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Montag, 03. Juni 2013 – Vernunft und Glauben

Hello, Freunde des Friedens,

„dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird“: dieser Satz steht in einem internationalen Vertrag, den die Bundesrepublik unterschrieben hat. Widerrechtlich lässt der amerikanische Präsident durch ferngelenkte Drohnen Menschen ermorden. Die Tötungsaktionen gehen auch von deutschem Boden aus.

Das Grundgesetz bestätigt das Friedensgebot des „Zwei plus Vier-Vertrags“: „Handlungen, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören“, sind verfassungswidrig.

„Im Grundgesetz, Artikel 102, steht auch der eherne Satz: „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“ Es ist verboten und verfassungswidrig, auf deutschem Boden oder von deutschem Boden aus eine Exekution zu vollziehen. Und es ist auch verboten und verfassungswidrig, Strafen ohne Gerichtsverfahren und ohne jedes rechtliche Gehör zu vollstrecken. Diese Verbote binden unmittelbar alle staatliche Gewalt in Deutschland. Und aus dieser Bindung ist kein deutsches Staatsorgan entlassen, wenn es US-Amerikaner sind, die diese Verbote verletzten. Es gibt keine Verträge mehr, die den USA quasistaatliche Reservatrechte in Deutschland verleihen.“ So Heribert Prantl in seinem SZ-Kommentar.

Schon im völkerrechtswidrigen Krieg gegen Saddam Hussein habe Deutschland die amerikanischen Militärs unterstützt. Desgleichen die Geheimtransporte der CIA, mit denen sie Gefangene in versteckte Foltergefängnisse brachte.

Prantl in mustergültiger Logik: „Entweder die Bundesrepublik ist nicht wirklich souverän und muss also fremdes rechtswidriges Handeln auf deutschem Boden dulden; dann ist sie arm dran – so wie zu Zeiten des Kalten Krieges, als

die USA hinter dem Rücken der Bonner Regierung mit anderen Nato-Verbündeten die Lagerung von Atomwaffen in der BRD vereinbarten. Oder die Bundesrepublik ist in voller Souveränität ein williger oder halbwilliger Helfer bei Straftaten und Menschenrechtsverletzungen; dann machen sich die deutschen Regierenden strafbar.“

Der Bundesrepublik wird vorgeworfen, die Menschenrechte auf internationalem Parkett immer weniger zu verteidigen. Die Beziehungen zu anderen Ländern ökonomisieren sich im selben Maß, wie sie sich ent-rechtlichen. Auch durch ungerechte Wirtschaftsbedingungen kann das friedliche Zusammenleben der Völker gefährdet werden.

Merkel wird angekreidet, Putins demokratiefeindliche Rechtlosigkeiten kaum noch zu kritisieren. Niemand fordert sie auf, von ihrem Freund Obama Rechenschaft zu fordern. Liebe erträgt alles, glaubt alles und erduldet alles. Merkel muss ihre Freunde ausschweifend lieben.

 

Neun Stunden lang wurden Occupy-Demonstranten von Hütern des Rechts eingeschlossen, damit die Bilder aus Frankfurt in Europa keine Revolution auslösen. Vorwand zur Einkesselung waren ein paar in die Luft geschossene Leuchtraketen. Martialisch gerüstete Polizisten stürzten sich auf friedliche Kapitalistenkritiker, prügelten sie und hebelten das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus. „Die Botschaft, die andere europäische Staaten zum Nachahmen veranlassen soll, ist klar: Protest ist unerwünscht und wird notfalls niedergeknüppelt.“ So Timo Reuter in der TAZ.

 

Man traut seinen Augen nicht. „Die Vernunft muss verteidigt werden“, steht schwarz auf weiß über einem ZEIT-Artikel von Evelyn Finger. Gibt es noch jemanden im Land der hirnlosen Grenzüberschreiter, der sich der Vernunft annimmt – oder wird unter der trügerischen Pose der Anteilnahme die Vernunft endgültig begraben?

Wogegen muss sie verteidigt werden? Zuerst fällt der Begriff Esoterik. Dann wird’s allgemeiner: Die Vernunft muss verteidigt werden gegen den „Glauben an alles Mögliche“.

