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Tagesmail

Sonntag, 27. Januar 2013 – Sympathie bei Adam Smith

Hello, Freunde der Gehirnforschung,

alles Geistige „verlustfrei auf Biologie zurückzuführen“, das sei der Sinn der Gehirnforschung, behauptet der Pharmazeut Felix Hasler in der SONNTAZ – und das werde nicht gelingen. „Die Naturwissenschaft hat klare Gesetze, und wenn sich die Psyche darauf reduzieren ließe, würde sie zu einem verstehbaren, berechenbaren und wenn was schiefläuft zu einem präzise behandelbaren Gegenstand. Toll aber so läuft es leider nicht. Eine Depression ist eben kein Diabetes, auch wenn dies immer behauptet wird.“ Wie viel hätte die biologische Psychiatrie schon versprochen aber nichts gehalten.

Verstehen heißt nicht berechnen, berechnen nicht verstehen. Wer berechnen will, will beherrschen. Verstehen will Kontakt aufnehmen, einem anderen das Gefühl vermitteln, dass er kein Monstrum, sondern ein Mensch ist. (TAZ-Interview mit Felix Hasler)

Ist Biologie eine Rechenmaschine? Bios ist Leben, Leben kann mehr als Rechnen. Wenn Leben berechenbar wäre, könnte ich es erklären, etwaige Rechenfehler beheben. Das Leben kurieren. Es gäbe keine Krankheiten mehr, die der Mensch nicht heilen könnte.

Was ich erklären kann, muss ich noch lange nicht verstehen. Verstehen heißt nachempfinden, im andern Menschen mich entdecken, die lebhafte Vermutung hegen, dass der andere Mensch agiert, reagiert, fühlt wie ich. Oder ungefähr wie ich. Wir müssen nicht vollständig identisch sein, aber so weit miteinander verwandt, dass ich feststellen kann, dass er anders denkt und fühlt als ich.

Das Anderssein kann mich befremden und ängstigen – oder mich anregen,

eine Brücke zwischen mir und dem andern herzustellen, dass wir die Kluft der Fremdheit überwinden. Wer selbstbewusst ist, für den ist das Fremde eine Herausforderung und ein Ansporn. Das Fremde wird zum Gegenstand der Neugier, des Erkundens und Erforschens.

Wer sich seines Ichs nicht sicher ist, für den ist das Fremde furchterregend. Er will ihm entfliehen oder muss es vernichten, bevor das Fremde ihn vernichtet. Freundschaft kann nur beim Gefühl einer anregenden Gleichheit oder einer überwindbaren Ungleichheit entstehen.

Die Gleichheit zwischen den Menschen ist so eminent, dass ich durch den Versuch des Verstehens herauskriegen kann, warum ein anderer anders tickt als ich. Aus dem Gefühl der Befremdung kann das bereichernde Gefühl entstehen, dass wir eines Geschlechtes sind. Du bist wie ich. Wenn ich lerne, dich zu verstehen, lerne ich mich auch besser verstehen.

Die gegenwärtige Wirtschaftsordnung besteht auf durchgängiger Ungleichheit. Wären die Menschen reine Biomaschinen, könnte man sie vollständig berechnen und durch Berechnen beherrschen. Verstehen wäre überflüssig und unmöglich. Wirtschaftliche Vorgänge sollen naturwissenschaftliche Vorgänge sein, die ohne jedes Verstehen und Nachempfinden auskommen. Wenn Moral auf Vernunftgründen beruht, die versteh- und nachvollziehbar sind, hat sie keinen Platz beim Herstellen wirtschaftlicher Beziehungen.

Gehirnforschung und Ökonomie sind parallele Wissenschaften, die den Menschen auf berechenbare Naturgesetze reduzieren. Wenn das Leben mehr ist als determiniertes Gesetz, spricht man schnell von Geist oder Seele, die das irdische Leben weit überragen sollen, sei es als unsterbliche Seele, sei es als unfassbarer Geist. So gelangt man zu zwei Welten, die nur flüchtig miteinander zu tun haben. Die mit sich identische Welt – Monismus – spaltet sich in zwei Hälften, die miteinander hadern und um die Führung kämpfen: Dualismus.

Die Erfindung einer anderen Welt ist das Ergebnis einer Hilflosigkeit. Wenn Menschen ihre disparaten Wahrnehmungen und Selbstempfindungen nicht unter einen Hut kriegen, fühlen sie sich genötigt, sich als Produkte zweier verschiedener Welten zu konstruieren. Die Welt ist geordnet und gesetzmäßig und doch fühlen sie sich frei. Wie passen Gesetzmäßigkeit und Freiheit zusammen?

