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Mittwoch, 17. April 2013 – Boston

Hello, Freunde der Arbeitnehmer,

der Vormarsch gewisser Denkmaschinen „verwischt die Grenzen von Arbeit und Freizeit.“ Den Pulitzerpreis für diese herrliche Formulierung! Die man in juristischem Korrektdeutsch Freiheitsberaubung in Tateinheit mit Erpressung und schwerem Raub, in Proletendeutsch Ausbeutung, in Kiezdeutsch eine fortlaufende Sauerei nennen würde.

Man stelle sich einen esoterisch gewitzten Handtaschendieb beim Richter vor. Ich wusste nicht, was mir geschah: die Grenze zwischen Mein und Dein verwischte sich geheimnisvoll.

In historisch angereichertem Soziologendeutsch könnte man von vollendeter Sklaverei sprechen: Malochen ohne eine einzige Sekunde freie Zeit. Jeder dritte Arbeitnehmer ist rund um die Uhr von seinem Arbeitgeber – also Freizeitnehmer – erreichbar. Drei Viertel aller Freiheitsgeber sind teilweise von ihren Freiheitsnehmern erreichbar. (Die WELT) Die vollendete Sklaverei ist die, die sich als vollendete Freiheit präsentiert.

Entwarnung: der Trend wird umgekehrt. Von der Leyen schlägt ein Gesetz vor, nach dem alle malochenden Väter und Mütter rund um die Uhr von ihren Kindern erreichbar sein müssen. Dank der neuen Elektronik dürfen Kinder, wenn immer sie Sehnsucht nach ihren Eltern haben, sich per Handy bei ihnen melden, und sich ihres psychischen Beistands versichern. Selbst mitten in wichtigen Konferenzen haben Eltern primär für ihre Kinder da zu sein.

Wissenschaftlich seriöse Untersuchungen haben einwandfrei ergeben, dass auch Kinder Menschen sind. Die Initiative des Arbeitsministeriums beruht auf der Devise: nicht nur

samstags gehört Papi mir, sondern rund um die Uhr. Von der Leyen ist Mutter von sieben Kindern, bei ihr klingelt ununterbrochen das Handy.

 

Der Westen befindet sich im Krieg. Mit allen Mächten dieser Welt, die sich seinem Heilsweg entgegen stellen. Etwa 166 Männer sitzen seit 11 Jahren in Guantanamo, etwa 43 von ihnen befinden sich seit drei Monaten im Hungerstreik. Die US-Justiz erhob bislang gegen keinen dieser Männer Anklage. Juristischer Beistand, Grundstandard aller Rechtsstaaten, wird den Häftlingen mit der Begründung verweigert, sie seien „irreguläre ausländische Kämpfer“.

Aus amerikanischer Sicht gibt es Menschen, die keine Menschen sind, weil man ihnen grundlegende Rechte verweigert.

Andreas Zumach in der TAZ: „Zugleich verhinderten die USA aber auch Besuche dieser Kriegsgefangenen durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) gemäß den Bestimmungen der Genfer Konventionen. Viele der Gefangenen wurden grausamen Verhörmethoden unterzogen und gefoltert. Derartige Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsverstöße kennt man sonst nur aus Unrechtsstaaten und Diktaturen. Hauptverantwortlich dafür sind nach Expräsident Bush seit inzwischen vier Jahren sein Nachfolger Obama und der Kongress in Washington.“

Nicht nur die USA, der gesamte Westen trage Mitverantwortung für die Barbarei gegen nichtwestliche Menschen. Nicht nur überließen westliche Länder ihre Flughäfen für die illegalen Entführungsflüge der CIA, zudem lehnten sie es ab, Häftlinge, die nach Meinung der USA unschuldig waren (!) und keine Chance auf Rückkehr in ihre Heimatländer hatten, zu übernehmen.

Nicht nur der böse Dabbelju ist der Schurke, sondern auch die leicht eingetrübte Lichtgestalt Obama. Die FAZ schreibt über den illegalen Drohnenkrieg Obamas:

„Obama hat den Drohnenkrieg nicht nur in Afghanistan und in Pakistan, sondern auch in Staaten wie dem Jemen, Somalia und später auch in Libyen intensiviert. Allein im Westen und Nordwesten Pakistans sollen bis Juli 2012 bei mehr als 300 Drohnenangriffen zwischen 1600 und 2400 Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer getötet worden sein. Wie viele Frauen, Kinder und Alte dabei umkamen, weiß niemand.“

