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Donnerstag, 04. April 2013 – Erschöpfung

Hello, Freunde des Klimas,

gibt es Hinweise auf einen gemäßigten Klimawandel? Wird die Natur mit den Folgen menschlichen Handelns besser fertig, als bisher angenommen?

„Möglich sei, dass Wolkenbildung die Erwärmung stärker bremse als erwartet. Es könnte auch sein, dass der verstärkte Treibhauseffekt überbewertet werde, weil nicht so viel Wasserdampf in die Luft gelange, wie angenommen wurde. Womöglich lande ein Gutteil der Wärmeenergie aber auch in der Tiefsee. „Wie auch immer“, resümiert der emeritierte Klimaforscher, „die globale Erwärmung schreitet deutlich langsamer voran als erwartet.“ Es gebe folglich Hoffnung, dass der Klimawandel weniger dramatisch verlaufe als vermutet.“ (Axel Bojanowski im SPIEGEL)

 

Was ist der Sinn der Gesellschaftskritik? Gesellschaft wahrnehmen, Defekte benennen und analysieren, Schäden und Mängel abstellen, die Gesellschaft kontinuierlich reformieren, ein besseres Leben führen – bis zur menschenfreundlichen Utopie? Luther sprach von ecclesia semper reformanda, der Kirche, die ständig verbessert werden muss. Reden wir von der societas semper reformanda, der Gesellschaft, die ständig reformiert werden muss.

Wir ersparen uns eine bombastische Revolution, wenn wir unsere Polis permanent korrigieren und fortentwickeln. Klingt einfach – die meisten Zeitgenossen würden die Einfachheit für Träume eines Spießers erklären. Eine Gesellschaft ohne

Untugenden? Wäre tugendhafter Totalitarismus. Wenigstens unerträgliche Langeweile. Mängel? Mängel sind Vorzüge der Gattung.

Das Defekte ist bewundernswert, seine Darstellung Kunst. Wenn ein talentierter Mann, dem die Welt offen stünde, sein Leben in den Sand setzt, dann nennt man dies Existentialismus, dreht einen Film drüber und das Kunstwerk wird in der FAZ besprochen:

„Es gibt in „Oslo, 31. August“ keine Perspektive, aus der heraus moralische oder andere Entscheidungen sich als richtig oder falsch erkennen ließen. Es gibt nur die anstößige Fremdheit eines jungen Mannes, der mit den harten Drogen etwas erlebt haben muss, was ihn dem Leben grundsätzlich entfremdet hat. Und so bleibt man mit „Oslo, 31. August“ letztendlich so ratlos zurück, wie die Freunde und Bekannten von Anders dies sein müssten. Die Insistenz, mit der Joachim Trier existenzialistische Register des erzählenden Kinos aufruft, lässt kein Entweder/Oder zu, sondern nur ein fröstelndes Verharren vor der Negativität. (Bert Rebhandl in der FAZ)

Idyllen kann man nicht verfilmen, sie kennen keine Spannung und Dramatik. Geht der Existentialist am Ende ins Wasser? Bringt er seine schwangere Freundin um? Moderne Kunst ist deliziöses Hörbar- und Sehbarmachen des Elends. Oh Haupt voll Blut und Wunden in Bild und Ton, in Stein gehauen, mit und ohne goldene Bilderrahmen, in Reim und Prosa, in Pop, Blues, Jazz, Madrigalen und Tragödien: das ist hohe Kunst. Das süße Vernarrtsein in Tod und Suizid.

Ohne Kunstdekor würden wir von Lebensunfähigkeit, Neurosen und Psychosen sprechen. Wer sich von Leichen angezogen fühlt, nennen wir nekrophil. Wer sein Leben zerstören muss, indem er das Leben anderer zerstört, nennen wir einen Verbrecher, Wahnsinnigen, Kranken. Wenn der Kranke aber seine Vernichtungswut in Pentametern und Hexametern zu Papier bringt, wird er mit Lyrikpreisen überhäuft.

Scheitern ist das literarische Äquivalent zum Gekreuzigten – der allerdings wiederaufersteht und zum Meister des Universums erhöht wird. Wiederauferstehung wäre ein Happy end, in jedem Roman strikt verboten. Theologisch gesprochen lieben die deutschen Kunstschaffenden das arme Jesulein. In Ohnmacht und Versagen sind sie geradezu vernarrt.

