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Mittwoch, 23. Januar 2013 – Antisemitismus und postmoderne Verfälschung der Vergangenheit

Hello, Freunde des Wachstums,

gute Nachrichten aus der Wirtschaft, das Wachstum ist gefährdet. Nicht aus freiem Willen, den die Menschheit bekanntlich nicht hat, und hätte sie ihn, würde sie ihn bestimmt nicht einsetzen, so weit kommt‘s noch, dass das Wesen, das Vernunft hat, dieselbe auch benutzen würde.

Vernunft ist das Kostbarste, was der Geistträger zu bieten hat, also muss sie durch Nichtgebrauch geschont werden. Schließlich ist Vernunft kein Konsumartikel, den man respektlos verbraucht, abnützt und in den Restmüll wirft. Nein, nicht in den Biomüll, Geist ist mehr denn Biologie.

Mit Vernunft muss man umgehen wie früher mit dem neuen Sonntagsanzug. Zur jungfräulichen Schonung muss er erst mal in den Schrank gehängt – und darf erst rausgeholt werden, wenn er nicht mehr passt. Dann bringt man ihn freudestrahlend zum Kleidercontainer: garantiert unbenutzt.

Mit Vernunft hat die Wachstumsbremse gottlob nichts zu tun. Sondern damit, dass den Menschen – unglaublich, aber wahr – nichts mehr einfällt. Die Kreativität streikt und zeigt sich gänzlich abgeneigt. Alle lebensnotwendigen Erfindungen vom Dreirädchen bis zum Dreideedrucker sind bereits gemacht, alle heiligen Schriften schon geschrieben. Suhrkamp, der letzte heilige-Schriften-Verlag, geht auch schon am Krückstock.

Alle Probleme sind gelöst durch nagelneue – pardon, uralte – Erlösungen, die von Erleuchteten regelmäßig überholt und gewartet werden, sodass sie immer aussehen wie aus dem Ei gepellt. Nur die TAZ hat noch nichts begriffen und ruft zum Erfinder-Wettbewerb auf. Wem etwas Ingeniöses einfällt, darf sich

als staatlich geprüfter Erfinder-aus-dem-Nichts-und-ins-Nichts bezeichnen.

Die beste Erfindung erkennt man daran, dass sie sich selbst überholt, zum alten Eisen erklärt, freiwillig die Platte putzt und das Uralte – als das absolut Neue verkauft, ohne dass die Erneuerungswächter Lunte riechen. Die beste Erfindung wäre diejenige, die auf Knopfdruck verkündete: garantiert überflüssig und contra-produktiv. Wer mich erwartet hat, muss ein Vollpfosten sein.

(Hannes Koch in der TAZ: Dem Wachstum fehlen Ideen)

Doch kein Grund zur Sorge. Hier kommt die ultimative Wachstumserfindung. Die Begräbniskosten steigen und sterben muss jeder. Die Grab-Immobilien zeigen die rasantesten Wachstumskurven. Die Zocker haben bereits das neue Boom-Revier auf dem Friedhof entdeckt und schließen Wetten ab auf Mortalitäts- und Senilitäts-Diversitäten. Die Papiere werden ihnen aus den Händen gerissen.

Es gibt törichte, wachstumsfeindliche Greise, die lieber ewig leben wollen, als für unbezahlbare Entsorgungskosten aufzukommen. Immer mehr sterbeunwillige Hinterwäldler begehren, älter als 100 Jahre zu werden. In unsrer Gesellschaft herrscht zunehmend der Geist der Nekrophobie. Hunde, wollt ihr ewig leben?

Hier bahnt sich eine unvermutete Zukunftsperspektive an. Die Menschheit könnte sich ihrem uralten Traum der Unsterblichkeit annähern, um unbezahlbaren Begräbniskosten zu entkommen. Was sich durchsetzen wird, die Todeskosten oder die Übervölkerung des Planeten durch Unsterbliche – darüber mehr in 100 Jahren.

„So betrug Methusalas ganze Lebenszeit 969 Jahre, dann starb er.“ Wenn der Ehrwürdige – Gott habe ihn selig – mit 69 früh pensioniert wurde, lebte er sage und schreibe noch 900 Jahre auf Kosten von Väterchen Staat, der darüber längst den Geist aufgegeben hat. Doch Wunder gibt es immer wieder.

