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Montag, 07. Januar 2013 – Kritik und Zucht

Hello, Freunde von Marx,

von Reinhard Kardinal Marx, der ein echter Scherzbold sein muss und ein Buch mit dem Titel „Das Kapital“ herausgegeben hat. Echtes Kapital bestehe nicht aus vergänglichem Tand, sondern aus unverrottbaren Himmelsschätzen, weswegen die Erde schnellstmöglich verrotten müsse. Diesen frommen Wunsch nennt das herzige Kerlchen „eine Quelle des Friedens und des Fortschritts“. Religion sei eine segensreiche Erfindung, made in heaven. Copyright bei Benedikt.

Den Atheismus, der die Erde bewahren will, nennt der joviale Herr einen „aggressiven Atheismus“. Womit die abendländischen Werte wieder richtig gestellt wären.

Wenn Kirchen arm und bedeutungslos sind, leiden und jammern sie demonstrativ, wir sprechen von der ecclesia patiens. Wenn sie reich und mächtig geworden sind, zeigen sie der Gesellschaft, wo der Hammer hängt. Wir reden von der ecclesia militans oder triumphans.

Seltsamerweise kennen die Deutschen nur die ecclesia patiens, obgleich sie doch, so lang ist‘s noch nicht her, einer ecclesia militans et triumphans begeistert gefolgt sind. Jene nannte sich nicht Kirche, sondern NS-Erweckungsbewegung, Drittes Reich, 1000-jähriges Reich, alles Begriffe aus der christlichen Eschatologie. Der Inhalt war derselbe, Prozessionen, Fahnen, Aufmärsche, Choräle und Predigten waren identisch mit kirchlichen Massenfesten: Deutschland erwache, das Heil ist nahe herbeigekommen.

Ganz vorne auf hohem Podest, dem Himmel am nächsten, stand der Stellvertreter der Vorsehung und predigte den Neuanfang der

Schöpfung: das Alte ist vergangen, siehe, wir machen alles neu.

Der Führer war kein Gegner der Kirche, sondern Gegner einer veralteten und verrotteten Kopfnicker-Kirche: der ecclesia patiens. Hätte er Erfolg gehabt, hätten sich alle Kirchen in Wohlgefallen aufgelöst und wären dem wahren Messias gefolgt.

99% aller Gläubigen aller Konfessionen hatte der wiedergekommene Christus ohnehin schon am Bändel. Ob Katholiken, Protestanten, Reformierte, Pietisten, Lutheraner: die Ausgießung des Heiligen Geistes – so Nazi-Physiker C. F. von Weizsäcker – hatte alte Konfessionsstreitigkeiten überwunden und eine schlagkräftige ökumenische unio germanica aller Gläubigen geschaffen.

Die deutschen Kirchen werden umso mächtiger, je mehr ihr der Pöbel wegrennt. Die Abstimmung mit den Füßen deuten sie als Wahrheitsbeweis, denn der Pöbel sei nicht sonderlich wahrheitsfähig. Dieser Deutung folgen die politischen Eliten, die ohnehin der Meinung sind, dass eine Demokratie ohne christliche Werte zusammenbrechen muss.

Schon aus Staatsraison müssen die Kirchen erhalten werden. Also werden sie in oberen Etagen immer mächtiger, je bedeutungsloser ihre Basisarbeit wird.

In der Beschneidungsfrage war die Mehrheit des dummen Volkes gegen den jahrtausendealten Kultus auf Kosten der Unmündigen. Doch die Eliten der Politik bildeten eine entente cordiale mit drei unfehlbaren Religionen, fanden rechtzeitig in der untersten Schublade ihr Gewissen, das im Zweifelsfall per pastoralem GPS vom Himmel gelenkt wird.

Nichts hilft besser gegen gottlose Horden als ein reaktiviertes Sensorium für das Heilige. Dies ist immer eso- und exoterisch. Massen müssen vor der Türe bleiben, ins Allerheiligste darf nur geladenes und ausgewähltes Publikum.

