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Freitag, 12. April 2013 – Benda und Bergson

Hello, Freunde Venezuelas,

„heute wird viel mit der Waffe erledigt, dazu noch straffrei“, sagt ein junger Venezolaner. Die Tötungsrate im Land hat extrem zugenommen. 55 Morde auf 100000 Einwohner. Nicht mal in Kolumbien, dem Land des Terrorismus, ist die Zahl so hoch.

Venezuela gilt weltweit als trauriger Beleg dafür, dass enorme Kriminalität nicht mit Armut zu erklären ist, sondern mit der Straflosigkeit. Es gibt kein funktionierendes Strafverfolgungssystem. In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich eine Mafia aus Polizei, Anwälten und Richtern gebildet, die weniger an der Verfolgung der Täter als am Geschäft mit ihnen interessiert ist,“ schreibt Jürgen Vogt in der TAZ.

Am Versagen der Regierung sei nicht zu deuteln. Chavez und seine Wählerschaft hätten sich nie Rechenschaft über die wachsende Kriminalitätsrate abgelegt. Dabei leiden die Schwächsten am meisten unter der Gesetzlosigkeit. Es herrsche eine fast komplette Straflosigkeit. „Im Sprachgebrauch der Regierung wurde das Ausmaß der Kriminalität lange als eine Fiktion der privaten Medien, als ein subjektives Gefühl der Unsicherheit abgetan. Kriminalität wurde mit Armut verbunden, als Teil des kapitalistischen Systems interpretiert.“

Chavez war einst die Galionsfigur des linken Aufbruchs in Südamerika. Ein lernunfähiger versteinerter Ex-Marxismus droht nun, die einst so verheißungsvolle Revolution in ein gewalttätiges Chaos zu verwandeln.

 

Wenn der Satz: „das Sein bestimmt das Bewusstsein“ nie fortgeschrieben wird zum Satz: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein so lang, bis das Bewusstsein erreicht ist, welches das Sein bestimmt“, können Recht, Gesetz und Moral

nie das Gemeinwesen bestimmen.

Armut ist nicht nur ein materieller Begriff. Es gibtgedankliche Armut, ein Vakuum des Kopfes und Gemüts, auch bei denen, die materiell reich sind. Das ist die heutige internationale Lage: auf der einen Seite ein moralfrei-hirnloser Kapitalismus, auf der anderen ein amoralisch-hirnloser Antikapitalismus. Wo das Sein diktiert, hat der Mensch nichts zu sagen.

Bei amerikanischen Neucalvinisten beherrscht Geld-Sein das fromme Bewusstsein, welches zuvor das materielle Sein religiös geprägt hat. Das Dogma der Amerikaner: ein echter Christ ist ein reicher Christ, der Erbe der ganzen Schöpfung. Das Dogma der ehemaligen Marxisten: ein echter Christ ist ein Marxist: Selig die Armen, denn sie werden die ganze Schöpfung erben.

Im Ziel sind sich materielle Seins- und religiöse Bewusstseinsideologen einig: der finale Sieg besteht im unendlichen Reichtum ihres Vaters. Nur in der Methode sind sie ein bisschen unterschieden. Die Calvinisten betrachten ihren jetzigen Reichtum als Vorwegnahme des Jüngsten Gerichts, die Sozialisten müssen auf das Reich der Freiheit warten – die Parallele zur Wiederkunft des Herrn. Calvinisten sind ungeduldig, sie wollen alles hier und jetzt. Die Sozialisten müssen warten, bis der Messias kommt.

Die kleine Differenz bestimmte im Kalten Krieg die Weltpolitik. Heute gibt’s keine lupenreinen Marxisten mehr. Die zersprengte Linke kann mit Marx weder was anfangen, noch von ihm lassen. Wie im Christentum gibt’s einen toten Erlöser, der nicht begraben werden kann. Jeder glaubt an das jeweilige Buch der Bücher: die BIBEL oder das KAPITAL, doch niemand kennt die heiligen Schriften. Es geht nicht vorwärts und nicht zurück.