Ein Terrorexperte behauptet, mindestens 16% aller Getöteten seien zivile Opfer. Ein konservativer amerikanischer Kolumnist befindet, dass Obama einer „sonderbaren“ Ethik folge: „Er sei „Ankläger, Geschworener und Scharfrichter in einem, und er vollstreckt Todesurteile an unsichtbaren Kämpfern seiner Wahl sowie an Unschuldigen gleich dazu, die sich zufällig in der Nähe befinden“. Charles Krauthammer hat dafür den Ausdruck geprägt: „Mord per Fernbedienung“. (Matthias Rüb in der FAZ)

Über Guantanamo und terroristische Drohnenopfer keine kritischen Bemerkungen unserer Regierung. Deutschland gehört zum Westen und steht fest auf der Basis abendländischer Werte.

Nun sind in Boston beim Marathonlauf zwei Bomben explodiert und haben zwei Todesopfer und viele Verletzte gefordert. Deutsche Medien und die deutsche Regierung, überidentisch mit Amerika, überschlagen sich, um ihren Abscheu vor diesem „feigen, menschenverachtenden, abscheulichen“ Verbrechen zu bekunden. Die ZEIT: „Angriff auf das liberale Herz“. Die SZ: „Anschlag auf Amerikas Selbstbewusstsein“. Ausgerechnet bei einem Volksmarathon! Ausgerechnet an einem patriotischen Gedenktag! schäumt es in allen Kommentaren.

Es ist immer misslich, die Zahl der Opfer zu vergleichen. Gemessen an der riesigen Zahl von Toten anderer Länder ist Boston ein fast Nichts. Über Obamas terroristische Verbrechen hören wir nicht: ausgerechnet unschuldige Frauen und Kinder, ausgerechnet harmlose Zivilisten.

Sollten die Täter Gegner des Westens sein, ist die Tat eine Rache an den Untaten des Westens. Auge um Auge? Die Asymmetrie der Opferzahlen ist riesig. Wenn im Irak mit einem Attentat 40 bis 50 Menschen getötet werden: nur eine kleine Notiz in unseren linientreuen Gazetten. Ein auserwählter Westler wiegt Tausende Ungläubiger auf.

Amerika befindet sich im Krieg, will aber vom Krieg im eigenen Land nicht behelligt werden. Sie wollen sich unverwundbar fühlen. In Gods own country muss jeder Wiedergeborene in Abrahams Schoß sitzen. Wenn schon tote Soldaten, dann sollen sie fern in der bösen Heidenwelt zu Tode kommen.

Wenn ihre Boys verletzt und psychisch ruiniert zurückkehren, müssen sie sich im eigenen Land verstecken. Sie werden schäbig behandelt, verdrängt und vergessen. Helden, die verlieren, haben ihrem Land Unehre eingebracht. Zur göttlichen Strafe müssen sie als Krüppel in New Yorks Untergrund verenden.

Der Westen erhebt den höchsten moralischen Standard der Welt: Bergpredigt, das Hohe Lied der Liebe. Gleichwohl verstößt er ununterbrochen gegen seinen eigenen Standard – in den Augen der Welt. Nicht in seinen eigenen Augen. Denn die Frommen des Westens folgen Augustin und Luther: liebe und tue was du willst. Sündige tapfer, nur glaube. Die Freiheit des frommen Willens ist durch keine moralische Skrupulosität begrenzt. (Das ist übrigens die Geburtsstunde der unbegrenzten amoralischen Freiheit des Neoliberalismus.)

Wie Gott sich durch keine moralische Vorschrift einengen lässt, so seine auserwählten Jünger. Gott ist seinen eigenen Gesetzen nicht untertan, entschieden die „Voluntaristen“ (voluntas = Wille) im Hochmittelalter. Voluntaristen waren Vorläufer des Willens zur Macht von Nietzsche, dem keine Brutalität verboten war, um der Welt seinen Übermächtigungswillen aufzuzwingen.

Da die Christen überzeugt sind, nach himmlischer Version zu lieben, dürfen sie, gedeckt von unzähligen Stellen ihrer Heiligen Schrift, ihre Nächstenliebe in Form von Tod und Verderben über die Welt bringen. Sie lieben, wenn sie töten; sie töten, wenn sie lieben. Der Welt erweisen sie Gutes, wenn sie erobern und verwüsten. Sie bringen Heil und Segen, wenn sie wie apokalyptische Reiter den Planeten in Stücke reißen.