Womit wir bei der ultimativen Erfindung aller Zeiten angekommen wären, der Wundererfindungsmaschine. Oh pardon, die war ja schon den Neandertalern bekannt. Unter dem Namen: Religion. Bange Frage: wie werden wir all diese Teufelserfindungen wieder los, bevor wir unser blaues Wunder erleben?

 

Netanjahu hat einige Sitze verloren, insgesamt aber gewonnen. An ihm kommt niemand vorbei. Ein bisschen Atemholen in Israel? Der ultrarechte Bennet hat aus dem Stand 12 Sitze gewonnen. Nach Uri Avnerys Schätzung werden in der neuen Knesset mindestens ein Dutzend Faschisten sitzen. Was er und Obama von Sara Netanjahus Mann Bibi halten, beschrieb er gerade:

„Ich stimme mit Präsident Barack Obama überein, dass Netanjahu uns in eine sichere Katastrophe führt. Diese totale Zurückweisung des Friedens, die Obsession mit den Siedlungen, die Intensivierung der Besatzung – all dies macht Israel (Israel selbst, auch ohne die besetzten Gebiete) unaufhaltsam zu einem Apartheidstaat. Schon während der ausgehenden Knessetperiode sind abscheuliche antidemokratische Gesetze verabschiedet worden. Nun, da all die moderaten Likudmitglieder entfernt worden sind, wird sich dieser Prozess weiter beschleunigen. Mit Lieberman und seinen Gefolgsleuten, die sich dem Likud angeschlossen haben, sehen die Dinge sogar noch gefährlicher aus. Netanjahu wird noch extremer handeln müssen, aus Angst, die Führung an Lieberman zu verlieren, der jetzt die Nummer Zwei ist. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass es Liebermann noch gelingen wird, ihn irgendwann unterwegs zu ersetzen.“

(Uri Avnery: „Wen wählen?“)

Alles okay in Eretz Israel? Jetzt stößt ein weiterer hoffnungsvoller Bursche zum Duo Bibi-Avigdor: Naftali Bennet: „Das Auftauchen von Naftali Bennet als der Stern der Wahlen, macht die Sache noch verzweifelter. Es scheint eine Regel zu sein, dass auf der israelischen Rechten keiner so extrem ist, dass nicht ein anderer gefunden werden kann, der noch extremer ist.“

Bennet ist bei den Ultras aufgewachsen, im spirituellen Zentrum des ganzen Landes: „Generationen aus engstirnig ethnozentrischer, fremdenfeindlicher Erziehung haben eine Parteiführung fanatischer nationalistischer Rechten erzeugt. Als ob dies noch nicht genug wäre: diese Parteien wollen uns die jüdische Halacha überstülpen, so wie die muslimischen Parteien der arabischen Welt die Sharia aufzwingen möchten. Sie sind fast automatisch gegen alle fortschrittlichen Ideen, wie z.B. eine schriftliche Verfassung, Trennung von Synagoge und Staat, zivile Heiraten, gleichgeschlechtliche Ehen, Abtreibung und was es sonst noch gibt.“

Das sind horrende Visionen – die man bei uns aus dem Internet beziehen muss, weil die philosemitischen Medien alle unverfälschten Informationen aus Israel als antisemitisch einstufen. Während Israel um seine Zukunft als demokratisches Gemeinwesen ringt, herrschen bei uns selbsternannte Antisemitismus-Wächter, die jede Kritik am heiligen Land unterbinden.

Deutschland könnte eine immens wichtige Rolle spielen, wenn es Druck auf das Regime in Jerusalem machen würde, energisch in Richtung Frieden zu gehen. Dasselbe gilt für ganz Europa und Amerika. Stattdessen herrschen Schockstarre, Feigheit vor dem Freund und Kritikimpotenz. Muss das Kind in den Brunnen gefallen sein, bis man erklärt: die Antisemitismus-Wächter mögen sinnvolle Motive bei ihrer Hatz haben, doch was sie tun, ist gefährlich für den Staat Israel? Sie verhindern eine internationale Koalition, die Israel eindrucksvoll und penetrant den Spiegel vorhalten könnte: wenn ihr so weiter macht, gefährdet ihr nicht nur euch selbst, sondern die ganze Region – und weit darüber hinaus.

