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Tagesmail

Donnerstag, 24. Januar 2013 – Antisemitismus kann nur religiös verstanden werden

Hello, Freunde der Engländer,

vieles ist richtig, was Cameron sagt. Doch seine Therapie würde den europäischen Patienten noch kränker machen: Sondermaßnahmen für die Insel würde die Idee gleichberechtigter Völker zerstören.

Die ganze Insel? Schottland will unbedingt in der EU bleiben und sich zu diesem Zweck von England lösen. Irland denkt nicht daran, die EU zu verlassen. Selbst die Wirtschaft drängt Cameron, sich nicht zu isolieren. Amerikanische Firmenfilialen würden England verlassen und sich auf dem Kontinent ansiedeln.

Europa benötigt dringend den humanen Geist eines Giganten wie Bertrand Russell. Doch dessen Bücher kann man auch lesen, ohne das eitle Gezicke der Oxbridge-Boys – die den Verlust der Weltherrschaft noch immer nicht verkraftet haben – in Ewigkeit Amen zu tolerieren. Selbst Rosamunde Pilcher, Seelmann-Eggeberts sonores Queensgeplauder und braune Schuhe aus London blieben ungefährdet.

Die TAZ höhnt Augstein an, als ob der Ausgang der Israel-Wahlen seine Kritik des Landes widerlegt hätte. „Israel sexy, was sagst du jetzt, Augstein?“

Hätte die TAZ nur mal in ihrer heutigen Ausgabe geblättert, dann wäre ihr vielleicht

der Kommentar von Moshe Zuckermann aufgefallen. Der Autor ist Professor für Geschichte in Tel Aviv und gehört zur kleinen Gruppe scharfer Kritiker ihres Landes, die man sonst nur lesen kann, wenn Weihnachten und Neujahr zusammenfallen. Bravo, TAZ, es geht doch.

Die Wahlen zeigen jenen Effekt, den wir schon lange aus demoskopischen Umfragen im heiligen Lande kennen: der Wunsch ist der Vater der Lippenbekenntnisse und des Urnengangs. Allein, die Realitäten in Raum und Zeit scheren sich nicht um fromme Wünsche.

Jair Lapid, der Gemäßigte, der aus der Tiefe des Raums kam und viele Stimmen kassierte, begann seine Wahlkampagne in einer besetzten Siedlung. Auch für ihn muss die Goldene Stadt auf ewig ungeteilt bleiben. Der Rest seiner Aussagen blieb beliebig projektionsfähig. Seine inhaltsleere Wohlfühl- Partei wäre nicht die erste, die sang- und klanglos unterginge. Der ehemalige Elitesoldat und Millionär Bennet steht schon Gewehr bei Fuß, um das telegene Moderatorengesicht zu egalisieren.

Für Zuckermann ist das Wahlergebnis nur ein Gekräusel im Wasserglas. „Eines freilich ist jetzt schon klar: Auch nur für das Anvisieren des Konflikts mit den Palästinensern, geschweige denn für seine Lösung, verheißen diese Wahlen nichts Gutes.“

Das entscheidende Friedensthema bleibt ausgeklammert. Die Macht der Haredim wird weiter voranschreiten, wenn die säkulare Gesellschaft sich nicht zu einer radikalen Religionskritik in der Praxis durchringt. Die strikte Trennung von Halacha und Staat wird zur Überlebensbedingung werden. Was bleibt? „Kein Frieden mit den Palästinensern, lediglich ein wenig Bewegung in der zur Ideologie geronnenen Stagnation.“ Ziemlich sexy, stimmts TAZ?

(Moshe Zuckermann über die Wahlen in Israel)

Warum verhöhnt die TAZ einen Israelkritiker? Unterstellt sie, das Objekt der Begierde erfreue den Kritiker, wenn es in miserablem Zustand verharrt – damit sein Verriss Recht behalte? Womit wir uns mitten im Labyrinth der Antisemitismus-Debatte befänden.

Das schlechte Holocaustgewissen der Deutschen wird reduziert, wenn auch Israel kein Hort der Menschlichkeit ist. Also freuen sich die hämischen Deutschen über den moralischen Niedergang ihrer Opfer. Da soll es kommunizierende Röhren geben zwischen deutschem Schuldbewusstsein und verzerrter Wahrnehmung Israels. Diese Zusammenhänge gibt’s so sicher wie das Amen im Gebet. Mit Antisemitismus müssen sie nichts zu tun haben, aber bestimmt mit ordinärer Psychologie.

Die Deutschen wollten ja nur ihr Schuldbewusstsein reduzieren, wenn sie das Land der Väter übermäßig attackierten, kritisieren die Antisemitismus-Wächter einheimische Israelkritiker. Sollen die Deutschen auf ihrem schlechten Gewissen sitzen bleiben? Sind sie mit schlechtem Gewissen lenkbarer und leichter in die Reihe der Völker zurückzuführen?