Im hohen Mittelalter wurde die theologische Theorie von der doppelten Wahrheit und der doppelten Moral entwickelt. Das war eine Reaktion auf die inzwischen bekannt gewordene Moral der Griechen, die diesen doppelten Standard nicht hatte. Das lag daran, dass die Philosophen über alle Fragen dieser Welt, auch über Moral, mit scharfen logischen Waffen stritten und die Widersprüche der Gegner mit Lust aufspießten. In heiligen Bezirken wird weniger debattiert. Da wird offenbart – und jede Opposition der Menschen im Keim erstickt.

Hiob war einer der Letzten, der noch seinen Verstand einschaltete und den Schöpfer auf seine Widersprüche hinwies. Das bekam ihm nicht gut. Gott wetterte aus dem Himmel: „Hiob, gürte wie ein Mann deine Lenden (Lenden ist die verschämte deutsche Übersetzung für das wichtigste Körperteil des Mannes. In Normaldeutsch übersetzt etwa: Jetzt zeig mal, Hiob, wer von uns beiden den Längsten hat). Willst du gar mein Recht vernichten, mir Unrecht geben, dass du Recht behaltest?“ ( Altes Testament > Hiob 40,2 f / http://www.way2god.org/de/bibel/hiob/40/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/hiob/40/“>Hiob 40,2 f)

In der Tat, das wollte der aufmüpfige Hiob. Will man mit jemandem Streit streiten, sollte man Recht haben wollen, indem man beweist, dass der Andere Unrecht hat. Wer das nicht will, sollte demütig die Klappe halten, der Herr wird’s ihm vergelten.

Nicht so beim Höchsten, sein Name sei gepriesen. Schon der Versuch, Ihn zu widerlegen, ist Blasphemie und endet übel – wenn man nicht rechtzeitig den Rückzug antritt und seine Opposition in Sack und Asche bereut. Ein Kapitel später erleben wir die heilige Verwandlung des Logikers Hiob in den bedingungslos gehorsamen Gläubigen Hiob:

„Und Hiob antwortete dem HERRN und sprach: Ich erkenne, daß du alles vermagst, und nichts, das du dir vorgenommen, ist dir zu schwer. „Wer ist der, der den Ratschluß verhüllt mit Unverstand?“ Darum bekenne ich, daß ich habe unweise geredet, was mir zu hoch ist und ich nicht verstehe. „So höre nun, laß mich reden; ich will dich fragen, lehre mich!“ Ich hatte von dir mit den Ohren gehört; aber nun hat dich mein Auge gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche.“

Das war die letzte Pseudodebatte in der Bibel. Danach ging nichts mehr. Jesus gab sich nicht mit Streitgesprächen ab. Als Sohn Gottes partizipierte er an der Allwissenheit seines Vaters (auch wenn er in seiner irdischen Laufbahn noch nicht alles wusste). Als er von den Hohepriestern angeklagt wurde, sagte er – nichts.

Als Sokrates vom Athener Volksgericht angeklagt worden war, stritt er mit seinen Anklägern bis aufs I-Tüpfelchen und behauptete dreist und unverschämt, dass er Recht hatte. Nicht nur das. Für seine demokratiestärkenden Taten forderte er nichts weniger als eine offizielle staatliche Anerkennung und Aufnahme in den Ältestenrat.

Was tut Jesus? Als Pilatus ihn auffordert, die Vorwürfe seiner Ankläger zu widerlegen, sagte er – nichts. „Und er antwortete ihm auch nicht auf ein einziges Wort, sodass der Statthalter sich sehr verwunderte.“ ( Neues Testament > Matthäus 27,11 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/27/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/27/“>Matth. 27,11 ff)

(So viel zu den Thesen des Philosophen Volker Gerhardt, der dem Erlöser eine exzellente Öffentlichkeitsarbeit konzedierte: von allen deutsch-christlichen Medien widerspruchslos übernommen und verbreitet. Öffentlichkeitsarbeit ist Denkarbeit auf der Agora, keine Golgatha-Inszenierungen in Oberammergau.)

Bei Johannes wird Jesus deutlicher, als ihm Pilatus seine Dialogunfähigkeit vorhält: „Mir stehst du nicht Rede?“ Nun kommt das typisch männliche Droh- und Imponierverhalten auf beiden Seiten. „Weißt du nicht“, fragt der Römer, „dass ich Macht habe, dich zu kreuzigen“? Da kommt er gerade an den Rechten. Jetzt zeigt sich die wahre Macht des schwachen kleinen Jesulein: „Jesus antwortete: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben herab gegeben wäre.“

