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Sonntag, 06. Januar 2013 – Deutsch-jüdische Symbiose

Hello, Freunde des Freibriefs,

er sagt selbst, was der Zweck der Antisemitismus-Kampagne ist: Zensur. Rabbi Abraham Cooper von SWC will Augstein keinen Freibrief ausstellen: „nur weil er ein Journalist ist, geben wir Herrn Augstein keinen Freibrief zu sagen, was er will, und sich dann hinter journalistischer Integrität zu verstecken“.

In Deutschland kann nicht jeder in jüdischen Dingen sagen, was er will. Noch immer stehen die Täter unter der Zensur der Opfer. War denn Augstein integer? Oder missbraucht er seine Integrität, um seinen Antisemitismus-Gefühlen Flankenschutz zu bieten? Cooper muss einen durchdringenden Blick haben, um hinter moralischen Masken das Böse zu entdecken.

Mit welcher Arroganz Rabbi Cooper seine Wächterrolle zelebriert, zeigt Augsteins SPIEGEL-Kollege Jan Fleischhauer in seiner heutigen Kolumne.

Die Westmächte und die Juden haben den Deutschen einen riesigen Dienst erwiesen, als sie ihnen nach dem Krieg halfen, sich von ihren menschenfeindlichen Prinzipien zu lösen und sich zu Demokraten zu entwickeln. Allein hätten die Deutschen bis heute keine Demokratie zustande gebracht. In dieser Hinsicht stehen sie ewig in der Schuld ihrer Befreier.

Es war ein mühsamer Prozess der Selbstreinigung. Das ganze deutsche Denken war von Judenhass verseucht. Es war ein kollektiver, ja psychoanalytischer Akt der Selbsterforschung und der Selbstbesinnung.

Die frühere deutsch-jüdische Symbiose hatte alle Aspekte des Lebens umfasst, doch Kern der Auseinandersetzung waren die jeweiligen Heilslehren. Hier kämpften zwei Völker um den Rang, das

wahre auserwählte Volk zu sein.

Das Prinzip der Auserwähltheit ist Exklusion, Ausschließung. Du oder Ich, Wir oder Ihr. Im Christentum kämpft nicht nur jeder gegen jeden, sondern jedes christliche Volk gegen jedes christliche Volk. Dabei gibt es im Christentum gar keine auserwählten Nationen, sondern nur auserwählte Individuen.

Der Nationalismus der Neuzeit war ein Akt religiöser Selbsterhöhung und der Abwertung christlicher Konkurrenzstaaten, was den vergifteten Hass der ununterbrochenen „Bruderkriege“ erklärt. Das Neue Testament nimmt dem jüdischen Volk den Nimbus der Auserwähltheit und übergibt ihn an alle Einzelnen in der Heidenwelt, die den Glauben an Jesus den Christus annehmen.

Der Jude Paulus hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sein Volk eines Tages doch noch zum Glauben an den richtigen Messias kommen werde. „Liebe Brüder, der Wunsch meines Herzens und mein Gebet zu Gott für sie ist, dass sie gerettet werden. Denn ich bezeuge ihnen, dass sie Eifer für Gott haben, aber nicht mit richtiger Erkenntnis. Denn weil sie die Gerechtigkeit Gottes nicht kannten und die eigne geltend zu machen suchten, haben sie sich der Erkenntnis Gottes nicht untergeordnet.“ ( Neues Testament > Römer 10,1 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/roemer/10/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/roemer/10/“>Röm. 10,1 ff)

Die Juden pochten auf ihre moralische Autonomie – vor Gott. Wenn sie die Gesetze Gottes halten, haben sie aus eigener Kraft erfüllt, was sie tun sollten, damit Gott sie vor aller Welt mit Macht und Reichtum belohnt.

Die jüdische Autonomie ist mitten inne zwischen der griechischen Autonomie, die Moral um ihrer selber willen tut und auf Götterbelohnungen verzichtet – und der christlichen Verwerfung jeglicher Autonomie. Christen halten sich für Nichts und erwarten ihr Heil allein vom Wirken Gottes, dem sie sich unterwerfen. Dieses Wirken nennt Paulus Gerechtigkeit Gottes.

Selbst-gerecht sein und alles von sich erwarten, ist für Paulus und Luther die größte Sünde und wird mit der Hölle bestraft. Noch heute ist selbst-gerecht eine Untugend unter Zeitgenossen, die nicht den blassen Schimmer einer Ahnung haben, dass ihre bürgerliche Tugend eine theologische ist.