In Berlin hat nun die evangelische Militanzkirche den gottlosen Humanisten einen Saal gekündigt, obgleich diese in den kirchlichen Räumen eine Obdachlosenambulanz einrichten wollten.

Die Evangelen folgen den Spuren Augustins: die Tugenden der Heiden sind goldene Laster. Denn mit Humanisten könnten die Protestanten auf keinen Fall zusammenarbeiten, weil der HVD kirchenfeindlich sei. „Die Mitglieder des Humanistischen Verbandes treten dafür ein, die Dominanz der christlichen Kirchen einzudämmen. Das ist ein anti-kirchliches Ziel und macht eine Zusammenarbeit schwierig“, sagt ein Vertreter der Kirche.

Wie kommen Atheisten dazu, Nächstenliebe zu üben, wo dieses Gewächs doch auf biblischem Boden gewachsen ist und nicht plagiiert werden darf? Vielleicht sogar, um zu beweisen, dass eine Gesellschaft auch ohne Predigtgesäusel zusammengehalten werden könnte?

(Thomas Klatt in der BLZ: Kirche kündigt Obdachlosenambulanz die Räumlichkeiten)

 

Kann man in Deutschland über Juden sprechen wie man über Deutsche, Amerikaner und Italiener spricht? Juden waren die Opfer unserer Väter und Vorväter. Noch immer leiden sie an den Langzeitfolgen ungeheurer Verbrechen. Muss man sie nicht besonders rücksichtsvoll behandeln? Ihnen einen Opferbonus einräumen? Unbedingt.

Doch wie soll der Bonus aussehen? Gilt Harald Schmidts „alle Menschen sind es wert, durch den Kakao gezogen zu werden“, auch für Juden? Oder müssen Ausnahmen gelten? Schmidt selbst, ein ewiger Ministrant, würde nie den Papst auf die Schippe nehmen. Obwohl Juden Spezialisten in Humor sind, sind Witze über sie hierzulande tabu. Nur Juden dürfen über Juden Witze machen. Vor dem Witz sind alle Menschen gleich, doch manche sind gleicher als die Gleichen, bei ihnen hört der Spaß auf.

Wie steht‘s mit Kritik? Kritik gibt es in so vielen Variationen, wie es Menschen gibt. Sachliche, unsachliche, übertriebene, unterkühlte, hitzköpfige, maue, ehrliche und unehrliche, feindselige und freundschaftliche. Demokratie lebt von der Kritik. Jeder Bürger soll furchtlos vor Sanktionen seine Meinung sagen können.

Kein Mensch liebt Kritik, unser Selbstbewusstsein ist so angeknackst, dass wir ein Leben lang auf Bestätigung und Beifall aus sind und die kleinste Kritik als Affront und Verletzung empfinden.

Wie kann man freundschaftliche von feindseliger Kritik unterscheiden? In der äußeren Form nicht. Freundschaftliche Kritik kann emotional, übertrieben, ja explosiv sein, weil auch die Gefühle der Kritiker aufgewühlt sein können. Auch freundschaftlichste Kritik ist nicht immer frei von Aggressionen, die den sachlichen Gehalt der Kritik beschädigen, ja ruinieren können. Wenn Aggressionen den Sachgehalt der Kritik überwölben, kann der Kritisierte sich zu Nichts reduziert fühlen. Dann ist er nicht mehr imstande, die Gefühle vom Sachgehalt zu trennen.

Ein emotionaler Kritiker kann es bewusst gut meinen, sein ES aber möchte dem andern am liebsten die Gurgel rumdrehen. Treffen Hitzköpfe aufeinander, könnten beide die Wahrheit gepachtet haben und dennoch wird es nur schwerlich zur Verständigung kommen.