Ist es nicht sinnvoll, unbegriffene Schuld in Erkenntnis zu verwandeln, sodass Juden und Deutsche sich auf einer solideren Grundlage neu begegnen könnten? Traumata auf der Opferseite, Über-Ich-Gewissensbisse auf der Täterseite sind keine günstigen Voraussetzungen für brückenbauende Gespräche.

Es sei nicht die beste Methode der Vergangenheitsbewältigung, wenn Deutsche ihre Schuldgefühle durch überzogene Kritik an Israel kompensieren wollten. Kompensieren ist nicht selbstkritisches Erkennen. Indem ich den andern klein mache, fühle ich mich größer – doch ich bin es nicht. Ich agiere nur meine schlechten Gefühle aus, ohne dass ich meine unbewusste Problematik besser verstanden hätte. Verdrängtes kann ich durch weiteres Verdrängen nicht kurieren.

Das ist eine Riesengefahr für die Ex-Täternation, besonders für die – Philosemiten. Wie bitte? Die Philosemiten bearbeiten ihre Schuld durch Übertritt zur neuen „richtigen“ Partei, durch Überidentität mit den Opfern. Das ist ihre selbst auferlegte Sündenstrafe, ihre aktive Reue und Buße. Ein Jahr lang für Aktion Sühnezeichen in einen Kibbuz, um die Sünden der Väter abzutragen. Sich geloben, alles zu tun, um ein weiteres Verhängnis zu verhindern. Keine Einwände bis zu diesem Punkt. Im Gegenteil. Ohne „Versöhnungsarbeit“ – Versöhnung nicht im religiösen Sinn – gibt’s keine Annäherung der beiden Nationen. Eine rationale Versöhnung aber wäre vorbehaltloses Erkennen der Ursachen, um jede Wiederholungsgefahr im Ansatz zu verhindern.

Das Gegenteil authentischer Verständigungsarbeit waren Axel Springers Jesus-Stigmatisierungen. Im Namen Jesu vollzogen die Täter eine Rollenverkehrung: die Täter boten sich als Opfer an, damit die Opfer Täter werden könnten, um die Täter zu bestrafen. Bestraft uns, schlagt uns, kreuzigt uns, auf dass wir unsere Schuld abtragen können. Springer demütigte sich, tat viele gute Werke in Jerusalem – und gelobte, nie mehr Jüdisches zu kritisieren. Das war das religiöse Opfer, das die führenden Intellektuellen in der BRD auf sich nahmen, um ihre Selbstgeißelungen als Fremdgeißelungen der Opfer zu empfinden und ihre Schuld zu vermindern.

So entstand der jesuanisch getönte Philosemitismus als Glaubensleistung, als Ablasshandel. Hinfort sagen wir kein kritisches Wort mehr zu Israel und verdienen mit guten Werken den Status der Wiedergeborenen, die ihre Vergangenheit gesühnt haben.

Kritik war für Deutsche noch nie anders als destruktiv und feindlich. Hier hat sich nicht Kant durchgesetzt – dessen drei Kritiken Hauptwerke der Aufklärung waren –, sondern das romantisch-christliche Liebesgesäusel, das alles blind hofft, duldet und glaubt. Deutschlands Schuldentlastung wurde zur via dolorosa, zum Leidensweg, zur religiösen Selbstgeißelung.

Für solche existentiellen, den ganzen Menschen erschütternden Ereignisse kommt für Deutsche die kalte Vernunft nicht in Frage. Hier muss konvulsivisch gelitten, gebüßt, geschämt, geheult und geklagt werden, damit ein Äquivalent zwischen Schuld und Reue hergestellt werde.

In welchem Maß der deutsche Charakter religiös imprägniert ist, erkennt man an seinem christogenen Nachkriegs-Versuch, seine Schuld, seine unermessliche Schuld, durch Golgatha-Imitationen loszuwerden. Der Täter erniedrigte sich zum Opfer, um das Opfer zum Täter zu animieren. Schlagt uns, beschimpft uns, zensiert uns, verurteilt uns zum kritiklosen Schweigen, auf dass wir Frieden hätten. Merkels Bußgang in die Knesset war ein mittelalterlicher Kriechgang auf dem Dornenweg, um das verlorene Heil zurückzugewinnen.

In der Erlösungsreligion gründet die Identität von Opfer und Aggressor. Jesus muss sich selbst als Opfer anbieten, um den Vater gnädig zu stimmen und die Menschheit stellvertretend zu erlösen. Indem er den Tod am Kreuz erduldet, erarbeitet er sich die Lizenz, dem allmächtigen Vater gleich zu werden und die Welt zu richten. Durch Leid zum Sieg, das sind die biblischen Urinstrumente, die in gleichem Maße für Christen und Juden gelten.