In Armut schon weniger, seitdem Neoliberalismus und SPD-Aufsteigerriege die Armen ans Schandholz genagelt haben. Armut ist nicht mehr kunst- und salonfähig. Arme haben kein Geld, sich den Bestseller über die Armut zuzulegen. Arme müssen vor den Türen der Wohltätigkeitsgalas ausharren. Dort werden bei Schlemmen und Saufen die Brosamen der Reichen zu ihren Gunsten eingesammelt. Eingeladen werden sie nie.

Obwohl es den Deutschen äußerlich gut geht, leben sie im Trauma ihres historischen Elends. Scheitern ist inzwischen zum Thema für Erfolgreiche geworden. Wie sie alle heißen, die einst im Licht standen: Annette Schavan, Ron Sommer, Gesine Schwan, Hera Lind. Waren sie selber schuld? War es der schäbige Neid-Komplex der Deutschen, der sie ins Straucheln brachte? Was Autorin Katja Kraus uns mit ihrem Buch übers Scheitern sagen wollte, bleibt im Dunkeln.

Muss es in einer Konkurrenz-Gesellschaft nicht zwangsläufig jene geben, die fallen, während die anderen über sie hinwegsteigen? Ist Scheitern nicht Ingrediens bedenkenloser Rivalität? Wenn Scheitern kein persönliches Versagen war, kann der Scheitende nichts aus seinem Los lernen. Versuch und Irrtum wären dann Fehlanzeige.

Scheitert ein Produkt auf dem Markt, kann niemand wissen, welche Ursachen verantwortlich waren – wenn wir Hayek folgen. Es kann das beste Bioprodukt, die ultimativ energielose und unkaputtbare Küchenmaschine sein: Hayeks Markt ist genial und unergründlich. Wir wissen es nicht und werden es nie wissen. Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken. Seine Wege sind nicht unsere Wege.

Scheitern in einem solchen System wäre Unglück, Pech, böser Zufall. Hier hülfe nur: abhaken, ein neues Spiel beginnen, beten und auf neues Glück hoffen. Die Erfolgreichen sind im Neoliberalismus die Glücklichen. Nicht die Tüchtigen und Leistungsstärksten. Das ganze System ist ein Lotteriespiel.

Andrea Ypsilanti, auch eine Gescheiterte, weiß bis heute nicht, warum sie keinen Einfluss darauf hat, ihre Sicht der Dinge der Öffentlichkeit zu vermitteln. „Dass sie irgendwann keine Chance mehr hatte, Einfluss auf das öffentliche Bild ihrer Person zu nehmen, hat sie bis heute nicht verstanden. Das heißt nicht, dass der Selbstzweifel aus der Welt geräumt werden soll. Es heißt nur, dass das Selbst eine weniger tragende Rolle spielt, als wir glauben. Das gilt nicht nur für das Scheitern. Es gilt auch für den Erfolg. Katja Kraus erinnert uns daran.“ (Melanie Mühl in der FAZ)

Die richtige Antwort auf eine verdruckste Frage wäre gewesen: Erfolg und Misserfolg in einer Mediengesellschaft hängen nicht nur – vielleicht am wenigsten – von der eigenen Person ab. Sondern von Gunst und Ungunst der Vermittler. Vermittler zum himmlischen Glück waren einst die Priester. Die Vermittler zum irdischen Glück sind heute die Medialen, die Erben der Priester in der „säkularen“ Gesellschaft.

Medien lassen Gnade und Barmherzigkeit, Rache und Gleichgültigkeit, Strenge und Sadismus, Ungerechtigkeit und Willkür walten. Der FAZ-Artikel über prominente Verlierer hätte in einer flammenden Selbstkritik enden müssen: Wir, die Medien waren es, die es versäumten, die Perspektive der Unterlegenen adäquat darzulegen. Medien sind ungerecht, und dies mit sadistischer Lust. Sie imitieren die unerklärliche Willkür göttlicher Selektion.

Wulff wird hinaufgeschrieben, Wulff wird hinuntergeschrieben. Der Gott der SPRINGER-Presse ist kaltschnäuzig und voluntaristisch à la Jahwe: Wer mit dem Fahrstuhl mit uns hinauffährt, fährt auch mit uns hinunter. Die Medien beherrschen das Alte und Neue Testament derer, die reüssieren oder auf die Schnauze fallen.

Medien kennen keine Gerechtigkeit, denn die ist quotenschädlich. Ist die Sau durchs Dorf gejagt, gibt’s keine Rückschau, Berichtigung oder Selbstkritik mehr. Das Thema ist durch. Angeblich ist es das öffentliche Publikum, das keine Gnade kennt. Die Medien sind nur die Getriebenen.