Es gibt auch den umgekehrten Fall. Gibt sich einer besonders sachlich, kann seine Unterkühltheit genau so unauthentisch sein wie die Übertreibungen eines Brausekopfes. Der Kritisierte empfindet die mangelnde Emotionalität wie eine Lieblosigkeit. „Mein Mann liebt mich nicht mehr, er hat mich heute noch nicht geprügelt.“

Da wir in der Kinderstube nicht streiten gelernt haben, ist jede tiefergehende Auseinandersetzung ein Wagnis. Für Liebende im Honeymoon kann der erste Zwist der Anfang vom Ende sein, weil man den Liebsten plötzlich wie eine Furie erlebt und Liebe und Sympathie nur als Süßholzraspeln erlernt hat.

Selbst bei knallharten Sachgelehrten kann ein wissenschaftlicher Streit so rasant werden, dass Freundschaften für immer zerbrechen. In einer leidenschaftlichen Debatte im Bertrand Russell-Seminar in Oxford habe Wittgenstein ihn mit dem Schürhaken bedroht, berichtet Karl Popper in seiner Autobiografie.

Wir wissen, was die Kirche mit jenen Freigeistern anstellte, die ihren Wahrheiten widersprachen. Je dogmatischer und unfehlbarer die Haltung eines Gesprächspartners, je unmöglicher ein „angstfreier Diskurs“.

Das Maß der eigenen gefühlten Verletzung ist keineswegs das objektive Maß feindseliger Kritik. Es kann auch Zeichen einer besonders labilen Persönlichkeit sein, die alles als Ablehnung und Hass betrachtet, was an ihrer Grandiosität zweifelt und ihren Behauptungen widerspricht. Sich schnell verletzt fühlen, kann eine Immunisierungsstrategie sein. Lieber gebe ich mich verletzbar, als dass ich meine heiligen Überzeugungen in Frage stellen lasse.

Es gibt unendlich viele Immunisierungsstrategien. Selbst schnelle Zustimmung und scheinbare Kritikfreundlichkeit kann eine raffinierte Form des Abtropfens sein. Hier ins Ohr rein und da wieder raus. Ich sage zu allem Ja, weil mir eh wurscht ist, was die Welt über mich denkt.

In den Medien wird jeder abgeschlachtet, der in der Debatte Recht haben will. Wer nicht sofort den Degen senkt – besonders im Streit mit Medien, die immer Recht haben – ist ein unerträglicher Querulant und Rechthaber. Wenn der alte Günter Grass seine Position verteidigt, hat er schon deshalb Unrecht, weil er sein Recht verteidigt. Ergib dich auf der Stelle oder du bist ein Grantler, Zyklop und Höhlenbewohner.

Wie unterscheidet man einen bornierten Rechthaber – der gar nicht auf die Idee kommt, dass er Unrecht haben könnte –, von einem, der aus Respekt vor dem Wahrheitsgehalt seiner Rede seine Position bis aufs Messer verteidigt? Bis vor kurzem bewunderten wir noch die Galileis aller Länder, wenn sie dem Furor der Kirche widerstanden. Heute würde Galilei von Kirchen und ihren medialen Schutztruppen an der nächsten Biegung des Flusses beerdigt werden.

Luther wagte es noch – natürlich nur unter Begleitschutz des Höchsten – dem Kaiser und der ganzen Elite des Landes zu widerstehen. Heute in keiner Inszenierung denkbar. Doktor Martinus würde nicht zum Kaiser vordringen, nicht mal zu Gauck. 500 Meter vor dem Schlossportal würde man ihn abfangen und in der nächsten Psychiatrie verschwinden lassen.

Sachliche Kritik kann man von unsachlicher nur unterscheiden, wenn man Sache zulässt. Sache ist immer Wahrheit einer Sache. Wer generell alle Wahrheit leugnet – wie die Postmoderne –, ist am dogmatischsten. Sie hat immer Recht, weil sie kein Recht zulässt. Wenn sich niemand mehr irren kann, ist jeder unfehlbar geworden.

Durch Nichtrechthabenwollen besiegt die Postmoderne alle alteuropäischen Trottel, die noch nicht bemerkten, dass es keine sachliche Wahrheit gibt. Ihre Toleranz ist nur Talmiware, weil nichts existiert, was sie nicht tolerieren könnte. Sie toleriert alles, selbst die These, dass man ihr morgen vor dem Frühstück den Kopf abschlagen wird. Ihr fiel gar nicht auf, dass despotische Zeiten angebrochen waren, die sie genau so toleriert hatte wie jede verbrauchte und langweilige Demokratie.

