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Dienstag, 21. Mai 2013 – SPD mit eingebautem Suizidprogramm

Hello, Freunde der SPD,

nun ist sie 150 Jahre und hat ihren Tod unbemerkt überstanden. Als sie verboten war, war sie am stärksten. Seit sie erfolgreich ist, siecht sie dahin. Sie war am eindrucksvollsten, als ihre frühkapitalistischen Gegner Romantiker waren wie sie und Reste von Novalis im Herzen trugen: „Die Natur ist Feindin ewiger Besitzungen. Sie zerstört nach festen Gesetzen alle Zeichen des Eigentums Allen Geschlechtern gehört die Erde, jeder hat Anspruch hat auf alles.“

In der Tiefe ihrer Seele gaben die Neureichen den Sozialisten Recht. Doch die geheime Übereinstimmung taten die Erfolgreichen als „Romantik“ ab und ertränkten sie im Wettbewerb um die tüchtigste Nation der Welt.

Kurze Zeit nach Novalis hatte Romantiker Marx die Natur als Geburtshelferin der Gerechtigkeit entlassen und Geschichte als deren Erbin eingesetzt. Heilsgeschichte propagierte er im kuriosen Gewand von Naturgesetzen. Das musste scheitern, Natur kennt keine Heilsgeschichte.

Im Abendland war Heil als Feindin der Natur aufgetreten. Wo Natur war, soll Heil werden, war die Devise aller rechtgläubigen und gottlosen Heilsgeschichtsanbeter. Der komponierende Vorläufer eines sozialistischen Führers – pardon, eines national-sozialistischen Führers –, selbst gescheiterer sozialistischer Revolutionär, hatte Novalis zum Leitmotiv seiner Erlösungs-Opern gewählt: „Was die Natur geschaffen, die Menschen bebaut und zu fruchttragenden Gärten umgewandelt, es gehört den Menschen, den Bedürftigen und keiner darf kommen und sagen: Mir allein gehört dies alles, und ihr andern alle seid nur Gäste, die ich dulde, so lange es mir gefällt und sie mir zinsen, und die ich verjage, sobald mich die Lust treibt.“

Die Romantiker waren Gegner des Frühkapitalismus, obgleich es

in Deutschland fast noch keine Fabriken gab, die die blaue Blume im Äther mit rußigen Wolken einschwärzte oder den durchsichtigen Mühlenbach mit Abwässern vergiftete. Es waren Reaktionen auf den englischen Frühkapitalismus, den sie aus der Literatur kannten, verbunden mit einer Kritik an der „prosaischen Nützlichkeitstendenz“ der Aufklärung.

Die Aufklärer hatten noch keine großen Probleme mit dem Kapitalismus. Es gab ihn noch nicht. Für Adam Smith war der projektierte Kapitalismus ein Mittel, die Armut der Benachteiligten zu bekämpfen und den Nationen der Welt – und nicht nur England – Wohlstand zu bringen. Wirtschaft sollte angewandte Moral sein, kein amoralisches Unternehmen, das irgendwelchen „objektiven“ Gesetzen folgt und den Reichen den größten Gewinn einbringt.

Doch schon in der zweiten Generation der großen Kapitalismusdenker war‘s mit dem Wohlwollen gegenüber den Pöbelmassen aus. Fürs sexuell verwahrloste Volk sah Pastor Malthus nur gesetzmäßige Verelendung voraus. Zügellos zeugten sie Kinder, die sie mit ihrem „gerechten“ Lohn nicht mehr ernähren konnten. Ein gemeinsamer Anstieg des Wohlstands in allen Schichten war vorbei, bevor er begonnen hatte.

Entweder-Oder wurde das Leitmotiv der „pessimistischen“ Ökonomen. Es ist immer zuwenig da, um gerecht verteilt zu werden und was da war, gehörte den Reichen. Die Naturgesetze des Mammons sind nicht zu verändern und können nur wenigen Erwählten zugute kommen. Der große Rest guckt in die Röhre.

Die tatkräftigen und weltbeherrschenden Engländer hatten mehr Zutrauen zum Einzelnen als die seufzenden und leidenden Deutschen, die nicht mal ein einiges Deutschland zustande brachten und in allen Dingen hinterherhinkten. Von daher die unterschiedliche Bewertung des Individuums diesseits und jenseits des Kanals.