Diese Bresche wird China, zukünftige Weltmacht Nr. 1, nutzen und den machtsüchtigen West-Intellektuellen mit einem platonischen Konfuzius die Demokratie vermiesen. Siehe die Hongkong-Konferenz, auf der der kanadische Philosoph Daniel Bell, einst kritischer Linker, das Todesglöckchen für die ausgelaugte Demokratie läutete. Dieser Trend des westlichen Selbstverrats wird sich in den nächsten Jahren fortsetzen und zur Ideologie der Intellektuellen werden. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Mal sehen, ob es schick wird, gelben Teint áufzutragen und die ordinären Glupschaugen in schöne Mandelaugen zu verwandeln.

Was schrieb einst der unvergleichliche Kritiker aller schreibenden Intelligenzler: Julien Benda? Kapitel zwei seines Büchleins „Der Verrat der Intellektuellen“ überschrieb er: „Die Intellektuellen verraten ihr Amt im Namen einer mystischen Vereinigung mit der Evolution der Welt.“ Für Benda waren Intellektuelle noch „clercs“, die säkularen Priester. Für ihn sollten die Intellektuellen in unabhängiger Position die Wahrheit hüten. (Ob das die Priester je taten, darf bezweifelt werden.)

„Ein weiterer Aspekt des Verrats der Intellektuellen zeigt sich … in ihrer Einstellung zu den sukzessiven Veränderungen der Welt, vor allem zu den ökonomischen. Viele von ihnen weigern sich, diese Veränderungen mit der Vernunft, also von außen her zu betrachten; statt dessen erstreben sie eine Verschmelzung mit dieser Welt als einer, die sich unabhängig von jeder Ansicht des Geistes entwickelt und sich in ihrem „Werden“ verändert infolge des irrationalen, angepassten oder widersprüchlichen und damit zutiefst „richtigen“ Bewusstseins. Das ist die These des dialektischen Materialismus. Doch diese Position ist keineswegs … eine neue Form der Vernunft. Sie ist die Negation der Vernunft, wenn denn Vernunft nicht darin besteht, sich mit den Dingen zu identifizieren, sondern durch rationale Begriffe Ansichten über sie zu gewinnen. Sie ist mithin eine mystische Position.“

Das sagte ein aufrechter Franzose gegen die Mehrheit seiner französischen Kollegen. Vor allem aber gegen deutsche Intellektuelle, die sich gerade rüsteten, sich mit der aufkommenden nationalsozialistischen Bewegung mystisch zu vereinigen. Benda hätte sagen können: Intellektuelle, die sich als Propheten verstanden, vereinigten sich mit dem Gott der Geschichte.

Gott offenbart sich in der Heilsgeschichte mit immer neuen wechselnden Botschaften. (Womit er der Urgründer der Postmoderne ist). Jedes Mitlaufen mit der Zeit ist eine Gehorsamstat gegenüber dem Gott der Geschichte. Leider erkannte Benda nicht, dass die von ihm kritisierte Mystik nichts anderes war als gelebtes Christentum. Der Mensch denkt, aber Gott lenkt die Geschicke der Menschheit.

Bendas Objektivität, die er von Intellektuellen verlangt, ähnelt dem totalen Zurückgezogensein eines Eremiten, der alles in die Hände Gottes legt. Will man aber die Zeit verändern, muss man eingreifen und tätig werden. Dieses Handeln lehnte Benda ab. Seine objektive Distanz sollte aktives Eingreifen ausschließen. Die Aufgabe der Intellektuellen, so Benda, sollte darin bestehen, „das Denken gerade als ein von allen praktischen Rücksichten freies zu ehren.“ Wenn man nicht eingreift, überlässt man alles den waltenden Geschichtsmächten. Also genau das, was Benda vermeiden wollte.