Was hierzulande nie zur Sprache kommt: die Antisemitismus-Wächter unterstützen nolens volens die friedensfeindlichen Regierungen in Israel. Die kritischen Minderheiten im Land – übrigens auch Juden – werden kaltlächelnd als Hasser der jüdischen Nation verleumdet und im Regen stehen lassen. Avnery, Zuckermann, Gideon Levy, die Zeitung Haaretz, Avraham Burg, Gorenberg und viele andere werden von der deutschen Presse nicht gebührend zu Worte kommen lassen. Sie werden nach Strich und Faden deklassiert und ins Abseits gestellt. Da sie auch Juden sind, könnte man den Hass gegen sie mühelos als Antisemitismus II deklarieren.

Haben Merkel & Co einen einzigen Gedanken darauf verschwendet, dass ihre „bedingungslose“ Loyalität mit Israel eine bedingungslose Diskriminierung aller kritischen Israelis bedeutet? Die Kanzlerin und ihr markanter Außenminister trampeln über das Thema wie Lutheraner über Heiden und Gottlose. Geradezu aggressiv wird hierzulande behauptet, in Deutschland gebe es kein Kritikverbot an Israel. So Tania Martini in der TAZ:

Das sei eine selbst erfundene Motivation, um aus allen Rohren gegen Israel zu feuern. Hat Tania Martini in dieser Angelegenheit unter israelischen Kritikern recherchiert? Wie erklärt sie die riesige Kluft zwischen deren Äußerungen und den Lauheiten und Leisetretereien ihrer deutschen Kollegen? Natürlich kann man hierzulande Israel kritisieren – wenn man seinen Job loswerden will. Schrieb vor kurzem Martinis TAZ-Kollege Stefan Reinecke (?). Dazu kein Mucks von Martini.

Auf diesem gegenseitigen Ignoranz-Niveau laufen heute die meisten öffentlichen Auseinandersetzungen. Journalisten pfeffern gern anonym in die Luft mit ihrer Lieblingsformel: Namen werden nicht genannt. Wer Namen kennt, gehört zur Macht-ist-Wissen-Elite. Da darf man doch nicht illoyal sein. Ross und Reiter werden dem unheiligen Nießbrauch des Pöbels entzogen. In der Vierten Gewalt will man sich nicht als Nestbeschmutzer der drei anderen Gewalten betätigen.

Das Reich der immunisierten Macht wächst und gedeiht. Kein neugermanischer Helden-Schreiber würde öffentlich bekennen, er habe die Hosen gestrichen voll, wenn er über das brisanteste Thema der Gegenwart schreiben muss. Also kann man das Gegenteil munter behaupten. Umfragen zu diesem Thema in den Mitläufer-Etagen der Redakteure gibt es zufälligerweise nicht.

Die Riege der Antisemitismus-Wächter hat Angst, dass in deutschen Landen erneut das Unheil zu grassieren beginnt. Die Angst ist berechtigt. Die Deutschen haben den wichtigsten Kausalitäten des Antihumanismus und Antisemitismus noch nicht mal ins Auge geschaut: ihrer menschenliebenden Religion, die die Geschichte der Deutschen über Jahrhunderte verwüstet hat. Seltsam nur, dass die Antisemitismus-Wächter diesen Punkt mit keiner Silbe erwähnen.

Wenn ihre falsche Freundin Merkel ein Lutherjahr als nationales Ereignis ankündigt, hören wir von Broder kein Wort. Der germanische Reformator war ja nur der verhängnisvollste Judenhasser der deutschen Geschichte. Glauben die Oberpopen, sie könnten leise Sorry sagen und die giftige Suppe ist gegessen?

Ist Antisemitismus in Deutschland eine wirkliche Gefahr oder wird das Thema von Interessierten nur aufgebauscht, um durchsichtige Zwecke der Tabuisierung durchzusetzen? Solange Deutsche und Juden die Ursachen ihrer neurotischen Verstrickungen nicht zur Kenntnis nehmen, sitzen wir auf einem Minenfeld.

Müssten Juden als traumatisierte Opfer der Deutschen nicht untrügliche Antennen für die Gefahr haben? Ängste und Traumata sind keine sachlichen Ratgeber, gerade auf diesem Felde nicht. Die unterdrückten Schuldgefühle der Täter erst recht nicht. Es hat auch keinen Zweck, sich für unfehlbar zu erklären, wie Graumann im Streitgespräch mit Augstein betonte, indem er Ellie Wiesel zitierte: Wir haben keine Antennen für die Gefahr, wir sind die Antennen. Wer sich in diesem unübersichtlichen Gelände für allwissend erklärt, sollte keinen Dialog mehr führen, sondern Anweisungen erteilen.