Was hat Frau Finger gegen Esoterik? Sie sei eine „Verlockung für Individualisten.“ Vorsicht vor Verlockungen? Ist Vernunft nur saure Pflicht, keine erotische Verlockung? Nach Finger müssten Vernunft und Esoterik verfeindet sein –, obgleich man im täglichen Leben nichts davon bemerkt. Im Gegenteil. Die kühle Moderne glaubt immer mehr an Engel, Wunder und sonstigen Klimbim und fühlt sich dennoch rational bis zur Halskrause.

Ursprünglich waren sie auch nicht verfeindet, wie Finger feststellt, indem sie Platon zitiert, für den die „Heimat der Vernunft“ die „Heimat der Seele“ sei. Ist Gleichsetzen von Vernunft und Seele esoterisch oder vernünftig? Wir schwimmen im Brackwasser ungeklärter Begriffe.

„Der griechische Philosoph war von der Beseeltheit der Gestirne überzeugt, warb aber zugleich für vernunftgemäßes Handeln. Für ihn waren Glauben und Denken kein Gegensatz. Pythagoras glaubte an Seelenwanderung und formulierte doch mathematische Lehrsätze. Ein Faible fürs Übersinnliche findet sich später sogar bei den Begründern der exakten Naturwissenschaften. Der Physiker Newton verfasste Aufsätze über die Offenbarungslehre der Hermetik, die unter anderem auf den mythischen Götterboten Hermes zurückgeht. Die Astronomen Galilei und Kepler praktizierten Astrologie, eine Fächerkombination, die an mittelalterlichen Universitäten selbstverständlich gelehrt wurde. Sie alle betrachteten die Welt sowohl rational als auch esoterisch – der subjektive Weg eines Menschen zur Wahrheit und die objektive Betrachtung der Welt schlossen einander nicht aus, sondern ergänzten sich. Esoterik bedeutete einfach nur, andere Erkenntniswege zu beschreiten.“

Heißa, da fliegen die Brocken, dass man instinktiv das Genick einzieht.  

Vernünftig wäre es gewesen, erst zu definieren, was Vernunft ist. Solche Soliditäten widersprechen der Attitüde des täglichen Neuerfindens. Wenn Vernunft früher mit Esoterik identisch war – und Finger dies für richtig hält –, warum verteidigt die Autorin die Vernunft gegen die Esoterik? Müsste sie nicht zur Rückkehr in jene seligen Zeiten plädieren, in denen beide eine Einheit waren?

Ist Esoterik Glauben, ist Vernunft Denken? Bei Glauben denkt jeder an die Glaubensformen der hier herrschenden Erlöserreligionen. Unglaublich, aber wahr: die kommen im ganzen Artikel gar nicht vor. Die verschiedenen Beziehungsarten zwischen Vernunft und christlichem Glauben von schiedlich-friedlicher Verträglichkeit, Unter- und Überordnung bis zur Unverträglichkeit zwischen Weltweisheit und Gottesweisheit – werden nicht erwähnt. Der Artikel schreibt über ein Thema, das er vollständig ignoriert.

Man kann nur ahnen, was Vernunft und Esoterik für die Autorin sein könnten.

a) alles, was nach Seele riecht – esoterisch,

b) alles, was nach Vernunft riecht – na klar, vernünftig.

Wenn beide Instanzen natürliche Einrichtungen sind, kann Vernunft kein Widerspruch zur Seele sein. Das Seelische könnte ohne Schwierigkeiten Sitz der Vernunft, das Vernünftige die bewusst gewordene Seele sein. Eine Einheit von Widersprüchen kann nicht vorliegen, denn Widersprüche sind nicht zu sehen.

a) Dass für Platon Gestirne beseelt waren, bedeutete nichts anderes als: die ganze Natur ist ein lebendiger Kosmos und kein seelenloser Materiehaufen. Alles ist beseelt, Natur ist eine atmende, schöne Ordnung. Für die moderne Vernunft, die an eine gottlose Natur glauben muss, ist sie ein sündiger, kalter Schrotthaufen.

b) Vernünftiges Handeln ist kein Gegensatz zum Glauben an die beseelte Natur, denn Vernunft ist selbst bewusst gewordene Natur. Werben für vernunftgemäßes Handeln kann kein Widerspruch sein zum Glauben an beseelte Gestirne.