Wer die größte Macht hat, hat auch die besten Argumente. Dies ist noch immer die ideologische Basis der vielen schrecklichen Talkshows im deutschen Vaterland. Im Geschwätzturnier siegt, wer die größte Klappe hat. (Gestern Abend bei Krawallschachtel Maischberger ihre Schwester im Krawall: Alice Schwarzer)

Gegen die Allmacht des Pantokrators ist die römische Macht ein Fastnichts. Für mediale Meinungsführer in deutschen Landen ist es unerträglich, wenn einer, der nicht ihrer Zunft angehört, frech darauf beharrt, solange Recht zu haben, bis er widerlegt ist. Die Edelschreiber haben Macht über die Öffentlichkeit. Da hat man nicht mehr nötig, logisch zu deduzieren oder über eine Sache Bescheid zu wissen. Lasset euch genügen an ihren – windigen – Meinungen.

In dieser Hinsicht ist die Erfindung des Internets eine Wiederholung der lutherischen Opposition gegen die Priesterkaste, die sich anmaßte, zwischen Himmel und Erde zu vermitteln. Im Sturmwind des Demos ist das elektronische Volk auf gleicher Höhe mit sich selbst und kann auf lächerliche Vermittlerschreiber verzichten.

Gott kann sagen, was er will: er hat immer Recht. Auch wenn er sich widerspricht. Was er leidenschaftlich, oft und gern tut. In jeder Zeile seiner Heiligen Schrift mindestens zweimal.

Die neue Bekanntschaft mit der griechischen Logik war ein Urereignis für die mittelalterlichen Theologen. Sie ermöglichte es ihnen, die Bibel ganz neu und kritisch zu lesen. Was sie aber in hohe Nöte brachte, denn ihre Kritik wurde von ihren Priester-Vorgesetzten mit brachialer Zensur niedergemacht. Nur im geschützten, nach außen abgeschirmten Revier der Universität, durften sie – als kanalisiertes Dampfablassen – akademische Debatten führen, schon mal den advocatus diaboli spielen und kesse Thesen aufstellen. Kamen sie in Amt und Würden, hatte das Spiel ein Ende.

Den Zwiespalt zwischen ihrem „griechischen“ Denken und ihrem christlichen Glauben fassten sie in die Theorie der doppelten Wahrheit: es gibt eine Weisheit der Welt und eine inkompatible Weisheit Gottes. Auf Erden ist der Widerspruch nicht zu lösen, im Jenseits wird der Herr alle Rätsel auflösen.

Dasselbe galt für moralische Fragen. Im Prinzip sollte man die Welt lieben. Da sie aber noch in Händen des Teufels liegt, muss sie schon mal härtere Bandagen anlegen. Weil Gott und die Seinen über alle Widersprüche erhaben sind, gelten für sie keine logischen Regeln oder eindeutige moralische Gesetze. Auserwählte stehen über allen Gesetzen.

Dies nannten die Experten Antinomismus (= gegen das Gesetz). Luther schrieb sogar eine Streitschrift „Wider die Antinomer“, blieb aber selber einer. Obwohl er wortgewaltig über die Liebe schreiben konnte, hatte er keine Probleme, Juden und Bauern der Obrigkeit ans Messer zu liefern. (Einem hessischen Fürsten, der ihn politisch unterstützte, erlaubte er – in einem Geheimgutachten – eine Ehe zu Dritt. Für Gottes Kinder sind Gesetze dazu da, dass sie gebrochen werden.)

Was hat das Ganze mit dem Bombenanschlag in Boston zu tun? Sollten die Täter Gegner des Westens sein – dessen Kapitän Amerika ist –, ist der Anschlag ein scharfer Protest gegen die Doppelmoral westlicher Jesuaner. Sie wollen der Welt Liebe bringen, kommen aber mit Tod und Verderben.

Würde der Westen gradlinige Humanität verbreiten, hätte er die Welt moralisch längst angesteckt. Sein authentisches Vorbild wäre so ansteckend wie einst Alexanders Hellenismus ansteckend gewesen ist. Selbst Alexanders Erbin, die pax romana, war für viele eroberte Länder ein ersehntes Friedensreich. Pure Gewalt hätte dieses Riesenreich nicht so lange zusammengehalten.

Anstatt den Bombenanschlag in chauvinistischer Selbstgerechtigkeit zu dämonisieren, sollte er als Anlass genommen werden, die eigene Unglaubwürdigkeit zu sezieren. Der Hass auf den bigotten Westen hat Ursachen. Warum ist der Westen unfähig, seine Heuchelei zu sehen? Weil er nicht heuchelt, sondern seine Widersprüche gar nicht erkennen darf. Heuchelei ist bewusstes zynisches Spielen mit einem doppelten Standard. Dies Bewusstsein fehlt dem Westen völlig.