Sowohl Täter wie Opfer sollten ihren spezifischen Verzerrungsfaktor berücksichtigen. Hier hülfen nur sorgsame Gespräche auf gleicher Augenhöhe. Auch die Täter sind keine mehr und haben ein Recht, sich so angstfrei wie möglich zu äußern. Doch solche Gespräche sind weit und breit nicht zu sehen. Die Deutschen kennen ihre Religion nicht, vom Judentum verstehen sie überhaupt nichts. Ob Juden die deutsche Situation aus deren Innensicht kennen, ja kennen wollen, darf ebenfalls bezweifelt werden.

Gershom Scholem war einer der letzten, der noch etwas über die deutsch-jüdische Symbiose zu sagen hatte. Persönlichkeiten wie Gershom Scholem, Martin Buber und Jeshajahu Leibowitz leben nicht mehr. Was nicht bedeutet, dass man ihnen in allen Punkten zustimmen müsste. Aber sie konnten noch Streitgespräche führen.

Die christlichen Theologen sind zu Meistern der Mimikry geworden und überidentifizieren sich mit den Opfern. Bis heute weigern sie sich, die Rolle ihres Credos bei der Aufzucht der NS-Schergen im Religions- und Konfirmandenunterricht aufzudecken. Sie geben sich als Wendehälse mit Liebesphraseologie, die die Leichenberge in ihren geistlichen Katakomben verleugnen.

Fast unglaublich, sie streichen einige Hass-Passagen aus den Evangelien, interpretieren und polieren sie so lange, bis sie ins Gegenteil verkehrt sind und glauben, sie hätten die Quellen ihrer Judenfeindschaft mit Hilfe des Heiligen Geistes versiegelt. Kaum ist die bigotte Schuld- und Schamzeit verstrichen, werden die verbannten Texte wieder aus dem Keller geholt, das Spiel beginnt von vorne. So geschehen unter Ratzinger, der jetzt schon wieder die uralten Liturgieformeln von den infamen Juden genehmigt hat.

Das sind die Wurzeln des Antisemitismus, die von den jetzigen Antisemitismus-Wächtern nicht mal gesehen werden. Stattdessen machen sie dämliche Assoziationsvergleiche und sehen vor lauter Klischees und Reaktionsbildungen den Wald nicht mehr. Augstein, was fällt mir bei Lager ein? Aha: lupenreiner Antisemitismus. Dann wird es höchste Zeit, den Lagerwahlkampf der deutschen Parteien als besonders hinterlistige Antisemitismus-Kampagne unter Quarantäne zu stellen.

Da alle NS-Schergen deutsch sprachen, ist es kinderleicht, mit jedem deutschen Wort unheilvolle Assoziationen zu verbinden. Am besten, wir stampfen die deutsche Sprache ein und erklären alle Deutschen zu Kollektivtätern.

Wenn jeder seine subjektive Antisemitismus-Definition in vatikanischer Unfehlbarkeit herbeten kann, sollten wir nicht mehr von Wissenschaft, sondern von Exorzismus auf Kaffeesatzniveau sprechen.

Aus einem Interview in Kulturzeit mit Micha Brumlik: „Herr Brumlik, was ist Antisemitismus?“ Antwort: „Antisemitismus ist Judenhass.“ Upps, so genau wollten wir das gar nicht wissen. Keine Nachfrage der Interviewerin mehr, auf welchem vergifteten Boden der Judenhass gewachsen ist. Solche Leerformeln bringen nicht den geringsten Erkenntnisfortschritt. Woher die Wurzeln dieses menschenfeindlichen Gefühls? Wie kann ich mich dagegen schützen? Wie können wir den Anfängen wehren?

Die Religionen kratzen sich kein Auge aus, ihre Kumpanei in Verleugnung religiöser Ursachen ist hermetisch. Ihre Koalition in der Einführung der Beschneidungs-Halacha hat ihre communio sanctorum ein weiteres Mal bestärkt.