Pythagoras glaubte an Seelenwanderung, dennoch formulierte er mathematische Sätze? Ein Widerspruch?

Hängt davon ab, was man unter Vernunft versteht. Wenn Vernunft die Fähigkeit des Menschen sein soll, alles der freien Argumentation zu überlassen und nichts in einer tabuisierten Zone einzukesseln, müsste man nachforschen, wie der „Sektengründer“ Pythagoras in seiner Schule auftrat. Bezeugt ist, dass er eine absolute Autorität war und sein Urteil – „ER hat gesprochen“ – jede Auseinandersetzung beendete. Hier müsste man sagen, dass der Süditaliener eine Mischung aus rationalem Denker und „unfehlbarem“ Religionsgründer war. Die „Einheit“ aus Ratio und Unvernunft war eine äußerliche, keine echte Einheit. Heute sprächen wir von einem faulen Kompromiss oder einer zu glaubenden Einheit.

Keine Autorität, die mit intoleranter Unfehlbarkeit auftritt, kann eine Vertreterin der Vernunft sein. Vernunft verbietet keine Disputationen, sondern fördert sie. Auch wenn sie, wie Sokrates, der Meinung wäre, dass Streit um rein theoretische Dinge wegen grundsätzlicher Belanglosigkeit oder möglicher Unerkennbarkeit zu keinem sinnvollen Ende führen kann. Sokrates gebärdete sich nicht als oberste Autorität, an deren Wort man glauben musste. Selbst den Spruch des delphischen Orakels, er sei der Weiseste unter den Menschen, überprüfte er, indem er die Götter widerlegen wollte.

Zur Vernunft gehört Angstfreiheit vor einschüchternden Autoritäten und die Fähigkeit, deren Worte zu überprüfen. Theodor Gomperz, der Wiener Philosophiehistoriker: Die Hauptsache der sokratischen Methode sei die „Betonung des Rechtes der Kritik allem Herkommen und aller Autorität gegenüber, die Bewertung aller Einrichtungen, aller Gebote und Vorschriften auf Grund eines einzigen Maßstabes, ihrer durch Erfahrung und Vernunftüberlegung zu ermittelnden Einflusses auf menschliches Wohlergehen.“ (Griechische Denker Bd. II)

Jetzt kommen wir zu den Modernen und dem auftretenden „Faible fürs Übersinnliche“. Das Übersinnliche kann a) ein Übernatürliches oder b) ein Gegennatürliches sein. Ob Platons Ideen übernatürlich waren? Sie waren die idealen Urformen des Sinnlichen, ohne die das Sinnliche keinen Bestand und keine Struktur gehabt hätte. Zwar war das Sinnliche minderwertiger als das Ideale, dennoch gehörten beide Welten unlösbar zusammen.

Anders das Übersinnliche der christlichen Moderne. Es war das vollendete Göttliche, das in der Schöpfung nur einen zeitlich vorüberziehenden und bis aufs Blut verfeindeten Zusammenhang mit dem Sinnlichen eingegangen war, welches am Ende aller Dinge als das „Alte“ vollständig zerstört wird zugunsten einer neuen Schöpfung, die mit der alten nichts mehr gemein hatte.

Newton war rationaler Naturwissenschaftler von hohen Graden, der nichts behauptete, das er nicht mathematisch, experimentell, logisch beweisen oder argumentativ schlüssig machen konnte. Wenn er in seiner Freizeit das letzte Buch der Bücher, die Offenbarungslehre des Johannes, exegesierte, war er im Widerspruch mit sich selbst. Denn die der Vernunft zugängliche sinnliche Natur – und die nur der Offenbarung und dem Glauben zugängliche Übernatur waren inkompatibel. Hier war das Übersinnliche identisch mit dem Guten, das Sinnliche mit dem Bösen.

Der Physiker Newton hatte durch die Aufklärung die griechische Vernunft kennen und nutzen gelernt. Doch manche Teile seines kindlichen Glaubens blieben unbearbeitet. Newton war ein Abendländer in typischem Widerspruch zwischen heidnischer Vernunft und dem irrationalen Glauben an das unergründliche Wort Gottes.