Gerechte Berichterstattung können sich kapitalistische Medien nicht leisten. Sensationen sind die Nachkommen biblischer Unerklärbarkeit. Hätte es in der Schöpfungsgeschichte schon BILD oder SPIEGEL gegeben, die Schlagzeilen hätten gelautet: Sensationeller Willkürakt des Herrn. Abel tot, Bösewicht kommt ungeschoren davon. Ist das die Liebe des Weltenschöpfers zu seinen Geschöpfen, die vor Ihm alle gleich sein sollen? Der Himmel hat sich unglaubwürdig gemacht.

Vom Sensationismus unverdienten Glücks und Unglücks ernähren sich die medialen Priester. Gäbe es Gerechtigkeit, wären dicke Schlagzeilen unmöglich.

Gesellschaft wahrnehmen, Ursachen der Übel erforschen, Übel abstellen – das müsste das Einmaleins, der Grundrhythmus, der Basso continuo der Gesellschaftskritik sein. Revolutionen taugen nichts. Sie stülpen das Elend nur auf den Kopf, die Misere geht weiter. Nur eine Revolution wäre willkommen: wenn sie der Anfang kontinuierlicher Reformen wäre.

Der marxistische Revolutionsbegriff war ein einmaliger messianischer Akt. Gott ward Mensch, hieß Marx und wohnte mitten unter den Proleten. Er verkündete den ehernen Verlauf der Heilsgeschichte, hinterließ seinen Schäfchen die Heilige Schrift „Das Kapital“, die genau so wenig von ihnen gelesen wurde wie das Buch der Bücher von den Erwählten. Dann stieg er auf in den Olymp sozialistischer Väter und hinterließ Fanatiker und Dogmatiker, die bis heute nichts dazu lernten, sondern resigniert und mit schlechtem Gewissen den Kapitalismus verinnerlichten.

Von Meister Propper, äh, Popper, haben sie nichts gehört und nichts gelesen. Sie trauern ihrer Offenbarung hinterher: nichts Süßeres und Ehrenvolleres als mit Offenbarungen zu scheitern. Wer scheitert, muss in Deutschland nicht gescheit werden. Er muss – wie die Naziväter – nur sagen können: Wir haben verspielt. Wir haben‘s probiert und sind krepiert. Wir spielten va banque und sind raus aus dem Spiel. Auch hier nicht die geringste Differenz zwischen Linken und Wallstreet-Zockern.

Popper war Sozialdemokrat und Anhänger des Reformkurses von Bernstein. Stückwerktechnologie nannte er sein Reformvorhaben (Piecemeal engineering). Warum das eine Technologie sein soll, war wohl ein Tribut an die fortschrittsgläubigen Maschinenverehrer seiner Wiener Heimatstadt. Es sollte naturwissenschaftlich und technisch klingen.

Eine der größten Schwächen Poppers war die Unfähigkeit, seine sozialdemokratische Sicht gegen seinen Freund und Gönner Hayek zu verteidigen. Vermutlich aus falscher Dankbarkeit gegen seinen großen Förderer ließ er sich in der MPS übern Tisch ziehen. Bei Hayek ist nicht der Mensch Herr seines Schicksals, sondern die gottähnliche Evolution.

Da Poppers Schule, der Kritische Rationalismus, diese Verstrickung nicht auflöste, versank sie binnen zweier Generationen in wohlverdienter Versenkung. Hans Albert, sein Hauptschüler in Deutschland, glaubte, Hayek und Popper in einen Sack stecken zu dürfen. Das war absurd und vermasselte jede Chance, den hoffnungslos umherirrenden linken Exmarxisten eine sinnvolle Alternative zu bieten.

Der damalige Positivismusstreit zwischen Popper- und Adornoanhängern blieb folgenlos. Ralf Dahrendorf, Initiator des Streits, verschwand durch die Hintertür und seilte sich zu den Freien Demokraten ab. Danach lernte er Gentlemenmanieren in England, ließ sich huldvoll ins Oberhaus wählen und erholte sich regelmäßig im Schwarzwald von den Strapazen gravitätisch modulierenden Nichtssagens.

Poppers Reformkurs – Lernen durch Versuch und Irrtum – wäre die Alternative zur linken Revolutionsgesinnung gewesen.