Dabei gibt es Unterschiede zwischen den biblizistischen USA und dem aufgeklärteren Europa. Für buchstabengläubige Fundamentalisten im Bible Belt gibt’s keine Widersprüche, denn der unfehlbare Gott hat selbst diktiert. Für Europäer, deren Moralvorstellungen längst die ihrer Heiligen Schrift überwunden haben, ohne dass sie fähig wären, ihre emotionale Überlegenheit zu definieren, bleibt nur die Verlegenheitslösung, den Kirchen vorzuwerfen, sie widersprächen sich.

Wohlgemerkt, den Kirchen. Nicht dem Urchristentum, das sie kenntnislos als Gipfel der Weltmoral idolisieren. Ohne es zu wissen, projizieren sie ihre aufgeklärte Moral in das Buch der Bücher. Die meisten Deutschen halten sich für Urchristen, die der Kirche entfliehen: in der versteckten Hoffnung, sie zur Rückkehr zum reinen Evangelium zwingen zu können.

Dahinter steckt die Vorstellung, das christliche Neue Testament sei identisch mit reiner und ungetrübter Liebe, das jüdische Alte Testament hingegen sei eine überholte und verwerfliche Hassreligion. Also müssten die Christen, wenn sie konsequent wären, sich vom jüdischen Alten Testament trennen und sich nur auf ihr liebeserfülltes Neues Testament gründen.

Jetzt wird’s brisant. Die Unterscheidung zwischen hasserfülltem Judentum und liebeserfülltem Christentum erlebte ihren Höhepunkt in der wilhelminischen Hoftheologie und begründete den modernen Antisemitismus. Die Christen hätten mit Jesus, dem Gleichnis vom verlorenen Sohn und dem barmherzigen Vater die unbarmherzigen Jahwegesänge des Alten Testaments für immer überholt und in den Schatten gestellt. Das christliche Credo sei eine weitere evolutive Stufe des Gottesbewusstseins und sollte die Steinzeitjuden rigoros von sich abtrennen. Umstandslos verwarfen die deutschen Christen, glühende Bewunderer Hitlers, das Alte Testament der liebesunfähigen Juden.

Dass Juden Gottesmörder sein sollten, verfing bei gelehrten Theologen nicht mehr. Ihre Kritik an den Juden war subtiler. Wenngleich die Subtilität dieselben praktischen Auswirkungen hatte wie der Hass des christlichen Pöbels auf die Juden. Beide Strömungen vereinigten sich in der NS-Bewegung.

Wilhelms wichtigster Theologe, der Dogmatiker Adolf von Harnack, hatte in seinem Buch über den frühchristlichen Ketzer „Marcion“ – der aus ähnlichen Gründen den jüdischen Jahwe verflucht hatte wie die Neudeutschen – Klartext geschrieben:

„Das Alte Testament im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.“

Diese Lähmung beendete die NS-Bewegung. Hitlers verbrecherische Losung hieß bekanntlich: „Indem ich mich der Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“

Auf die bigotte Moral- und Gewaltpolitik des Westens reagiert die Welt mit Gegengewalt. Wenn Guantanamo-Foltern und Drohnen-Exekutionen legitime Methoden des Angriffs sind, sind terroristische Bombenanschläge nicht minder legitime Gegenwehrmaßnahmen. Warum erkennt der Westen seine widersprüchliche Unglaubwürdigkeit nicht?

Weil an diesem Punkt alle jüdisch-christlichen Tabus ineinander verklumpt sind. Ist das Alte Testament wirklich eine eindeutige Hass-, das Neue Testament eine eindeutige Liebesreligion? (Hat Jesus die Ungläubigen nicht in die Hölle geschickt?) Ist Marcion als Kritiker des Alten Testaments wirklich ein Antisemit? (Dann wäre jede Religionskritik Antisemitismus.)

Müsste sich eine autonome Moral nicht von allen Erlöserreligionen trennen, um eindeutig und widerspruchsfrei zu werden? Erlöserreligionen spalten die Menschheit in Gute und Böse, in Erwählte und Verworfene. Kann mit solchen Selektionen die Menschheit zur friedlichen Einheit zusammenwachsen? Wird eine friedlich geeinte Menschheit von den Erlöserreligionen überhaupt gewollt?

Ist eine durch autonome Moral vereinte friedliche Menschheit nicht ein hybrider Affront irdischer Vernunft gegen den unmissverständlichen Willen Gottes, seine Kreaturen für immer in Himmel und Hölle zu schicken?