Wer wirklich autonom sein will, muss selbstgerecht sein. Seine Moralität muss er aus eigener Kraft nachweisen, was nicht bedeutet, dass er sich für moralisch fehlerlos erklärt und alle Kritik an seinem Tun als Irrtum oder Bosheit abweist. Selbstgerechtigkeit muss nicht selbst-gerecht sein, sondern selbst-kritisch, selbsterforschend und lernfähig.

Wenn man Juden als selbstgerecht bezeichnet, werden die beiden Elemente autonom und kritikimmun nicht genug unterschieden. Die israelische Regierung ist selbstgerecht im Sinne von kritikimmun. Das verbindet sie mit dem Papst, der ex cathedra – wenn er offiziell als Stellvertreter Gottes spricht und nicht als Privatperson – unfehlbar ist.

Die amerikanischen Biblizisten halten an der Hoffnung fest, dass das israelische Volk sich demnächst zu Christus bekehren wird: die unbedingte Voraussetzung, dass der Gottessohn als Herrscher der Welt zurückkehren wird, um das Ende der Heilsgeschichte einzuläuten. Das ist die trügerische Grundlage der bedingungslosen Loyalität Amerikas zum biblischen Land. Den Endzeitchristen geht es nicht um die Juden an sich, sondern um deren notwendige Funktion im Heilsplan, die sie gefälligst zu erfüllen haben.

Die Juden denken nicht daran, sich diesen heilsegoistischen Wünschen zu unterwerfen. Somit könnte geschehen, was bei Luther geschah, der zuerst auch daran glaubte, dass die Juden zu seinem gereinigten Urevangelium überlaufen werden. Als dies ausblieb, wurde er einer der gehässigsten Judenhasser aller Zeiten und einer der verhängnisvollsten Vorbereiter des Nationalsozialismus. Nach routinierter Scheinreinigung durch seine lutherischen Erben wird er demnächst vom deutschen Staat zum Urdeutschen erhoben.

Auf diese gefährlichen Möglichkeiten, dass instrumentelle Freundschaften in Feindschaft umkippen können, weisen keine professionellen Antisemitismus-Jäger hin. Nicht nur das deutsch-jüdische, auch das amerikanisch-jüdische Verhältnis ist bestimmt von verstecktem Eigennutz und blanker Heuchelei. Kein Christ liebt einen Juden, es sei, jener verwirft sein Judesein und wird zu einem Glaubensbruder in Christo.

Die einst pädagogische Aufklärungssarbeit der Juden hat sich mittlerweilen in eine erkenntnislose Zensur verwandelt, die keinen anderen Zweck hat, als das Land Israel – das man bewundert, dessen Pionierprobleme vor Ort man aber nicht teilen will – vor Kritik zu schützen. Das betrachten sie als extern-patriotischen Dienst, in Wirklichkeit ist es das Gegenteil. Es unterstützt den fundamentalistischen Kurs der Regierung, die sich dem Biblizismus der Ultras ergeben haben.

Wenn man einen Antisemiten daran erkennen kann, dass er dem israelischen Staat und dem gesamten Judentum schadet, müssen wir die derzeitige Bewertung auf den Kopf stellen und sagen: die derzeitigen Antisemitismus-Jäger sind durchweg die schlimmsten Antisemiten und Selbsthasser. Man kein sein Volk nicht lieben, wenn man ungerührt zuschaut, wie es dem Kurs einer selbstschädigenden Unversöhnlichkeit folgt.

Uri Avnery, Moshe Zuckermann, Avraham Burg, Gideon Levy und alle andern, die unerbittlich ihrem Staat den Spiegel vorhalten, sie sind es, die man als leidenschaftliche Liebhaber ihres Staates bezeichnen kann. Wie kann einer, der die Selbstzerstörung eines andern stumm und passiv verfolgt und dieselbe somit unterstützt, sich anmaßen, diesen zu lieben? Hier sind alle normalen Maßstäbe ins Gegenteil verkehrt.

Der Zentralrat der Juden hat sich inzwischen von der Kampagne des amerikanischen Instituts abgesetzt. Doch nur mit wachsweichen diplomatischen Formulierungen. Die Antisemitismus-Vorwürfe gegen Augstein seien „nicht klug“. Das Institut sei ziemlich weit weg von der deutschen Wirklichkeit, sagte Salomon Korn.

Ob es klug ist oder nicht, das ist hier nicht die Frage. Wir befinden uns nicht auf dem Parkett eines Diplomatenempfangs, sondern in einer wesentlichen Grundfrage der deutsch-jüdischen Beziehung.