Auch diese Einheit war nur eine deklarierte, innerlich zerriss sie den englischen Denker. Auch wenn er sich den Zwiespalt nicht bewusst machen konnte, weil dieser im christlichen Westen normal war. Massenneurose schützt vor Einzelneurose. Neurosen sind unerkannte Widersprüche, die uns das Leben sauer machen, weil wir ihnen nicht auf die Spur kommen dürfen, um uns von ihnen zu befreien. Sie stehen unter dem Tabugebot mächtiger Religionen.

Keine Rede, dass das Vernünftige und das esoterisch Übersinnliche sich „gegenseitig ergänzten“. Im Gegenteil, die unerkannten Widersprüche der Abendländer sind die Ursachen aller politischen Verwerfungen der Moderne. Abendland, dein Name sei: verdrängter und verleugneter Widerspruch. Noch Hegel glaubte, alle Widersprüche per dialektischem Abrakadabra weggeräumt zu haben. Kaum war er im Grab, fielen seine Jünger übereinander her, um sich die ungeklärten Widersprüche um die Ohren zu hauen.

Mit Gewalt werden im Westen jahrtausendealte Widersprüche koital zur Einheit gezwungen. Man kann sich nicht auf rationale Wirtschaftsgesetze berufen, gleichwohl die generelle Unerkennbarkeit derselben betonen, wie Hayek es tut.

Man kann sich nicht auf abendländische Werte berufen, gleichzeitig die Amoralität von Wirtschaft und Politik betonen.

Man kann nicht alle Utopien verbieten, gleichzeitig die Utopie eines maschinen-verpanzerten homo novus auf Biegen und Brechen verfolgen.

Man kann nicht Jesus als Freund der Armen predigen, gleichzeitig an das Ende aller Tage in einem edelstein- und goldgeschmückten Jerusalem glauben.

Man kann nicht an die Überlegenheit des Leidens glauben, gleichwohl das Leiden als Instrument zum absoluten Herrschen über die Welt anbeten: Gott ist in den Schwachen mächtig. Die Letzten werden die Ersten sein. Man kann keine hochmoralische Nächstenliebe predigen, die gleichwohl keine Schandtat ausschließen muss.

Man kann nicht den Menschen zum Zentrum der Natur erklären, gleichwohl die Natur bewahren wollen. Denn das Zentrum wird die Peripherie auffressen. Wenn der Mensch die Natur bewahren und erretten will, kann er unmöglich der Einzigartige und Unvergleichliche im Universum sein. Er ist ein Wesen unter vielen, vergleichbar mit allen und nicht wertvoller als Pflanzen und Tiere.

Subjektiv muss nicht esoterisch sein, sondern die Vorform des Objektiven. Die Hypothese, die durch eine allgemeine Prüfmethode bewiesen oder widerlegt werden will.

Welche Erkenntniswege besitzt die Esoterik, welche die Vernunft? Wenn Esoteriker blinden Glauben an ihre Wahrheiten fordern, hat sie Glaubens-, aber keine Erkenntniswege. An eine Ergänzung zwischen Vernunft und Glauben ist nicht zu denken. Sie verhalten sich wie Feuer und Wasser zueinander.

„Es ging darum, Glauben und Wissen beisammenzuhalten. Diese Einheit wurde infolge der Aufklärung auseinandergerissen – durch eine rationalistische Theologie (die jedes Erfahrungswissen ablehnt) und eine selbstherrliche Naturwissenschaft (die alles verbannt, was nicht mit ihren Methoden zu beweisen ist)“.

Sätze reinsten Unfugs. Eine rationalistische Theologie lehnte, insofern sie rational war, keinesfalls das Erfahrungswissen ab. Sondern nur, insofern sie Theologie war, die auf Offenbarung beruhte. Erfahrung war für orthodoxe Theologen minderwertiges und sündiges Wissen der Natur, das die Menschen eitel macht und von der ewigen Seligkeit ablenkt.

