt, wenn man in Demokratien Machtinstitutionen entstehen lässt, die too big to fail sind. Da waren derart gigantische babylonische Türme herangewachsen, dass sie beim Umfallen den ganzen Planeten ins Trudeln brachten. An den Staubwolken haben wir heute noch zu schlucken. Nun wächst im Hintergrund noch ein größerer Moloch heran – und die Freunde der Sicherheit klatschen beifällig in die Hände.

Jan Fleischhauer hält den ganzen Spuk gegen PRISM für „Hysterie in der Nacktsauna“:

In Amerika könne man niemandem die deutsche Panik verklickern, so Fleischhauer. Die Medien berichten so gut wie nichts drüber. Auch die New York Times bestrafe die germanischen Hektiker mit Ignoranz: „Es ist schwer, den Leuten hier die deutsche Sicht näherzubringen. Versuchen Sie mal einem Amerikaner zu erklären, weshalb wir nichts dabei finden, uns mit anderen nackt in die Sauna zu setzen, aber unser Haus verpixeln lassen, wenn der Google-Wagen vorbeigerollt ist. Ich habe mein Bestes gegeben, doch lassen Sie es mich so sagen: Unser Konzept von Privatsphäre leuchtet nicht jedem im Ausland auf Anhieb ein.“

Deutsche Amerikafreunde würden niemals auf die Idee kommen, den Spieß umzudrehen und den Deutschen die amerikanische Sicht verständlich zu machen. Wer die amerikanische Sicht der Dinge nicht unbesehen schluckt, ist Antiamerikaner und sekundärer Antisemit.

Waren Amerikaner bislang nicht die größten Verächter des fürsorglichen Staates? Wurden die Deutschen von den Amerikanern wegen ihrer neurotischen Sicherheitsbedürfnisse (Vollkaskomentalität) nicht geschmäht? Und plötzlich steht alles auf dem Kopf? Fast keinem deutschen Politbeobachter ist der achsensymmetrische Paradigmenwechsel in Amerika und Deutschland aufgefallen?

Halt, Fleischhauer ist ins Grübeln gekommen: „Wie ich festgestellt habe, ist Amerikanern auch nur schwer beizubringen, warum die Deutschen schon Einjährige am liebsten dem Staat anvertrauen, aber um Himmels willen ihre Daten vor ihm geheim halten wollen. Die Amerikaner haben sich damit abgefunden, dass man nicht ohne staatliche Institutionen auskommt, wenn es um die innere und äußere Sicherheit geht – ansonsten regeln sie ihre Dinge lieber allein. Wir haben uns aus irgendeinem Grund für das Gegenteil entschieden: Wir delegieren alles an den Staat, was wir gut auch selber erledigen könnten, aber misstrauen ihm ausgerechnet da, wo Selbsthilfe nicht weiterführt.“

In wirtschaftlicher Hinsicht bevorzugen die Deutschen lebenslange Rentensicherheit; die Amerikaner verrecken lieber, als sich mit staatlicher Knete abfüttern zu lassen. Was jedoch Sicherheit gegen Terroristen betrifft – genauer: Angehörigen der Achse des Bösen –, da ist es exakt spiegelverkehrt. Da wollen Amerikaner sich wie im Hühnerstall lieber von morgens bis abends vom Großen Bruder überwachen, pardon, schützen lassen.

Immerhin, Fleischhauer macht den Versuch des Verstehens – indem er sich über die Deutschen lustig macht, die überall totalitäre Mächte wittern, denen man widerstehen müsse: „Wenn die demokratische Maske fällt und in uns allen wieder Hans und Sophie Scholl erwachen, ist es besser, die dunklen Mächte haben von uns kein Bewegungsprofil.“

Der Kommentator hält es für neurotische Überidentifikation mit den Widerständlern, dass jeder Deutsche Hans und Sophie Scholl sein wolle. Die Vergangenheit scheint perdu, sie ist restlos aufgearbeitet. Deutsche, kommt endlich an Deck und schuftet für das BIP. China steht vor der Tür, wir brauchen jeden Malocher, um die gelbe Gefahr zu bestehen. Da können wir uns keine Geschwister-Scholl-Nostalgie erlauben.

Auf der einen Seite kann sich Fleischhauer nicht erklären, wovor die Deutschen sich fürchten: „Das Problem mit dem Abhören ist, dass nie ganz klar wird, wovor genau wir uns eigentlich fürchten sollen. Die Gefahr ist eher abstrakt, was sie nur noch bedrohlicher macht“.

Auf der anderen weiß er plötzlich genau, was uns droht, wenn wir uns nicht dem amerikanischen Schutzschild unterstellen: „Wenn demnächst in Hamburg oder Frankfurt eine Kofferbombe explodiert, weil wir zu spät die Verbindungsdaten der Täter gesichtet haben, wäre es schön, wenn die Justizministerin den Mut fände, den Leuten zu erklären, dass solche Anschläge nun einmal der Preis sind für das informationelle Selbstbestimmungsrecht, auf das wir im Augenblick so große Stücke halten.“

Wer sagt, wenn es um Wirtschaft geht: ein Leben ohne Risiken ist illusorisch? Die Deutschen? Wer sagt immerzu: lieber tot als Sozialknete? Die Amerikaner? Das kann nur eine echte transatlantische Wertegemeinschaft sein.

Die Mächte und Gewalten der Einprozentwelteliten wachsen ins Unermessliche. Und wir dürfen uns rühmen, untätig dabei gewesen zu sein.

Es ist wie in Max Frischs: Der Biedermann und die Brandstifter. Vor den Augen des Biedermanns verlegen die Brandstifter ihre Zündschnüre und tränken sie in Benzin. Nein, versichern sie dem gläubigen Tropf: wie kämen wir dazu, dein Haus in Brand zu setzen? – Bis es lichterloh brennt.

Über allen Gipfeln ist Ruh.

Noch spürest du

In allen Wipfeln

Kaum einen Klick,

kaum einen Hauch.

Die Lauscher schweigen im Walde,

Warte nur, balde schweigest

Du auch.