Wenn jeder egoistisch für seinen Vorteil arbeitet, wird die Summierung aller Vorteile zum gemeinsamen Wohlstand der Gesellschaft führen. Ein wohlverstandener Egoismus, der andere nicht beschädigt, war die Kritik des christentumskritischen Aufklärers Smith am dogmatischen Altruismus, der nur die Kirche reich machte und selbstschädigenden Altruisten den Ruin brachte.

Der Klerus hatte dem Volk Freigebigkeit als Nächstenliebe gepredigt und sich selbst als Nächsten präsentiert, der vom Obolus der Frommen profitieren sollte. Die Kirche wurde immer reicher, die Armen degenerierten zu Bettlermassen, die vom Klerus als flexible Hilfsarmeen benutzt wurden, um seine Interessen gegenüber den Fürsten durchzusetzen.

Dies alles wollte Adam Smith beenden und stützte sein Vertrauen auf eine vernünftige Arbeitsteilung, die durch gerechten Tausch rundum wohlständiger werden sollte. Selbstbewusste Individuen sollten in der Lage sein, a) ihr eigenes Leben zu führen und b) im Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Reichtum erwirtschaften.

Der Begriff Egoismus hatte bei Smith einen anderen Klang als bei den Deutschen, die unter Egoismus Fremdschädigung und unter Altruismus Selbstschädigung verstanden. Adam Smith hatte Egoismus und Altruismus nicht mehr als Widersprüche, sondern als kompatible Seiten derselben Medaille betrachtet. Wer für sich sorgte, konnte der Allgemeinheit nicht mehr zur Last fallen. Sein Egoismus entlastete die Gemeinschaft von der Pflicht, ihn durchfüttern zu müssen.

Vernünftiger Egoismus war kein Feind des vernünftigen Altruismus. Das Tun des Einen steht nicht im Widerspruch zum Tun des Anderen, die Arbeit aller Gesellschaftsmitglieder ergänzt sich zu einem Ganzen. Adam Smith hatte das weltfeindliche Entweder-Oder-Prinzip der christlichen Moral in eine vernünftige Kooperation verwandelt. Man muss den andern nicht übermäßig lieben, dessen Wohl dem eigenen Wohl nicht vorziehen, man muss nur alle Interessen als gleichwertig einschätzen, um Eigen- und Fremdinteresse zu einem einträchtigen Resultat zusammenzufügen.

Selbstliebe und Fremdliebe werden zwar nie „ganz gleichklingend“ sein, aber doch so harmonisch, dass der Nutzen aller gewahrt bleibt: und „das ist alles, was notwendig oder erforderlich ist“.

Wie kommt diese Harmonie unter Menschen zustande, die ihr eigenes Interesse dem Fremdinteresse vorzuziehen scheinen? Kein Mensch ist so selbstbezogen und eigensüchtig, dass er nicht die Fähigkeit hätte, sich in die Lage des Nachbarn zu versetzen. „Um diese Harmonie zustande zu bringen, hat die Natur die Zuschauer gelehrt, sich in Gedanken in die Lage des Betroffenen zu versetzen.“

Bei Adam Smith ist der Mensch kein Wesen, das zwischen fremdschädigender Selbstsucht und selbstschädigender Nächstenliebe zerrissen wäre. Der vernünftige Mensch hat das sündige Gespaltensein zwischen Dein und Mein überwunden. Das Interesse des Einen kann sich mit dem Interesse des Anderen verbinden, ohne sich selbst zu schaden.

Im Neuen Testament war jeder Mensch nur für seine eigene Seligkeit zuständig. Die Seligkeit des Anderen konnte er nicht fördern. Nicht mal die Seligkeit seiner Familie: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich oder wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.“ Nächstenliebe dient vor allem dem Nächstenliebenden. Mit Agape sammelt er Pluspunkte auf seinem himmlischen Konto. Am ewigen Schicksal des anderen kann Agape kein Tüttelchen ändern.