Das passt nur zusammen, wenn wir von einer gesetzmäßigen und einer freien Welt abstammen. Wenn wir die Spaltung hochrechnen, gelangen wir zu den Gesetzen des Teufels und der Freiheit der Kinder Gottes. Was zusammengehört – ob wir das verstehen oder nicht –, wird in zwei Welten auseinandergetrennt.

Das Leben wird geschieden in Geist und Natur, Natur und Übernatur, Materie und unmaterielle Seele. Natur wird herabgewürdigt in ein Konglomerat starrer Gesetze, Übernatur verklärt in ein Reich willkürlicher Freiheit.

Frei sein bedeutet nicht, unabhängig sein von Kausalitäten, kausal sein bedeutet nicht, geknechtet zu werden. Solange man in Harmonie mit dem Kosmos lebt, kommt niemand auf die Idee, dessen Gesetze als Zwingherren und Freiheit als chaotische Willkür zu betrachten. Zerfällt das politische Leben in Unterdrückung und Elend, wird aus Einheit mit der Natur eine Despotie willkürlicher Gesetze und eine Freiheit außer Rand und Band.

Diesen Zerfall der Identität mit der Natur kann man an der Entwicklung der stoischen Schule beobachten. Gesetz wird zur schicksalhaften Vorherbestimmtheit, Freiheit zur maß- und regellosen Willkür der Machthaber. Wie das irdische Leben, so die passende Religion, die die Mängel des Lebens im Modus der Hoffnung ausgleichen muss. Rache soll die Privilegierten auf Erden strafen und minimieren, Verheißungen sollen die Zukurzgekommenen mit Zinseszins belohnen.

Das Maß empfundener Ungerechtigkeit kann man am Ausmaß der kompensierenden Religion erkennen. Gemessen an der Intensität des Glaubens an Hölle und Himmel muss das empfundene, aber verdrängte Gefühl der Ungerechtigkeit im christlichen Westen ins Unendliche gehen.

Eine freie und gerechte Menschheit braucht keine kompensative Religion, die das irdische Leben ins Gegenteil verkehrt. Es gibt auch Religionen schlichter und kindlicher Dankbarkeit gegenüber der Natur. Sie muss nicht rächen und belohnen, sie darf sich heimisch fühlen mit Busch und Strauch, die ihre Brüder, Mütter und Schwestern sind.

Monistische Religionen sind das blanke Gegenteil dualistischer Ressentiments. Ressentiment ist Gefühl gegen ein Gefühl. In einer monistischen Religion gibt’s kein gegen. Es gibt nichts, was man abzulehnen und zu fürchten hätte. Das alltägliche Gefühl des Zuhauseseins wird in einer monistischen Religion zur universellen Verbundenheit, die zur rauschhaften Ekstase des Daseins führen kann. In einer dualistischen Religion kann es nur ekstatische Selbstgeißelungen und Orgien der Selbstverleugnung geben.

Eine der eigenartigsten und bedeutsamsten Weggabelungen abendländischer Geschichte kann man an den zwei Büchern des Adam Smith ablesen. In seinem ersten Buch schreibt er über Sympathien zwischen Menschen, in seinem zweiten über wirtschaftliche Beziehungen, die die Menschen miteinander verbinden sollen.

Was hat Wirtschaft mit Sympathie zu tun? Gerade die Neoliberalen – leider auch Popper – betonen, dass wir das Kreuz der Zivilisation, die Kälte der nicht vorhandenen Gefühlsbeziehungen, auf uns nehmen müssten. Das Leben raffgieriger Erwachsener habe mit dem Nest des Kindseins nichts mehr gemeinsam.

Auch hier wird die Welt gespalten wie in der dualistischen Religion. Wer Wohlstand will, hat Fortschritt in Naturbeherrschung und in der Abnabelung von kindischen Bedürfnissen zuwege zu bringen. Das Paradies des Geborgenseins und der Einheit mit dem Sein muss erneut verlassen werden, um – das neue Paradies der Geldsäcke zu erschuften und zusammenzuraffen.