Es gibt einen unbewussten Wettbewerb in schuldlosem Leiden zwischen beiden auserwählten Nationen, die um den Rang des wahren auserwählten Volkes kämpfen müssen. Ohne Psychologie des Alten und Neuen Testaments sind die vertrackten Beziehungen zwischen Juden und deutschen Christen nicht zu verstehen. Von daher sind heutige Versuche des Klerus, den Nationalsozialismus als gottloses Gebilde zu bezeichnen, um ihre eigenen Verstrickungen zu leugnen, als besonders dreist und abenteuerlich zu betrachten.

Im Wettkampf der beiden Nationen, die sich ähnlicher sind, als sie wahrhaben wollen, geht es um den Versuch, den andern zum Täter zu provozieren, um selbst die Rolle des leidenden Opfers zu ergattern. Dann lässt der Erfolg nicht auf sich warten. Gott ist in den Schwachen und Leidenden mächtig. Auf diese tief im Unbewussten verankerten Zusammenhänge spielt das bekannte Wort des jüdischen Psychoanalytikers Zwi Rex an: „Auschwitz werden uns die Deutschen nie verzeihen.“

Aus der Sicht religiöser Ultras sind die Deutschen nur belanglose Werkzeuge in der Hand Gottes, der schon seit Jahrtausenden fremde Despoten benutzte, um die ehebrecherischen Kinder Israels zu züchtigen und zum Vater zurück zu jagen. Nach Ansicht orthodoxer Rabbiner – besonders aus Osteuropa – waren die deutschen Juden allzu sehr dem geistigen Charme der deutschen Dichter und Denker erlegen. Nur besondere Strafmaßnahmen des Himmels konnte sie aus dem Sündenbabel retten und zum strengen Vater zurückzwingen.

Deutsche Juden waren zumeist assimilierte, säkulare Anhänger der Moderne, die den Glaubensgrundsätzen ihrer Väter entfremdet waren. Viele von ihnen wussten nicht mal, dass sie Juden waren. Hitlers Brutalitäten erreichten das Gegenteil von dem, was sie erreichen sollten: viele vom Glauben abgefallene Juden kehrten reumütig zum Glauben ihrer Väter zurück. Vielleicht war die religiöse Ignoranz der meisten deutschen Juden der Hauptgrund, warum viele von ihnen die Gefahr Hitlers nicht oder nicht rechtzeitig erkannten.

Jetzt lässt sich Moshe Zuckermanns These erklären, warum deutscher Philosemitismus zumeist ein verkappter Antisemitismus sei. Wiedergeborene Christen befleißigen sich guter Werke, um ein Zeugnis für den wahren Glauben abzulegen. Sie verdrängen ihre wahren Gefühle, um sich mit künstlich-bußfertiger Gesinnung ihren Schulderlass zu verdienen. Ihre uralten Hass- und Ablehnungsgefühle werden überdeckt, um der Welt die neue Gesinnung zu demonstrieren. Lassen die religiösen Sanktionsmechanismen nach, schmilzt der blütenweiße Schnee der frommen Denkungsart und hinterlässt wüste und hässliche Zivilisationsschlacken.

Warum kommen die Deutschen nicht auf die Idee, ihre religiösen Verwicklungen mit religiöser Selbsterforschung zu entwirren und aufzuklären? Weil ausgerechnet Prediger ihnen sagen, sie seien bereits aufgeklärt, hätten es nicht mehr nötig, die Endmoränen ihres Kinderglaubens wegzuräumen. Der Glauben sei in sich bereits Aufklärung.

So bleiben sie unter der Knute einer klerikalen Ideologie, die sie gar nicht wegräumen können, weil sie ihrer Wahrnehmung entzogen ist.

Ist Götz Aly ein typischer Philosemit, der mit wehenden Fahnen auf die Seite der „Geschichtssieger“ übergelaufen ist, um von erschlichener hoher Warte die Deutschen zusammenzustauchen?

Für Aly ist alle Kritik an Broder und Friedman nichts als Antisemitismus. Darunter versteht er die Summe abstoßender Ressentiments: „So gedieh und gedeiht der deutsche Antisemitismus, so entstehen Hass, Bosheit, Scheelsucht und Hämischkeit. Geschieht dem Beneideten ein Missgeschick, bekommt er Schläge ab – wie 2003 Michel Friedman oder jetzt Henryk M. Broder – aalt sich der Neider in Schadenfreude und zischt: Geschieht ihm ganz recht! Auch diese Haltung ermöglichte Auschwitz. Das Wort Schadenfreude gibt es nur im Deutschen – und Neid ist die einzige der sieben Todsünden, die keinen Spaß, sondern hässlich macht.“

Die Deutschen ertrugen nicht mehr das Gefühl der Unterlegenheit gegenüber allseits überlegenen Juden. Da sie keine Möglichkeiten sahen, mit reellen Methoden die Superiorität der Konkurrenten zu brechen, blieb nur noch das Mittel, die Unbesiegbaren zu eliminieren. Adolf Eichmanns eigene Bekenntnisse sind Alys Beleg für seine These, der Völkermord sei die Rache rettungsloser Unterlegenheit.