Wer hofft, wird selig, sagte der marxistische Oberpriester Bloch. In der Zukunft spielt die Musik, Vergangenheit und Gegenwart sind des Teufels. Wer die Zeiten menschlichen Irrens und Wirrens so zu Schrott erklärt, darf sich über griesgrämige Gesichter der von ihrem Propheten verlassenen Revoluzzer nicht wundern.

Noch immer warten Christen auf die Parusie ihres Herrn, Marx- und Engelsgläubige auf die Wiederkunft der bärtigen Geschichtspropheten. (Neugermanen auf Kaiser Barbarossa, der aus den Kyffhäusern auftaucht; Beckenbauer war es nicht.)

Die einzig sinnvolle Revolution ist permanente Reformation. Wir müssen alles ändern. Der christliche Kalender mit seinen sonderbaren mythischen Festen muss der Macht der Erlösungsreligionen entzogen werden. Alle heidnischen Feste haben einst schlaue Priester in christliche verfälscht. Sie müssen wieder ins Leben zurückgeholt werden. Wir müssen von Grund auf feiern lernen: Feste der Demokratie, der debattierenden Polis. Aber auch der erhebenden und schrecklichen Erinnerungen.

Die staatlichen Feiern des Holocaust jenseits des Volkes sind eine Zumutung. Dem Volk trauen die Politeliten nichts zu, weil sie ihren eigenen, in gelehrten Ideen versteckten Antisemitismus dem dumpfen Pöbel aufhalsen wollen. Erinnerung an das Grauen kann nur schmerzliche Erkenntnis sein. Gestanzte Leerformeln und selbstergriffene Riten sind lächerlich – und gefährlich.

Feiern muss alles sein: sich austoben, fröhlich sein in Tanzen und Singen, demonstrieren und Erkenntnisarbeit leisten.

An den großen Feiertagen beginnt der Exodus der Deutschen: sie sind dann mal weg. Schnell in die Welt flüchten, um der Ödnis sinnfreier Kirchenfeste zu entgehen. Schaut man an Sonntagen auf Straßen und Plätze: nichts als kollektive Lähmung und Furcht vor dem Vakuum.

Der Tourismus der Deutschen ist keine Sehnsucht nach dem Fremden, sondern Flucht vor dem Eigenen. Sie machen die Länder der Welt unsicher und kehren zurück mit leeren Gesichtern und Herzen. In der Türkei bauen sie Ferienhäuser und sind dagegen, dass die Türkei Mitglied der EU wird.

Auf Feste muss man sich freuen können. Sie sind emotionale Darstellungen der kollektiven Psyche. Ja, auch der nationalen Identität. (Dies gegen Götz Aly, der töricht gegen Identitäten an sich wettert, gleichzeitig aber – zu Recht – eine deutsch-jüdische Identität fordert. Natürlich muss es eine Moses-Mendelssohn-Straße in Berlin geben. Identität bedeutet nicht ein Herz und eine Seele.) (Götz Aly in der BLZ)

Erst ein verändertes Lebensgefühl, das von jedem Einzelnen, von jeder wachen Politgruppe eingeübt werden kann, wird dem lebensfeindlichen Kapitalismus den Stecker rausziehen. Immer nur Nein sagen gegen Schwachsinn genügt nicht. Wir müssen leben lernen, damit der Kapitalismus an der Lebensfreude selbst abprallt und sich leise weinend verzieht.

Solange wir keine pralle Alternative anbieten, wird alles Krakeelen gegen Finanzhaie und Ausbeuten auf uns zurückfallen. Das System wird sich nur ändern, wenn es die Bedürfnisse vitaler BürgerInnen im Tiefsten verfehlt. Jede Epoche hat das System, das sie verdient.

Stephan Grünewald ist Psychologe und Gründer des „Kölner Rheingold-Instituts für Kultur-, Markt- und Medienforschung.“ Forschungen seines gewaltigen Instituts haben ergeben, dass die Deutschen erschöpft und ausgelaugt – doch stolz auf ihre Erschöpfung sind. Das ist der Befund.

Was aber ist sein Resumee? Was sind seine politischen Forderungen, um die erkannten Gesellschaftsübel zu therapieren? Jetzt festhalten: Grünewald fordert eine Renaissance des Träumens. Da kreißte ein Berg und gebar ein schlaftrunkenes Mäuschen.

(Wenn Amerikaner sagen: verwirkliche deine Träume, meinen sie eine private Utopie. Wenn die Griechen Recht haben, ist alles Private in einer Polis Idiotie – denn Idiotes ist Privatmann. Sie propagieren also eine idiotische Utopie.)