Sokratische Gespräche sind heute weniger denkbar als selbst im hohen Mittelalter, wo es – natürlich nur in gelehrten Kreisen – scharfzüngige und faire Debatten gab. Allerdings nur unter dem Vorzeichen der doppelten Wahrheit. Wer seine ketzerische Meinung im normalen Leben verbreiten wollte, kam aufs Schafott.

Heute gibt es keine sinnvollen Debatten mehr. Es herrscht ein dualistisches Entweder-Oder. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Wer den Meinungen einer kleinen Verleger- und Edelschreiberclique widerspricht, wird zum intoleranten Vernünftler oder potentiellen Terroristen erklärt. Argumente werden keine ausgetauscht, stattdessen ist jeder zum unfehlbaren Motivationsschnüffler oder Gesinnungs-Röntgenologen geworden.

Wer eine falsche Motivation hat, hat immer Unrecht. Es geht nur um Zuordnung zu Parteien, Gruppen und ideologischen Lägern. Wer die schwarze Motivation eines anderen wie einen Skalp vorweisen kann, hat den andern erledigt. Aus einer bösen Seele kommen böse Gedanken. „Was aber aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen hervor und das verunreinigt den Menschen.“ ( Neues Testament > Matthäus 15,18 / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/15/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/15/“>Matth. 15,18)

Das ist die Psychologie des Neuen Testaments. Aus einem reinen und gläubigen Herzen kommt nur Reines, aus einem ungläubigen Herzen nur Böses. Hat man das Herz zugeordnet, muss man Gedanken und Taten nicht mehr überprüfen. Ama et fac quod vis, liebe und tu, was du willst. Liebst du Gott, kannst du dir jede Schweinerei erlauben, sie ist von der Liebe gedeckt. Ist Gottes Liebe nicht in dir, kannst du wie Bill Gates Milliarden gespendet haben, und du bist dennoch nur ein verdeckter Bösewicht, der sein verworfenes Herz hinter guten Taten verstecken will.

Wer nicht den göttlichen Röntgenblick für das Innere eines Menschen hat, sollte vorgehen wie ein rationaler Mensch. Er betrachte die Taten des Menschen, höre sich seine Gedanken an, vergleiche beide miteinander und schließe dann auf das „Herz“ im Modus einer vorsichtigen Vermutung. Entscheidend bleiben die sinnlich-überprüfbaren Verhaltensweisen eines Andern. Ein Mensch beweist sich nicht durch eine unbekannte Innerlichkeit, sondern durch offene Worte und Taten.

Sokrates verglich die Worte mit den Taten eines Menschen. Stimmten beide überein, war dies ein verlässlicher Hinweis für die Wahrhaftigkeit eines Menschen.

In Antisemitismus-Streitigkeiten geht es nie um die Taten eines Menschen, es geht immer nur um seine Worte. Jan Fleischhauer hat als erster verwundert die Frage gestellt, wie ein Mensch, den er kennt, der bislang noch nie als Antisemit aufgefallen ist, über Nacht als Judenhasser enttarnt werden konnte – obgleich sein bisheriges Verhalten noch nie Arges gezeigt hat. Hat die ganze SPIEGEL-Redaktion gepennt? Ist sie einem Schwindler aufgesessen?

Auch BILD-Blome müsste sich dieselben Fragen wie Fleischhauer stellen. Albert er jede Woche mit einem Wolf im Schafspelz herum?

Die Sprache wird in den Entlarvungsprozessen als untrügliche DNA-Entlarvungsmethode benutzt. Doch jeder weiß, dass, wenn zwei dasselbe sagen, sie nicht das Gleiche meinen müssen. Jeder Begriff hat einen Bedeutungshof. Mit demselben Begriff können sich viele unterschiedliche Konnotationen verbinden.