Trefflich nennt Benda die Unterwerfungskunst unter die Geschichte die „geschmeidige Vernunft“. Deren aalglatte Vertreter lehnen alles Statische, Bestimmte und Eindeutige ab. Erst die fließende Zeit führe uns über den lähmenden Augenblick hinweg, „über das Gesicherte, vielleicht über die eigene Dimension, jedenfalls über die Ruhe hinaus.“

Just das ist der Angriff neoliberaler Priester gegen die „Faulen und Trägen“, die kein Risiko eingehen wollen, immer den Status quo und die Sicherheiten bevorzugen. Die Sucht nach Sicherheit sei die Krankheit der Deutschen – wenn man Hundt und Henkel hört. Alle Lebensrisiken ausschalten, sei nicht nur praktische Gottlosigkeit – man vertraut nicht dem himmlischen Regiment –, sondern ein Attentat auf den Wettbewerbscharakter der Ökonomie. Hier sei man ständig zu neuen Ufern unterwegs und könne sich nicht zufrieden zurücklehnen. Das Vertraue müsse man aufgeben, um unermüdlich zu neuen Ufern „aufzubrechen“.

Aufbruchsstimmung in Permanenz. Lasst fahren, was dahinten ist, gehet dem Messias entgegen. Wenn Neoliberale von Zukunft sprechen, sprechen sie von der sehnsüchtig erwarteten Parusie ihres Erlösers. Die geschmeidige Vernunft will alles „essentiell mehrdeutig haben, unbestimmbar, unfassbar.“ Widerlegen kann man nur das fest Umrissene. Alles Flüssige und Nebelhafte ist unwiderlegbar.

Die Postmoderne ist unüberwindbar, sie wechselt ununterbrochen ihre Maskerade. Für ständige Wechselspiele gibt es gibt kein Wahr oder Unwahr, Schwarz oder Weiß, Gut oder Böse. Es gibt nur Grauzonen. Die Postmoderne ist eine Grauzonenidolatrie.

Wahr ist, dass es keine Menschen gibt, die nur gut oder böse wären. Was nicht bedeutet, dass es keine Unterschiede zwischen Nelson Mandela und Hitler, Gorbi und Stalin gäbe. Die Deutschen sind dialektisch so verformt, dass sie ihr geliebtes Grau wie ein strahlendes Weiß ins Feld führen, um all jene, die ihnen nicht zustimmen, als rabenschwarze Teufel in den Hades zu schicken.

(Das neueste Beispiel konnte man im umstrittenen Film „Unsere Mütter, unsere Väter“ sehen. Um die Deutschen nicht nur als böse Antisemiten zu zeigen, wurde die polnische Untergrundarmee antisemitischer gezeichnet als die SS. Man kann sich unangreifbar grau machen, wenn man seine eigene Bosheit auf andere projiziert, um nicht selbst rabenschwarz zu erscheinen.)

Hitler wollte die Menschheit retten. Das war gut. Er wollte sie gegen den Angriff der „jüdischen Bazillen“ retten. Das war das böse Erbe seines katholischen Religionsunterrichts, in dem er gelernt hatte, Juden als Erbfeinde der Christen zu sehen. Die religiöse „Fehlwahrnehmung“ geriet zum „Bösen“, weil es das eigene „Böse“ verleugnete und vorbestimmten Sündenböcken aufprojizierte.

Kein Mensch wird böse geboren. Was er als Böses lernt, ist das schwer zu entwirrende Produkt unendlich vieler Fehlerkenntnisse, deren dialektische Verzwicktheiten an einem bestimmten Punkt ins Unbelehrbare, in Hass und Feindschaft übergehen. Dann ist es für alles zu spät. Der Fehlerkennende ist beratungsresistent und unfehlbar geworden.  

Wie kann man einen unbeugsamen Wahrheitssucher von einem fundamentalistischen „Bösen“ unterscheiden? Von außen sehen sie sich ähnlich, doch man muss genauer hinschauen. Sokrates war von der Wahrheit seiner mäeutisch-demokratischen Mission durchdrungen. Doch war er in seiner Gerichtsverhandlung nicht auch beratungsresistent? Nein, er stellte sich dem Streit der Meinungen. Die besten Argumente sollten siegen.

Wer bestimmt, wessen Argumente die besten sind? Jeder für sich – im absoluten Sinn. Die Mehrheit des Volkes – im demokratischen Sinn. Mehrheitsmeinungen sind nicht identisch mit absoluter Wahrheit. Millionen Fliegen können doch irren. Wer jene für falsch hält, muss mit demokratischen Mittel gegen sie kämpfen. Wenn Sokrates – vom Gericht nicht widerlegt – von der Wahrheit seiner Position überzeugt sein durfte, musste er unbeugsam für sie eintreten.