Dieses garstige Entweder-Oder der gemeinschafts-spaltenden christlichen Ethik war den Aufklärern ein Dorn im Auge. Sie hatten ein anderes Bild vom Menschen, der ein zoon politicon ist und für sich sorgt, wenn er für die Polis, für die Polis sorgt, wenn er für sich eintritt. Eine erbsündige Kluft zwischen meinem und deinem Interesse gab es für die Aufklärer nicht mehr.

Wenn Margarete Thatcher die Gesellschaft leugnet, befindet sie sich im Sog des Pfaffen Malthus, nicht auf dem Boden des Schotten Adam Smith. Nicht Smith, sondern Malthus und Ricardo haben sich im Neoliberalismus durchgesetzt. Marx beging den riesigen Fehler, sich auf die „pessimistische“ Ökonomie Ricardos als nur negatives Vorbild des Kapitalismus zu berufen, um sein nur positives Gegenbild des revolutionären Sozialismus dagegen zu stellen. Hätte er sich auf Adam Smith bezogen, hätte er ein reformfähiges Wirtschaftssystem vor Augen gehabt. Adam Smith hätte er nur immanent kritisieren müssen: ein konsistenter Adam Smith ist kein Befürworter der schlechten Wirklichkeit.

Doch Marx brauchte ein rabenschwarzes, nicht mehr reformierbares System, das er in Bausch und Bogen vernichten konnte, um sein engelgleiches Gerechtigkeitssystem dagegen zu halten. Die Story vom System war geboren: entweder in toto vernichten oder in toto akzeptieren. Dieses Entweder-Oder-System ist die Fortsetzung der Entweder-Oder-Moral des christlichen Dogmas. Es gibt nur Alles oder Nichts, nur Gut oder Böse.

Marx hat Adam Smith nicht ernst genommen, der Engländer war ihm zu moralisch. Als Repräsentant des unheilbaren Kapitalismus war er nicht verwendbar. Hätte Marx sich auf Smith bezogen, hätte seine kritische Arbeit darin bestanden, die internen Widersprüche des Moralphilosophen wahrzunehmen und auszugleichen. Eine Reform hätte genügt, um die vernünftigen Grundlagen von Adam Smith herauszuarbeiten. Auf Revolution zu setzen, wäre überflüssig und schädlich gewesen.

Dass heutige Neoliberale sich noch immer auf Smith beziehen, ist so einleuchtend, wie wenn moderne Astronomen sich auf das vorkopernikanische Weltmodell beriefen. Die berühmteste Stelle von Smith zeigt, dass er keinen seinsmäßigen Widerspruch zwischen meiner und deiner Tätigkeit sieht: „Gib mir, was ich wünsche und du bekommst, was du benötigst. Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe.“

Was Smith hier mit großen Worten formuliert, ist das Trivialste vom Trivialen, das jedes Kind in der Familie lernt: jeder macht, was er kann und leistet seinen Beitrag zum Wohl der ganzen Familie. Das ist alles. Die Verwendung der großen Worte Menschen- und Eigenliebe hat nur für Missverständnisse gesorgt. Ganz offensichtlich hat Smith sein antikirchliches Ressentiment zum Ausdruck bringen wollen. Als wollte er sagen: Hört auf, Leute, euch im Sinne der Kanzelredner zu verhalten. Sie predigen Nächstenliebe, um euch eure Liebesgabe für ihre eigensüchtigen Zwecke aus der Tasche zu ziehen. Und sie verdammen die Eigenliebe, damit sich niemand traut, der Kirche den caritativen Obolus zu verweigern.

Wenn ich beim vernünftigen Tausch erhalte, was „ich wünsche“ und du bekommst, was „du benötigst“, bleiben keine Wünsche und Bedürfnisse offen. Auf der Grundlage dieser Ich-Du-Harmonie hätte der heutige Raubbau-Kapitalismus nie errichtet werden können. Es gehört zu den Grundfälschungen der modernen Ökonomie, dass sie sich auf Männer beruft, die etwas anderes im Sinne hatten als Hayek, Greenspan und Bill Gates. Adam Smith weist gravierende Mängel auf. Gleichwohl ist sein Gesamtwerk keine Legitimation für das darwinsche Prinzip: friss oder stirb.