Wenn Augstein das Wort Lager benutzt, muss es das nationalsozialistische Wort für KZ sein, andere Lager gibt es nicht. Konsequenterweise dürften die Deutschen kein Deutsch mehr sprechen, denn ihre Sprache ist von den Nationalsozialisten verseucht worden.

Hier entscheidet übrigens nicht die Abkunft aus dem Herzen, das mit demselben Wort unterschiedliche Konnotationen verbinden kann, hier entscheidet, wer die Hoheit über die Deutung besitzt. Über den Sinn des tief im Abendland verankerten Satzes: „Arbeit macht frei“, darf nicht mehr nachgedacht, der Satz nicht mehr zitiert werden, weil er am Eingangstor eines KZs eingraviert war.

Doch das ist nur eine Variante der Herzensüberprüfung. Die Wortwahl lässt eindeutig auf das Innere eines Menschen zurück schließen. Der hat X gesagt, also hat er einen präzis angebbaren Charakter X. Schwankungen, persönliche Konnotationen, semantische Bedeutungshöfe mit frei flottierenden Begriffsbedeutungen – alles Nonsens. Die gegenwärtige Streitkultur besteht nur noch aus Erschnüffeln der schäbigen Motivation.

Die Medien sind wie besessen von dieser Methode. Schreibt Günter Grass ein Gedicht aus Sorge um einen Staat, den er vor sich selber warnen will: solche Motivationslagen gibt es nur noch bei Rosamunde Pilcher. Bei den Medien gibt es nur eine einzige Motivation: da will sich einer wichtig machen. Da will einer groß raus kommen.

Die Medien unterstellen genau dies, was sie offenbar selbst dazu getrieben hat, in einer Gazette zu schreiben. Wollten sie sich als Vordenker der Öffentlichkeit hervortun, als Vermittler zwischen Eliten und Volk, als Vierte Gewalt zur Überprüfung der drei andern, als Hohepriester mit der Macht des Wortes?

Schnickschnack. Wendet man ihre Motivationsmethode auf sie selbst an, sind sie reine Angeber, Aufschneider und Wichtigtuer, die nur das Glück haben, ihre Windigkeit hinter hohlen Phrasen zu verbergen. Sie sind die autokratischen Beherrscher des Forums. Nicht weil sie besonders qualifiziert wären, sondern weil Glück und Zufall es so wollten.

Dass die Debattenkultur der Gegenwart vornehmlich auf dualistischer Gesinnungsschnüffelei beruht, kann gar nicht anders sein, denn die Gesamtatmosphäre ist zunehmend religiös geprägt. Religiöser Geist erzeugt religiöse Methoden.

Was sagt Religion zur Kritik? Erst mal gar nichts, das Wort existiert in den heiligen Schriften nicht. Es ist wie beim Begriff Natur, den man unter dem diffusen Begriff Welt (Kosmos) suchen muss. Wie klänge das: Wer die Natur liebt, der kann nicht ins Reich der Himmel kommen? Habt nicht lieb den Kosmos; wer den Kosmos liebt, hasset mich?

Jeder kennt das biblische Äquivalent zu Kritik: es ist die Züchtigung. „Wen Gott liebt, den züchtigt er. Wer die Rute spart, der hasst seinen Sohn. Zucht hat lieb, wer Erkenntnis liebt, wer die Rüge hasst, der ist dumm. Der weise Sohn liebt Zucht, aber der Spötter hört nicht auf die Schelte. Wer trotz aller Zurechtweisung halsstarrig bleibt, der wird plötzlich, unheilbar zerschmettert. Rute und Rüge verleihen Weisheit; ein Junge, sich selbst überlassen, bringt seiner Mutter (!!) Schande. Züchtige deinen Sohn, so wird er dir Erquickung schaffen. Wer von Jugend auf verzärtelt wird, muss dienen und endet schließlich im Elend. Du darfst dem Knaben die Zucht nicht ersparen; schlägst du ihn mit der Rute, so verdirbt er nicht. Wohl schlägst du ihn mit der Rute, dafür wirst du sein Leben vom Tode erretten.“

Ist Züchtigung dasselbe wie Kritik? Auf den ersten Blick ähneln sie sich. Kritik und Zucht wollen Gutes tun und ihre Zöglinge vor dem Verderben retten.