Es gibt so etwas wie Evidenz. Wenn Wahrheit dem Menschen zumutbar ist, muss der Mensch von ihr überzeugt sein dürfen. Was hielten wir von Leuten, die die NS-Verbrechen für eine mögliche Wahrheit hielten?  

Was Benda angriff, entwickelte sich später zur Postmoderne. Hätte Sokrates als Postmoderner gehandelt, wäre die Geschichte des Abendlandes anders verlaufen. Die Kraft der Aufklärung wäre ohne „Märtyrer“ schwach geblieben. Freiheitliche Demokratien hätte es gar nicht gegeben. Wir würden heute in einem technisch hochgerüsteten Mittelalter leben.

Sokrates war bereit, alle praktischen Konsequenzen auf sich zu nehmen, die sich aus seiner Standfestigkeit ergaben. Sein „Starrsinn“ hätte ihn nie dazu verleitet, Athen als böse Stadt zu verfluchen und sie in die Hölle zu wünschen. Er tat nur, was er sagte: Unrecht leiden ist besser als Unrecht tun.

Das ist der Unterschied zwischen Sokrates und Jesus. Auch der Zimmermannssohn fühlte sich unwiderlegt in voller Wahrheit. Die Konsequenzen aber, die er aus dem Fehlurteil des Pilatus zog, waren von irreversibler Grässlichkeit. Zur Strafe für ihre Sünden sollte die ganze Welt untergehen. Nur eine winzige Minderheit sollte gerettet, die Mehrheit der Menschen in ewiges Grauen gestürzt werden.

Wie Stalin, Hitler, Mussolini und andere Zwangsbeglücker wollte Jesus die Menschheit retten. Doch er wollte sie retten, indem er die meisten verdammte: das war totalitäre Menschenfeindschaft.

Wer glaubt, im Recht zu sein, muss seine Wahrheiten der Menschheit zum Streit vorlegen. Nimmt die Menschheit seine Wahrheiten an, hat er Glück gehabt. Verwirft sie seine Wahrheiten, darf er sie nicht mit Feuer und Schwert verbreiten. Nach dem Motto: und bist du nicht willig, brauch ich Gewalt. Werden seine Wahrheiten zurückgewiesen, muss er den Spruch der Mehrheit akzeptieren und den „Schierlingsbecher“ (in welcher Form auch immer) austrinken.

Äußerlich gesehen scheiterte Sokrates. Doch die imponierende Einheit seines Denkens und Handelns wurde nie mehr vergessen. Wenn auch für lange Zeiten von den Christen verdunkelt und unterdrückt. Wäre es der griechischen Aufklärung nicht gelungen, die kirchliche Dunkelmännerei gewaltig zu schwächen, lebten wir heute in apokalyptischen Endzeitszenarien.

Das Scheitern des Sokrates war der Beginn seines Siegeszugs. Jesus imitierte das Geschehen und übertrug es ins Transzendente. Sein Tod wurde zum Sieg über Tod und Teufel.

Nur gute und böse Menschen gibt es nicht. Sehr wohl aber ein Wahr und Falsch. Wenn auch zumeist nicht so leicht erkennbar wie beim Rechenexempel 1 und 1 sind 2. Doch bei allen Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung: niemand kann warten, bis der Himmel von oben sagt: Du bist mein lieber Sohn, kannst nicht irren und darfst all deine Feinde vernichten.

Kann man die deutschen Widerständler als vorbildliche Demokraten preisen und sie im selben Atemzug in die Nähe totalitärer Unbelehrbarkeit rücken? Jetzt kommen wir dem tiefsten, unbewussten Motiv der Postmoderne auf die Spur. Sie gibt sich lau, wankelmütig und unbegrenzt skeptisch, weil sie zu feige ist, den Kopf für ihre Überzeugung hinzuhalten. Der Kampf gegen Wahrheit und moralische Eindeutigkeit ist eine späte Rechtfertigung unserer Mütter und Väter. Sie brachten den Mut nicht auf, den Schergen in den Rachen zu greifen.