Die nüchterne Verständigkeit des schottischen Stoikers war im hinterwäldlerischen Deutschland unbekannt. Zumal die Romantik das Niveau Kants durch Rückkehr zum christlichen Credo unterlaufen hatte. Kant war ein aufmerksamer Leser von Smith gewesen. Doch die Romantiker verwarfen seine „englische Nüchternheit“ und fielen zurück ins christliche Schwarz-Weiß: entweder eigenschädigend den Nächsten lieben oder fremdschädigend sich selbst lieben.

Die Ethik des Novalis war klerikal kompatibel. In den Worten von Rudolf Haym: „Es versteht sich, dass unser Romantiker Novalis dem Prinzip des Eigennutzes, nach welchem der preußische Staat „als Fabrik verwaltet worden“, gründlich abhold ist. Uneigennützige Liebe im Herzen und ihre Maxime im Kopf, das ist nach ihm die alleinige, ewige Basis wie der ehelichen, so der Staatsverbindung, die in Wahrheit nichts anderes als eine Ehe ist.“

Demokratie als Staatsform einer streitigen Gesellschaft lehnte Novalis ab. Der ideale Staat war für ihn eine große Harmonie: „Ein Herr und eine Familie.“ Könnte man das englische Smith-System etwa so formulieren: wenn jeder für sich selber sorgt, ist für jeden gesorgt, wäre das deutsche Novalis-System so zu beschreiben: Wenn jeder sich für den andern opfert, ist für jeden gesorgt. Auf den ersten Blick kein großer Unterschied: Hauptsache, für jeden ist gesorgt. Ob durch prinzipielle „Eigenliebe“ oder durch flächendeckende „Fremdliebe“.

Doch näher besehen gibt’s gewaltige psychologische Differenzen, die für erhebliche politische Unterschiede sorgen. Die Sorge für den Nächsten ist im Novalis-System immer selbstschädigend. Den Anderen muss ich auf meine Kosten versorgen. Das hinterlässt Ressentiments, die auf Dauer den gesellschaftlichen Zusammenhang empfindlich stören könnten.

Im Adam Smith-System muss ich weder mich noch den andern schädigen. Indem ich autonom tue, was ich kann, um mich selbst zu versorgen, kann ich selbst am besten überprüfen, wozu ich fähig bin.

Im Altruismus bin ich immer auf Rückmeldung des Anderen angewiesen, der mir sagen muss, wie meine selbstschädigende Liebe bei ihm angekommen ist. Ich lege die Überprüfung meiner Person in fremde Hände.

Nur wenn ich zuerst für mich selber sorge, bin ich in der Lage, mir eine unabhängige Position zu schaffen: eine wesentlich bessere Grundlage zur gesellschaftlichen Kooperation als Angewiesensein auf fremdes Sichaufopfern. Menschen sind selbstbewusster und stolzer, wenn sie ihre Leistungen selbst einzuschätzen lernen und mit dem Nächsten nicht allzu distanzlos verknüpft sind – wie es im Falle des Novalis-Systems der Fall wäre.

Wenn in einer Familie jeder nur die Pflichten des Anderen täte anstatt seine eigenen, würden bald alle Mitglieder der Familie übereinander herfallen und sich gegenseitig hassen – weil sie keine Distanz mehr haben, maximal voneinander abhängig sind und sich nicht frei entwickeln können. Das demokratische Smith-System verschafft jedem Individuum maximale Distanz zum Anderen, denn jeder kann sich maximal selbst versorgen. Im Novalis-System – ein Volk eine Familie – muss jeder darauf warten, dass der andere sich um ihn kümmert. Jede gesunde Distanz geht verloren. Das Ganze wird zu einem zwanghaften Einheitsklumpen.

Diese verschiedenen Muster kennen wir aus der Psychologie der Familien. In der überfürsorglichen Familie, wo jeder jeden maximal betüttelt, wird jedes Mitglied unselbständig. In einer konfliktfreudigen Familie hingegen hat jeder gelernt, möglichst für sich selbst zu sorgen – und diese Selbstsorge freiwillig in den Dienst des Ganzen zu stellen.

Selbstbewusste Menschen erkennt man daran, dass sie unabhängig von ihren symbiotischen Partnern ihre Dinge verrichten können. Unselbständige erkennt man an ihrer Hilflosigkeit, wenn sie allein sind und ihrem Angewiesensein auf komplementäre Ergänzung.