Gott züchtigt die Menschen, um ihnen seine Liebe zu erweisen. „Welche ich lieb habe, die züchtige ich“, steht auch im Neuen Testament. „Indem wir aber gerichtet werden, werden wir vom Herrn gezüchtigt, damit wir nicht mit der Welt verurteilt werden.“ „Jede Züchtigung aber, wenn sie da ist, scheint uns nicht Freude, sondern Leid zu sein; danach aber bringt sie als Frucht denen, die dadurch geübt sind, Frieden und Gerechtigkeit.“

Kurz nach dieser scheinbaren Ähnlichkeit zwischen Kritik und Züchtigung trennen sich die Wege. Rationale Kritik will zur Selbsterkenntnis beitragen, zur Stärkung der moralischen Autonomie. War die Kritik berechtigt, bin ich ein Stück autonomer geworden und benötige den Kritiker in diesem Punkte nicht mehr. Kritik dient der Erkenntnisvermehrung und der zunehmenden Loslösung vom Kritiker. Durch Kritik wird Einsicht vermittelt, womit der Kritiker sich peu à peu überflüssig machen kann.

Nicht so bei göttlicher Züchtigung, die keine Loslösung von Gott gestattet.

Kritik hingegen ist keine Strafe, denn kein Mensch macht freiwillig Fehler, wie Sokrates behauptet. Er muss seinen Irrtum korrigieren, kein radikal Böses in seinem erbsündigen Herzen ausrotten.

Zucht ist Strafe und jede Strafe ist sinnvoll, weil sie das Böse ahnden muss. Der Mensch verdient Strafe, weil er aus bösem Trotz wider Gottes Gesetze verstößt.

Der göttliche Züchtiger will das Heil des Bestraften im Jenseits. Der Kritiker will, dass der Mensch durch bessere Einsicht das Glück seines irdischen Lebens findet.

Rationale Kritik ist nie unfehlbar, weil kein Kritiker unfehlbar ist. Strikt gesprochen ist Kritik ein Dialog, denn sie muss sich im Streitgespräch als einleuchtend erweisen. Jeder Kritisierte hat das Recht, ja die mündige Pflicht, die Scheltrede aus seiner Warte zu überprüfen.

Wer blindlings einer Kritik folgt, bleibt unmündiger Knecht einer Autorität, an die er glauben muss. Bei göttlicher Züchtigung darf die Autorität des unfehlbaren Zuchtmeisters nicht in Frage gestellt werden.

Das Ziel der sokratischen Kritik war ein lebenswertes Leben. „Ein unüberprüftes Leben ist nicht lebenswert“.

In Erlösungsreligionen wird Zucht zum Mittel der Seligkeit im jenseitigen Leben. Selbst der Herr muss stellvertretend gezüchtigt und zum Tode bestraft werden, obgleich er keine Sünde begangen hat. Dem Bedürfnis des Vaters, seine aus dem Ruder gelaufenen Kreaturen zu bestrafen, muss Genüge getan werden.

Gottes aktive Strafbedürfnisse und des Menschen passive Strafbedürfnisse werden zu untrüglichen Beweisen gegenseitiger Liebe. Das Strafbedürfnis des Vaters kann bis zur irreparablen leiblichen Beschädigung, ja bis zur Tötung des Zöglings gehen. Wen sein Auge ärgert, der reiß es raus. Wer Gott liebt, der lasse sich kreuzigen und töten. Das irdische Leben ist belanglos, der Gezüchtigte schaut in die Zukunft der ewigen Seligkeit.

Wir strafen und beschädigen, was wir lieben. Um Mensch und Natur zu lieben, müssen wir beide zur Strecke bringen.

Wird fortgesetzt.