In der Adenauerzeit gab‘s die Losung: lieber rot statt tot. Würden die Russen über Deutschland kommen, sollte man sich lieber unterordnen, als sinnlos heldenhaften Widerstand zu leisten. Das Wort ging um: wohl dem Land, das keine Helden braucht. Doch was, wenn das Land so defekt und kriminell ist, dass es Helden braucht? (Wie sagte die tapfere Frau in der Vorstandsetage? Soll ich meinen männlichen Kollegen Widerstand leisten, nur um mich im Spiegel eitel-tapfer anzuhimmeln?)

All diese postmodernen Feigheitsideologien sind nichts als Elemente eines untergründigen Antisemitismus, der sich peu à peu an die Oberfläche hinaufarbeiten könnte. Waren unsere Väter und Mütter nicht Opfer der Geschichte? Waren sie nicht Verführte raffinierter Zyniker? Waren nicht sie, die Deutschen, die wahren Opfer – und nicht die Juden?

Wenn sich diese selbstvergebende Stimmung kollektiv verbreitete – was sie täglich tut –, dann werden die „wahren“ Opfer es demnächst den „falschen“ Opfern heimzahlen. Immer deutlicher zeigt es sich, dass die Deutschen nicht länger gewillt sind, sich als Täter zu betrachten. Wie kann man Täter sein, wenn man nur Mitläufer der Zeiten ist? Wie kann man Verantwortung übernehmen, wenn man gar kein Subjekt der Geschichte ist?

Objekte der Geschichte sind Unterworfene, die für ihre Taten nicht haftbar gemacht werden können. Mussten die Deutschen nicht glauben, auf der richtigen Seite der Geschichte zu sein? Waren sie nicht in vielen Jahrhunderten auf die Wiederkunft ihres Messias vorbereitet worden? Hatte die Vorsehung durch unglaubliche Erfolge und Wunder den Führer nicht als rechten Sohn des Himmels bewiesen? Hätten die Deutschen den Österreicher nicht in die Wüste geschickt, wenn er nicht in Blitzkriegen fast ganz Europa besiegt hätte?

Das Geheimnis der mystischen Verschmelzung mit der Geschichte ist der Erfolg. Kapitalismus und Sozialismus sind einhellig der Ansicht, dass der Mensch sein Schicksal nicht selber gestaltet. Das materielle Sein im Sozialismus, die Evolution im Kapitalismus führen den Menschen blind einem unbekannten Ziel entgegen.

Die Verschmelzung mit der fließenden Zeit gab es nicht nur in Deutschland. Auch dem französischen Philosophen Bergson machte Benda den Vorwurf des Mitlaufens mit der Zeit. Bergson verfocht die Doktrin vom „Gleichlauf mit der Welt-Evolution“. In seinen viel gelesenen Büchern verlangte er, der Mensch müsse sich der „instinktiven Dynamik“ der Geschichte überlassen und sich vereinen mit dem „Lebensdrang und der Schöpfungstätigkeit“ der kreativen Evolution. Bedenken der distanzierten Vernunft müssten über Bord geworfen werden zugunsten einer blinden Hingabe an das Sein in der Zeit. Heidegger sah Hitlers charismatische Hände und wollte nicht abseits stehen, wenn der Ruf der Zeit an alle Deutschen erging.  

Für Bergson war alles „statisch, platonisch, mathematisch, logisch, und vernünftig“, was sich nicht der ewig fließenden unberechenbaren Evolution blind ergeben wollte. Über das Ziel der Evolution könne der Mensch nichts wissen, sonst gäbe es kein Neues in der Geschichte. Volle Fahrt voraus ins unabsehbare Abenteuer, ins Lotteriespiel mit der Evolution. Hayek würde es nicht anders sagen.

Bertrand Russell fasst die Erkenntnis Bergsons kritisch zusammen: „So sind wir verurteilt, im Handeln blinde Sklaven des Instinkts zu sein: Ruhelos und unaufhörlich stößt uns die kreative Evolution vorwärts.“

Im Taumel irrationaler Hingabe an übernatürliche Mächte ist Vernunft nicht mehr gefragt. Wer nicht rechtzeitig auf den Zug der Geschichte aufspringt, wird von ihm überfahren.