Eine „selbstherrliche“ Naturwissenschaft verbannte durchaus nicht alles als Humbug, was mit „ihren“ Methoden nicht beweisbar war. Das klingt, als könnte es beliebig viele Erkenntnismethoden geben. Wissenschaftler hätten ihre, Theologen wiederum ganz andere – und alle seien unter Gottes weitem Himmel gleichberechtigt.

Theologen haben überhaupt keine „Erkenntnismethoden“, sondern Glaubensmethoden. Wie anders wäre zu erklären, dass die Kirchen mit Feuer und Schwert alle Erkenntnisse der Wissenschaft bekämpft haben? Glaube oder geh zum Teufel: das war die Botschaft der Strenggläubigen.

Popper hat dem „Abgrenzungsproblem“ zwischen Metaphysik (= Glauben) und Wissenschaft viele Bücher gewidmet. Es versteht sich von selbst, dass heutige Medienschreiber es nicht mehr für nötig halten, sich umzuschauen, was andere zur Lösung bestimmter Probleme schon beigesteuert haben. Alles muss originalgenialisch dem eigenen Kopf entsprungen sein. Nach saurer Arbeit darf ein Artikel nicht riechen. Man will sich und die Leserschaft doch nicht langweilen.

Nach Popper erkennt man Wissenschaft an der grundsätzlichen Überprüfbarkeit ihrer Thesen. Wer Thesen vertritt, muss angeben, unter welchen empirischen Bedingungen sie falsch sein müssen. Unwiderlegte Theorien sind noch lange nicht absolut wahr, sie könnten in Zukunft untern besseren Bedingungen noch immer widerlegt werden. Das gilt allerdings nur für den Bereich der exakten Naturwissenschaften.

Geisteswissenschaften mit der Philosophie in ihrem Mittelpunkt können durch Experimente weder widerlegt noch exakt bewiesen werden. Dennoch sind nicht alle Katzen grau im Bereich des rationalen Umgangs der Menschen in der Gesellschaft. Es gibt Argumente und Erfahrungen. Es gibt methodische Streitgespräche zwischen verschieden denkenden Menschen, die als gleichberechtigte Menschen zu gelten haben.

Gewiss, zwischen unfehlbar Gläubigen gibt’s keine Auseinandersetzung auf der Agora. Die Priester der jeweiligen Offenbarungen stehen unsichtbar auf einer Kanzel, schauen auf die anderen herab und haben im Namen ihres allmächtigen Gottes immer Recht. Gegen Gottes Wort verfängt kein kümmerlicher rationaler Gedanke.

Um die Despotie der Unfehlbaren zu stürzen, haben die Griechen die Demokratie erfunden, in der um die Wahrheit gerungen und gestritten wird. Kann man sich nicht einigen, gilt das vorläufige Prinzip der Mehrheit. Vorläufig deshalb, weil die plausibelsten Argumente sich eines Tages doch noch durch Einsicht durchsetzen könnten. Das Mehrheitsprinzip ist Notbehelf bei Fragen, die durch Argumente noch nicht gelöst werden können. Jederzeit können sie der Debatte wieder zugeführt werden, um entweder eine rationale Lösung oder eine andere Mehrheit zu finden.

Goethe und Novalis in einen Topf zu werfen, als ob Klassik und Romantik eine Einheit wären, beweist den Zustand historisch kompletter Ignoranz. Zwar gibt es keine widerspruchslosen Klassiker und Romantiker, dennoch gilt für Goethe noch am meisten der Spruch: „verachte nur Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft, so hab ich dich schon unbedingt.“ Die romantiken Jüngelchen mit ihrer Feindschaft gegen Aufklärung und Vernunft, in ihrer Flucht in die papistische Religion, empfand der Weimaraner als kranke Gesellen.