Und warum sollen wir träumen? „Der Traum ist ein natürliches Korrektiv zur Betriebsamkeit des Alltags. Am Tage sind wir durchgetaktet, aber eben häufig auch betriebsblind. Nachts sind die Verhältnisse umgekehrt, die Motorik ist stillgelegt, und dadurch öffnet sich so eine ästhetische Narrenfreiheit. Der Traum rückt in den Blick, welche Sehnsüchte existieren und welche Probleme unbearbeitet geblieben sind. Über unsere Träume kriegen wir wieder mit, was in unserem Leben auch noch wichtig sein kann. Sie können dazu führen, aus der Einseitigkeit auszusteigen.“

Das unbewusste Traumleben soll uns sagen, was wir in bewusster Politarbeit realisieren sollen? Nach Freud müssten Träume gedeutet werden, denn sie stehen unter Zensur. So gut wie nie sagen sie uns, was wir wollen, sondern erzählen von unseren Ängsten und Projektionen. Wer soll die Träume deuten, wenn sie nicht für sich sprechen?

Wieder einmal endet die Diagnose der neugermanischen Misere im Traumleben, in den Dunkelheiten des Instinktiven und Unbewussten. Der Traum in der Romantik war eine Absage an die Aufklärung. Denken und Räsonnieren sollten ausgeschaltet werden. Wer sich nur auf Fühlen reduziert, wird auch das Fühlen verfehlen.

Der Mensch ist eine Einheit aus Denken, Fühlen und Handeln. Fehlt ein Teil des Ensembles, geht der ganze Mensch am Krückstock. Freie Zeit, Feste und Sonntage könnten dazu beitragen, unsere Einseitigkeiten und Verkrüppelungen wahrzunehmen, damit Denken, Fühlen und Tun zusammenwachsen können. Das wäre Muße.

Doch Muße wird heute verabscheut. Selbst bei jenen, die das Fest ihres Lebens feiern könnten, weil sie dem Malochen entronnen sind. „Stunden der Muße sind für heutige Senioren eher ein Schreckgespenst. Ihr Motto lautet: Wer rastet, der stirbt.“

Warum sind die Menschen auf ihre Erschöpfung stolz? Weil sie ihre Arbeitsleistung selber loben müssen. Es gibt niemanden in der Gesellschaft, der sie anerkennt. Ausbeuter saugen die Arbeitenden aus und sind unfähig, deren Leistung zu würdigen. Löhne und Gehälter sind ohnehin zu gering, um den Menschen das Gefühl der Akzeptanz zu geben.

Dass der Mensch nicht von Geld allein lebt, sondern auch von emotionaler Rückmeldung, hat sich bei genialen Wirtschaftsführern noch nicht herumgesprochen. Das Grundgefühl der Eliten gegenüber allen Lohnabhängigen ist: den Abhängigen geht’s zu gut. Einen geregelten Feierabend haben sie nicht verdient. Die deutsche Wirtschaftslokomotive müsste noch stärker dampfen.

Wenn man Vertretern der Wirtschaft zuhört, steht Deutschland permanent vor dem Abgrund. (Eine der beliebtesten Fragen bei Talkshows lautet: Steht Deutschland bei steigenden Tarif-Löhnen, Erhöhung der Hartz4-Sätz und Einführung des Mindestlohns kurz vor dem Abgrund?)  

Die Menschen sind erschöpft, weil das permanente „Weiter, Höher und Schneller“ sie auslaugt. „Aber so gut wie niemand hat eine Vorstellung, was danach kommen könnte. Wir konstatieren also eine Zukunfts-Ungewissheit, die den Menschen Angst macht und dazu führt, dass viele in ihrem Alltag unbewusst auf Autopilot schalten.“

Müssten nach dieser treffenden Diagnose nicht knallharte Forderungen kommen, das „Weiter, Höher und Schneller“ subito abzustellen, die Ungewissheiten der Jugendlichen durch verlässliche und angstfreie Wirtschaftsverhältnisse zu beenden? Nichts davon beim Experten für seelische Innerlichkeit, der sich an Polit-Forderungen nicht die Hände schmutzig machten will.

Ein Riesen-Aufwand für die Wahrnehmung der Gesellschaft, ein Fastnichts über ihre Therapie. Gut, dass wir über die Abgründe der deutschen Gesellschaft gesprochen haben. Lasset uns weiterträumen.