Der Paradiesverlust war so traumatisch, dass er ununterbrochen wiederholt und in freien Willen umgefälscht werden muss. Der Sünden-Fall wird umgemogelt in einen Sünden-Aufstieg. Auch Hegel sah im Sündenfall einen riesigen Fortschritt zur Selbständigkeit des Menschen. Evas rebellische Tat befreite die Menschheit von der Despotie eines Tyrannen. Die angeblich negativen Folgen des Falls waren unvermeidbare Begleiterscheinungen einer Grundbefreiung, die man durch Fleiß, Arbeit und Erfindungskraft ausmerzen kann.

Das neue Paradies muss aus eigenen Kräften hergestellt werden. Ein geschenktes Paradies entmündigt und erpresst. Das Paradies freier Menschen ist made in humanity. Dass es einen riesigen und unvereinbaren Widerspruch zwischen Sympathie und kalten Handelsbeziehungen geben kann, wird von Kirchenvätern der Ökonomie geleugnet. Sie strapazieren all ihre Gehirnzellen, um die herzliche Konkordanz zwischen gegenseitiger Abhängigkeit und innigen Zusammengehörigkeitsgefühlen nachzuweisen.

Bei Simmel war gegenseitige Abhängigkeit sogar die Grundlage allen Friedens zwischen den handelstreibenden Völkern. Seltsam nur, dass Frauen das Problem der Abhängigkeit ganz anders sehen. Ihre Göttergatten, von deren Geldbeutel sie abhängig sind, lehnen sie rundweg ab. Abhängigkeit schafft Ressentiments und Hassgefühle. Lieber sind sie abhängig von gefühllosen, kalten Ausbeutern, die sie begrapschen, als von einem einzigen Haustyrannen, der sie nicht mehr anrührt. Die Kälte der Wirtschaft, die Abhängigkeit von vielen Charaktermasken ist ihnen angenehmer als der überhitzte Nähe-Kampf der Geschlechter in der Ehe. Die Frauen wollen sich emanzipieren durch Kälte-Therapie.

Man stelle sich vor, das Prinzip Sympathie wäre völlig inkompatibel mit dem Prinzip Arbeitsteilung und Abhängigkeit. Dann müssten wir einen riesigen Kulturbruch bei Smith konstatieren. Nur, weil er die Sympathie zwischen den Menschen verleugnete und für minderwertig erklärte, konnte er das konträre Prinzip erzwungener wirtschaftlicher Abhängigkeit zum Prinzip der Zukunft erklären.

Ein Kapitel in seinem ersten Buch überschreibt Smith mit den Worten: „Von dem Wohlgefallen, welches durch gegenseitige Sympathie erzeugt wird.“ Typisch für den Kapitalismus?

„Was immer jedoch die Ursache der Sympathie sein und auf welche Weise sie auch erregt werden mag, sicher ist, dass nichts unser Wohlgefallen mehr erweckt, als einen Menschen zu sehen, der für alle Gemütsbewegungen unserer Brust Mitgefühl empfindet, und dass uns nichts so sehr verdrießt, als wenn wir an einem Menschen kalte Gefühllosigkeit beobachten.“ „Sympathie verstärkt die Freude und erleichtert den Kummer.“ „Jedes Vermögen, das ein Mensch in sich findet, ist der Maßstab, nach welchen er das gleiche Vermögen bei einem andern beurteilt. Ich beurteile deinen Gesichtssinn nach meinem Gesichtssinn, dein Gehör nach meinem Gehör, deine Vernunft nach meiner Vernunft, dein Vergeltungsgefühl, deine Liebe nach meiner Liebe. Ich habe kein anderes Mittel und kann kein anderes Mittel haben, sie zu beurteilen.“

Beschreibungen aus dem Inneren des Kapitalismus? Im Gegenteil. Sympathie und Antipathie dürfen im Geschäft des Mehrwerts keinerlei Rolle spielen. Sympathisch hat mir der zu sein, der mir Vorteile verschafft. Unsympathisch sind mir linke Neidhämmel, faule Säcke und Parasiten.

Die Grundlage der Sympathie ist die Gleichheit der Menschen, die Grundlage des Kapitalismus die geldgewordene Ungleichheit und Abwesenheit aller Gefühle, die mein Raffen behindern könnten. Adam Smith I hat mit Adam Smith II nur den Namen gemeinsam.

Der Kapitalismus begann, als das Band zwischen den Menschen nicht mehr aus Gefühlen gegenseitigen Wohlgefallens bestand, sondern aus Ressentiments des Ausstechens und Überflügelns. Der größte geistige Skandal der neuen Geschichte wird von Ökonomen und Geisteswissenschaftlern vertuscht. Der Geist der Wissenschaft beruht auf kollektiver Verdrängung.