Jetzt wird’s gnadenlos im Artikel: „Heute wird diese Esoterik von Profitmachern in ihr Gegenteil verkehrt. Es geht nicht mehr um die Erkenntnis dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, sondern um die Erforschung des eigenen Ego: Besonderheit erlangt mein Leben, indem ich mir ein Universum schaffe, dessen Mittelpunkt ich selbst bin. Die Esoterik ersetzt das Erlösungsversprechen der Religion durch das Versprechen der Selbsterlösung. Denn trostbedürftig sind wir noch immer. Mit der Aufklärung mögen wir unabhängiger geworden sein von religiösen Heilslehren, doch seit sich die metaphysische Verankerung des Christentums gelockert hat, boomen spirituelle Ersatzangebote.“

Die Erkenntnis dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, ist schon lange nicht mehr wissenschaftlich-rational, weil die Wissenschaftler erkannt haben, dass sie sich mit dem Erkennbaren begnügen müssen. Ob das Erkennbare auch das Innerste ist, darüber hat keine endliche Vernunft ein Mitspracherecht. Das Innerste klingt nach dem Stein der Weisen, dem theologischen Ableger der Offenbarung im Bereich des Materiellen. Der Stein der Weisen war das Gold, das die Alchimisten im Labor zu finden hofften, weil es der materiegewordene Gottessohn darstellen sollte.

Die Erforschung des eigenen Ego ist kein Widerspruch zur Erforschung der Welt. Sonst wäre jede Selbsterkenntnis auf der Couch eine esoterische Scharlatanerie. Erkenne dich selbst, ist kein Symptom der Egomanie, sondern selbstkritischer Bescheidung. Wer sich erkennt, erkennt sich nur im Spiegel des andern. Es verbindet Mich und Dich, indem es das Trennende und das Gleiche zwischen den Menschen aufzeigt.

Nicht das erkannte weltliche Ego ist Mittelpunkt der Welt, sondern das Ego des gottebenbildlichen Menschen, denn Gott ist der Mittelpunkt seiner Schöpfung. Das Versprechen der Selbsterlösung kann so esoterisch sein wie das Versprechen der religiösen Fremderlösung. Hier zeigt sich nun der wahre Unterschied zwischen Vernunft und Glaube. Vernunft verlangt seinen Lebenssinn allein von sich, der Glauben erwartet alles von Erlösern und Heilanden. Vernunft macht autonom, der Glaube unterwirft sich unmündig den Heilsversprechen von Priestern und Erlösern.

Trostbedürftig sind wir in der Tat immer, denn niemand ist autistisch vollkommen. Jeder Mensch benötigt die Zuwendung des Mitmenschen. Trostbedürftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit sind zwei paar Stiefel, denn letztere macht mich zu einer Marionette fremder Götter und Autoritäten. Just der christliche Glaube ist die Urform esoterischer Heteronomie. Wenn „Ersatzangebote“ das angebliche christliche Original ersetzen wollen, nennt man das demokratischen Pluralismus, das absolute Gegenteil einer alleinseligmachenden Theokratie.

Unbedingt zuzustimmen ist der Autorin, dass massenhafte Unvernunft ein Politikum ist. Eine Gesellschaft praktizierender Esoteriker wäre ein Ajatollastaat und der fanatischste Gegner der Demokratie, die nur dank der Vernunft ihrer BürgerInnen eine Überlebenschance besitzt. Vernunft ist das Element gleichberechtigter Demokraten, die sich im „edlen Wettstreit um die Wahrheit“ gemeinsam zu Menschen entwickeln wollen.

„Wenn all unser Denken nur noch um uns selber kreist, wenn das individuelle Wohlergehen zur höchsten Vernunft wird, verabschieden wir uns von der Verantwortung füreinander – und von der Nächstenliebe auch. Was übrig bleibt, ist ein Klub von Autisten, eine Gesellschaft mehr oder minder verrückter Egos.“

Die Autorin merkt nicht, dass sie genau den christlichen Kapitalismus kritisiert, dem sie in ihrem Artikel das Monopol der Erlösung zugeschrieben hat. In diesem Kapitalismus sorgt sich jedes Ich allein um seine eigene Seligkeit, die es am quantitativen Maß seines Wohlstands und Reichtums erkennen will.

Der Artikel verteidigt nicht die Vernunft, er opfert sie einer ausufernden Esoterik. Beispielhaft zeigt er, in welch seliger Ignoranz die heutige Edelschreiberzunft Themen okkupiert, denen sie in keiner Hinsicht gewachsen ist. In deutschen Medien ist Erleuchtung angesagt, keine überprüfbare Erkenntnis.