Mit diesem kontinentalen Unterschied zwischen England und Deutschland waren zukünftige Konflikte zwischen beiden Staaten vorprogrammiert. Die symbiotisch klammernden Deutschen empfanden sich stets kapitalismuskritischer als ihre angelsächsischen Cousins, die selbstbewusste Individuen und Weltherrscher zustande brachten.

Das deutsche Novalissystem endete im faschistischen Klumpensystem: ein Volk, ein Land, ein Führer. Die unselbständigen Untertanen waren auf starke Führung angewiesen, von der sie sich kritisch nicht lösen konnten. Die selbstbewussten Angelsachsen übertrieben ihre individuelle Abgrenzung gegenüber Mitbürgern und verfielen dem Naturgesetz der Starken: jeder für sich, die Letzten beißen die Hunde. Auch bei ihnen erschien eine Neuformation des Entweder-Oder, wenn auch in umgekehrter Form der uneigennützigen Fremdenliebe: in fremdschädigender Eigenliebe, die nur auf eigene Interessen achtete und die Rivalen ihrem Schicksal überließ.

Das war die Geburtsstunde des Neoliberalismus mit der Rivalität jeder gegen jeden. Sind die Deutschen in der Gefahr, übermäßig zu klumpen und dem Einzelnen zu wenig Freiraum zu gönnen, sind Angelsachsen in der Gefahr, aus lauter Eigeninteresse das Gesamtinteresse zu vernachlässigen und die Auflösung der Gesellschaft zu riskieren.

Was hat dies alles mit der SPD zu tun? Bis heute hat sie es nicht geschafft, die Grundprobleme des Kapitalismus scharf zu analysieren und eine Alternative zum Kapitalismus zu entwerfen, die gerade sie entwerfen müsste, weil sie als Kritikerin des bestehenden Machtsystems auftritt.

Die Konservativen können schwammig sein wie Angela Merkel, im Zweifel ist ihre politische Agenda identisch mit der faktischen Realität. Die Kritiker hingegen müssen eine komplette Alternativliste zur bestehenden Gesellschaft entwickeln. Sonst können sie keinem Wähler erklären, warum er den Herausforderer und nicht das vorhandene Machtsystem wählen soll. Letzteres kennt er, das erste ist ihm unklar. Zumal die Herausforderer sich ständig widersprechen und selbst nicht wissen, wo sie hinauswollen.

Bei allen ledernen Pflichtäußerungen zu den Grünen: wenn der Wähler wieder „falsch“ wählt – was er mit Garantie tun wird – bleibt für die SPD nur wieder die Große Koalition mit der männermordenden Mutter Merkel. (Der letzte intakte Mann an ihrer Seite, Musterbeamter de Maiziere, demontiert sich auch schon.)

Der Hauptwiderspruch der SPD ist der zwischen pragmatischem Alltagsreformismus und verdrängter marxistischer Revolutionspflicht. Ist das System ein Entweder-Oder- oder ein Sowohl-Als auch? Ständig lavieren sie zwischen großen Sprüchen und läppischen Kompromissen. Mit dem Kopf verteidigen sie die demokratische Kompromisslerei, gefühlsmäßig fühlen sie sich ständig als Versager, weil sie keine Systemänderungen zustande bringen.

Nehmen wir Bebel, einen der Urväter der Proletenpartei, die heute keine Proleten mehr kennt: „Ich bin, meine Herren, das wissen Sie alle, ein entschiedener Gegner dieses Systems, ich bekämpfe es mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln und kann nicht anders ein Heil für das Volk selbst erblicken, als bis dieses System in Grund und Boden zerschlagen und zertrümmert ist.“ Bebel, der marxistische Entweder-Oder-Revolutionär. Das war seine Vision. Doch wie sah seine Wirklichkeit als gewählter Parlamentarier aus?

„Ach, diese kleinlichen Gesichtspunkte, diese Engherzigkeit, diese Schüchternheit, dieses ewige Beruhigen, Temporisieren, Dimplomatisieren, Kompromisseln!“, rief der „Arbeiterkaiser“ 1903 in Dresden aus.“ Das Kompromissbilden lehnte er emotional ab, weshalb seine Akzeptanz der Demokratie keine Herzensangelegenheit sein konnte. Demokratie war nur die instrumentelle Übergangschance zu etwas weitaus Besserem. Nur zu was?