Eichmann: „Unsere Aufgabe für unser Blut, für unser Volk, für die Freiheit der Völker hätten wir dann erfüllt, hätten wir den schlausten Geist der heute lebenden menschlichen Geister vernichtet. Denn das ist, was ich immer gepredigt habe: Wir kämpfen gegen einen Gegner, der durch viel, viel tausendjährige Schulung uns geistig überlegen ist.“

Die angebliche Herrenrasse litt an unheilbaren Minderwertigkeitsgefühlen. „Superiorität und Selbstbewusstsein einer angeblich besonders edlen germanischen Rasse sprechen aus solchen Sätzen nicht – wohl aber Verklemmtheit und Unterlegenheitsgefühle, selbst empfundener Mangel an Bildung, Lebensklugheit, Wortgewandtheit, wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Erfolg. Der Aufsteiger Eichmann fühlte sich als Untermensch – Obermensch wollte er werden. Sein Motiv hieß Schwäche.“

(Götz Aly in der BLZ: Eichmanns Erben)

An dieser Analyse ist vieles richtig. Die Deutschen hatten, nach zwei verlorenen Weltkriegen und einer macht- und ruhmlosen neueren Geschichte mehr Schwächen und Mängelgefühle, als sie zugeben konnten. Das Gefühl der Rache an der Welt war auf den Siedepunkt gestiegen. Die eigentlich Schuldigen aber waren für sie – nach bewährtem christlichem Muster – die infamen Juden, die Mörder Christi. Sie mussten komplett von der Bühne gefegt werden.

Das soll alles nicht bestritten werden. Dass aber ein Volk, welches seit 2000 Jahren religiös indoktriniert wurde, religiöse Urmotivationen haben könnte, kommt heutigen Historikern nicht in den Sinn. Für sie ist die Moderne säkularisiert und hat mit Religion nichts mehr zu tun.

So muss ihnen entgehen, dass die Geschichte der Moderne nichts ist als ein Ranking der Nationen, welche von ihnen eines Tages vom Vater hören wird: das ist mein auserwähltes Volk, an dem ich Wohlgefallen habe. Spätestens seit dem Jahr 1000 ist die Geschichte des Abendlandes eine einzige Serie erwarteter und enttäuschter Parusien. Ständig wurden neue Termine errechnet, wann der Messias vor der Türe stehen wird. Es gab kein Jahrhundert, wo der Endzeitglaube nicht zu kochen begann.

Hegels Denken ist nichts anderes als die Umwandlung schwäbisch-pietistischer Endzweiterwartungen (Bengel, Ötinger) in philosophische Begriffe. Der Nationalsozialismus war eine schreckliche Mischung aus lang aufgestauter Rache gegen die Welt und der Realisierung eschatologischer Weltbeherrschungsbedürfnisse.

Von diesen unheilvollen Urelementen um ewige Seligkeit und ewige Verdammnis ist bei Aly nichts zu hören. Er entmythologisiert und verharmlost die religiösen Dämonen zu bürgerlichen Untugenden und unerklärbaren Charaktermängeln deutscher Angeber. Götz Alys Rezept gegen diese Gefahren kann nur die Pädagogik der neuen Demut sein. Denkt daran, Deutsche, streckt den Kopf nicht allzu weit und überheblich aus dem Fenster. Ihr könntet nebenbei zu Völkermördern werden.

Alys Häme ist eine auf den Kopf gestellte Häme deutscher Sieger gegen jüdische Angeber. Er dreht simpel und mechanisch den Spieß um und erdolcht die Täter mit deren eigenen Waffen. Der psychische Verstrickungscharakter zwischen beiden Völkern bleibt Aly verborgen. Über die Gründe des verkommenen deutschen Charakters gibt er keine Auskunft und begnügt sich mit schwarz-weißen Kanzelpredigten, die sich nicht scheuen, in einem Aufwasch auch die Kapitalismuskritik der Deutschen als Neid und Eifersucht zu diskreditieren.

Dieser höhnische Rundumschlag schwächt seine Antisemitismus-Analyse in nicht geringem Maß. Das ist jene halbe Aufklärung, die Jaspers einst Aufkläricht nannte. Hier wütet das dualistische Gesetz der Religion: die einen sind auserwählt, die anderen verworfen.

Die Geschichtswissenschaft ist zur Magd der Theologie geworden.