Eine der schlimmsten Ursachen des schleichenden Antisemitismus versteckt sich an ganz anderer Stelle: in der postmodernen Philosophie der Zeit, die in gottgleicher Allmacht jede unliebsame Vergangenheit glaubt, umzudeuten, verleugnen oder verfälschen zu dürfen. Was Vergangenheit ist, bestimme noch immer ich. Wenn ich etwas als Altes, Beschämendes und Unerfreuliches empfinde: weg damit und in den Trichter mit den Bösewichtern.

Gerade in unverfänglichen Themen offenbart sich die Mentalität einer Vergangenheitsverleugnung, dass einem die Ohren schwirren. Soll man Neger aus Kinderbüchern streichen, weil der Begriff heute nicht mehr koscher ist? Ja, natürlich, sagen viele Mediale.

Wie wir Luthers Antisemitismus aus den Heiligen Schriften herausradiert haben, so auch Nigger, Neger und Zigeuner. Da wäre jedes Neusprechministerium in Orwells 1984 bleich geworden vor Neid, wie Untertanen freiwillig die Vergangenheit ad libitum entstellen.

Fälschung der Vergangenheit – früher Säuberung der Geschichtsbücher zum höheren Ruhm von Despoten genannt – ist nicht erlaubt, sondern gar unvermeidlich, schreibt ein Burkard Müller in der SZ:

„Also erst einmal: man darf die Geschichte nicht nur ändern, man kann ja gar nicht anders. Geschichte ist eben nicht die Summe des Vergangenen als solche, deren Fakten sich herausmeißeln ließen wie ein Saurierknochen aus dem Fels, sondern vielmehr das vergangene in seinem Bezug auf die jeweilige Gegenwart … Wer hier Bestandsschutz einklagt, verkennt die sich unablässig verschiebende Wechselseitigkeit des Ganzen; er benimmt sich naiv … Ja, eigentlich haben wir es bei dieser Debatte mit zwei konkurrierenden Heucheleien zu tun. Die eine gibt vor, das Alte sei schon als solches heilig, um dem Neuen aus dem Weg zu gehen. Das andere führt punktuell das Neue ein, damit insgesamt doch alles beim Alten bleibt.“

Es geht gerade nicht darum, das Alte als unantastbar-heilig, sondern als zerrüttet und brandgefährlich im nie erlöschenden Kollektiv-Gedächtnis der Menschheit aufzubewahren. Hier aber wird Vergangenheit zur Dirne erklärt, die jedem Reputationslüstlein der Gegenwart zur Verfügung stehen muss. Wenn schon Luther zum Saubermann gefälscht, pardon, umgedeutet und exegesiert werden darf, dann wird es nicht mehr lange dauern, bis wir Hitler umfunktionieren und ihn unter der Formel „Das verkannte Genie“ bemitleiden dürfen.

Die postmoderne Zeitphilosophie ist an sich eine antisemitismus-haltige Schrapnell-Mine, die bald alle dunklen Flecken unserer nationalen Biographie ausbrennen wird. Vergangenheit wird zum Bestellkatalog. Gestern Unheil, heute Heil, morgen das nächste Unheil, das ich durch harmlose Textanpassung nach Belieben zum neuen Heil erklären kann.

Antisemitismus-Experte müsste jeder Deutsche sein. Diese mühsame Selbsterforschung den Juden zu überlassen ist selbst antisemitismus-verdächtig. Die Juden werden wieder allein schuld sein, wenn die Dämonen zurückkehren. Ja, warum habt ihr denn nicht aufgepasst, wir haben euch doch alle Vollmachten der Recherche und der Zensur überlassen? Auch diese Hinterlist überschlauer Germanen wird von niemandem angesprochen.

Seriöse Antisemitismus-Wächter wären daran zu erkennen, dass sie das Eine tun und das Andere nicht lassen. Sie folgten dem Motto: keine Wiederholung der Vergangenheit, wehret den Anfängen – und kritisierten dennoch die Unmenschlichkeiten einer israelischen Theokratie.

Motivationsanalysen ergeben nicht die geringste Korrelation mit einer falschen oder richtigen Sache. Der grösste Hass kann am scharfsichtigsten sein, blinde Liebe und Sympathie können brandgefährliche Tatsachen übersehen. Kritiklose Loyalität hofft alles, erduldet alles und glaubt alles.

Der Nachkriegsprozess über das Thema Antisemitismus ist auf der ganzen Linie gescheitert. Er muss von vorne beginnen.