Helmut Schmidt verkörpert die Fraktion der knochenharten Realisten, Willy Brandt die der schwammigen Visionäre. „Mehr Demokratie wagen“, ist so aussagekräftig wie das Pfadfindermotto: Jeden Tag eine gute Tat. Auch Augstein in seinem SPIEGEL-Kommentar ist nur gefühlsmäßiger Revolutionär. Wehe, die SPD würde tatsächlich „total-alternativ“ denken. Sofort würde er ihr Utopismus vorwerfen. An den Grundproblemen der SPD geht er desinteressiert vorüber.

Die SPD muss untergehen, denn sie hat ein eingebautes Selbstmordprogramm in ihrer Parteidoktrin. Jeder erfolgreiche Proleten-Karrierist soll den Aufstieg wagen. Mit anderen Worten, seine Basis verlassen und zu den Eliten übergehen – wo er nie ankommen wird. Steinbrück und Gabriel hängen immer zwischen den Seilen und wissen nicht, wohin sie gehören. Das flotte Mundwerk und die Sektmanieren von oben – und die Pflichtsprüche für die Basis unten, die sie verachten, wenn sie nicht den Aufstieg schafft.

Nicht nur Schröder hasst die eigene Klientel, der er Hartz 4 verordnen musste, damit sie ihre Faulheit bekämpfen kann. Die Arrivierten der SPD sind wie Luftpflanzen. Sie gehören nicht nach oben und schon lange nicht mehr nach unten. Sie ähneln missratenen Proleten-Klonen aus dem Labor der unvereinbaren Marx, Bernstein, Wehner, Brandt, Schmidt, Steinbrück und Wiesehügel. Wer erfolgreich ist, soll seine gewohnte Umgebung verlassen, seine familiäre und soziologische Herkunft diskreditieren.

Erfolgreiche SPDler sind wie erfolgreiche große Brüder aus armem Haus, die gerne ihre Familien vorweisen würden. Allein, sie sind nicht präsentabel in den neuen Kreisen. Werde erfolgreicher Prolet, heißt: werde kein Prolet, sondern ein Parvenu wie Schröder mit Zigarren oder ein Steinbrück mit Kavalleriesprüchen.

Eine eindrucksvolle Milieuschilderung der heutigen Proletenszenerie in der BLZ von Maxim Leo und Rudolf Novotny:

Die ersten Proletengenerationen haben noch bildungshungrig gelernt und dicke Bücher über Staat und Wirtschaft gelesen. Abends sangen und musizierten die Familien. Sonntags gingen sie gemeinsam in die Natur.

Heute sind die Unterschichtsfamilien zerrüttet. Oben angekommen, wird der erfolgreiche Karrierist seine Familie nur noch aus PR-Gründen kontaktieren. Ich stamme aus einer armen Tagelöhnerfamilie. Die kleinen Geschwister mussten die Kleider der Älteren auftragen. Nicht jedes Kind hatte ein Bett für sich.

Es ist so sicher wie das Amen im Gebet: was die SPD Merkel heute vorwirft, wird sie morgen problemlos in einer großen Koalition mittragen.

„Glück Auf, Glück Auf, der Steiger kommt,
und er hat sein helles Licht bei der Nacht,
und er hat sein helles Licht bei der Nacht,
schon angezünd´t, schon angezünd´t.

Die Proleten sind kreuzbrave Leut´,
denn sie tragen das Leder vor dem Arsch bei der Nacht,
denn sie tragen das Leder vor dem Arsch bei der Nacht,
und saufen Schnaps, und saufen Schnaps.

Die letzte Schicht, das glaub´ ich einfach nicht,
warum steh´ ich hier jede Nacht am Schacht,
und St. Barbara hält für uns die Wacht,
passt schön auf uns auf,
Glück Auf, Glück Auf.“

Nichts gegen Saufen. Doch das Arschleder vor dem Gehirn verhindert die freie Sicht aufs System – wenn die heilige Barbara die Wacht halten muss.