Man solle die Polemik eines Broder nicht so ernst nehmen und die Dinge tiefer hängen, sagen Micha Brumlik und Julius Schoeps. Das klingt gönnerhaft, solche Wischiwaschi-Strategien klären aber nichts und drücken sich vor einer eindeutigen Stellungnahme.

Wie windig die Kampagne ist, zeigt der WELT-Bericht über eine zweite jüdische Organisation, die sich der Verurteilung des deutschen Journalisten angeschlossen habe:

„Augsteins Kommentar über die jüdische Kontrolle der US-Außenpolitik „überschreitet die Grenze zu antisemitischen Verschwörungstheorien“, sagte ADL-Direktor Ken Jacobson der „Jerusalem Post“. Begründung? „Ich weiß nicht genug über ihn (Augstein), um ihn als Antisemiten zu bezeichnen.“

Geht’s noch dämlicher und zynischer? Sie wissen zwar nichts, aber zur Verurteilung eines fremden Menschen reicht‘s. So können nur Unfehlbare ex cathedra sprechen.

Broder, immer entzückend, lustig und reizend, hat noch nachgelegt. Das „Lupenreine an Augsteins Antisemitismus“ sei „die absolute Eins-zu-Eins-Übertragung von allem, was früher über die Juden gesagt wurde, auf Israel“, sagte Broder. „Mich interessiert nicht der letzte Holocaust, sondern der mögliche nächste, dem mit Texten wie denen von Augstein der Weg geebnet wird.“

Diese elementare Urangst muss man Broder abnehmen. Dass er durch das Schicksal seiner Familie und seines Volkes traumatisiert ist, kann ihm niemand vorwerfen. Wer möchte schon im Lande seiner Mörder leben, in ständiger Sorge, die furchtbaren Taten könnten sich wiederholen? Einerseits den normalen, witzigen Deutschen spielen, andererseits den „anderen Juden“, der mit seinem historischen Gedächtnis leben muss – diese Spannungen auszuhalten erfordert ein besonderes Nervenkostüm, das nicht nur Nettigkeiten und „Klugheiten“ von sich geben kann.

Wie erlebt Augstein seinen „Stalker“? „Er sei zwar entzückend, lustig, reizend. „Das Problem ist nur: Er spinnt. Und in diesem Fall hat das Spinnen einen Grad erreicht, wo der Spaß aufhört“, sagte Augstein.

So wenig Broder sich in einen Deutschen hineindenken kann, so wenig Augstein in einen Juden. Broder spinnt nicht, er ist gezeichnet. In diesem Zustand sieht man bestimmte Dinge schärfer, andere Dinge verzeichnet und verzerrt man ins Absurde und Verhetzende. Seine Pädagogik ist archaisch: wen er prügelt, den glaubt er zu lieben.

Sowenig Broder ein Spinner, sowenig ist Augstein ein Brandstifter. Im Gegenteil. Warum können zwei intelligente Zeitgenossen nicht so miteinander reden, dass sichtbar werden könnte, was uns alle bewegt? Dass wir eine Ahnung von den Gründen unseres ignoranten Gegeneinanders erhalten könnten?

Hier sehen wir die komplette Abwesenheit von Empathie im deutsch-jüdischen Verhältnis. Gibt es nicht mehr die geringsten Reste der gerühmten deutsch-jüdischen Symbiose? Haben sich die beiden Völker nie verstanden? Oder haben sie sich verstanden, nur der Holocaust hat alles zerstört? Ist der Holocaust nicht ein einziger furchterregender Beweis, dass es einen Dialog zwischen beiden Völkern nie gegeben haben kann? Wie konnte der aberwitzige Eindruck einer Symbiose entstehen? Was verband die Völker, was trennte sie durch Misstrauen, Rangeln um Überlegenheit und Unvergleichlichkeit?

An dieser Stelle müssen wir einen Grundlagentext im Original einrücken, den zu studieren sich niemand ersparen kann, der sich mit dümmlichen Schlagworten der Gegenwart nicht zufrieden geben will. Er stammt von dem in Berlin geborenen, später nach Israel ausgewanderten, bedeutenden Judaisten und Walter Benjamin-Freund Gershom Scholem:

[…] Ich bestreite, daß es ein solches deutsch-jüdisches Gespräch in irgendeinem echten Sinne als historisches Phänomen je gegeben hat. Zu einem Gespräch gehören zwei, die aufeinander hören, die bereit sind, den anderen in dem, was er ist und darstellt, wahrzunehmen und ihm zu erwidern. Nichts kann irreführender sein, als solchen Begriff auf die Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Juden in den letzten 200 Jahren anzuwenden. Dieses Gespräch erstarb in seinen ersten Anfängen und ist nie zustande gekommen. Es erstarb, als die Nachfolger Moses Mendelssohns […] sich damit abfanden, diese Ganzheit preiszugeben, um klägliche Stücke davon in eine Existenz herüberzuretten, deren neuerdings beliebte Bezeichnung als deutsch-jüdische Symbiose ihre ganze Zweideutigkeit offenbart. Gewiß, die Juden haben ein Gespräch mit den Deutschen versucht, von allen möglichen Gesichtspunkten und Standorten her, fordernd, flehend und beschwörend, kriecherisch und auftrotzend, in allen Tonarten ergreifender Würde und gottverlassener Würdelosigkeit, und es mag heute, wo die Symphonie aus ist, an der Zeit sein, ihre Motive zu studieren und eine Kritik ihrer Töne zu versuchen. Niemand, auch wer die Hoffnungslosigkeit dieses Schreis ins Leere von jeher begriffen hat, wird dessen leidenschaftliche Intensität und die Töne der Hoffnung und der Trauer, die in ihm mitgeschwungen haben, geringschätzen. […] Niemals hat etwas diesem Schrei erwidert, und es war diese einfache und ach, so weitreichende Wahrnehmung, die so viele von uns in unserer Jugend betroffen und uns bestimmt hat, von der Illusion eines Deutschjudentums abzulassen. Wo Deutsche sich auf eine Auseinandersetzung mit den Juden in humanem Geiste eingelassen haben, beruhte solche Auseinandersetzung stets, von Wilhelm von Humboldt bis zu George, auf der ausgesprochenen und unausgesprochenen Voraussetzung der Selbstaufgabe der Juden, auf der fortschreitenden Atomisierung der Juden als einer in Auflösung befindlichen Gemeinschaft, von der bestenfalls die einzelnen […] rezipiert werden konnten. Jene berühmte Losung aus den Emanzipationskämpfen: „Den Juden als Individuen alles, den Juden als Volk (das heißt: als Juden) nichts“ ist es, die verhindert hat, daß je ein deutsch-jüdisches Gespräch in Gang gekommen ist. Die einzige Gesprächspartnerschaft, welche die Juden als solche ernstgenommen hat, war die der Antisemiten, die zwar den Juden etwas erwiderten, aber nichts Förderliches. Dem unendlichen Rausch der jüdischen Begeisterung hat nie ein Ton entsprochen, der in irgendeiner Beziehung zu einer produktiven Antwort an die Juden als Juden gestanden hätte, das heißt, der sie auf das angesprochen hätte, was sie als Juden zu geben, und nicht auf das, was sie als Juden aufzugeben hätten.

Zu wem also sprachen die Juden in jenem vielberufenen deutsch-jüdischen Gespräch? Sie sprachen zu sich selber, um nicht zu sagen: sie überschrien sich selber. Manchen war dabei unheimlich zumute, viele aber taten so, als ob alles auf dem besten Wege sei, in Ordnung zu kommen, als ob das Echo ihrer eigenen Stimme sich unversehens in die Stimme der anderen verwandeln würde, die sie so begierig zu hören hofften. […] Als sie zu den Deutschen zu sprechen gedachten, da sprachen sie zu sich selber. […] Vergebens wird man nach einer Antwort auf der Ebene des Redenden suchen, die also ein Gespräch gewesen wäre. […]

Es ist wahr: daß jüdische Produktivität sich hier verströmt hat, wird jetzt von den Deutschen wahrgenommen, wo alles vorbei ist. Ich wäre der letzte zu leugnen, daß darin etwas Echtes – Ergreifendes und Bedrückendes in einem – liegt. Aber das ändert nichts mehr an der Tatsache, daß mit den Toten kein Gespräch mehr möglich ist, und von einer „Unzerstörbarkeit dieses Gespräches“ zu sprechen, scheint mir Blasphemie.“

Ein echtes Gespräch zwischen Juden und Deutschen habe es nie gegeben, so Scholem. Die Juden hätten zwar das Gespräch mit den Deutschen gesucht, „fordernd, flehend und beschwörend, kriecherisch und auftrotzend, in allen Tonarten ergreifender Würde und gottverlassener Würdelosigkeit“, doch einen Gesprächspartner auf gleicher Ebene hätten sie nie gefunden. (Erinnert an die heutige Floskel der Israelis, sie hätten keinen Verhandlungspartner auf Seite der Palästinenser – nur mit umgekehrten Rollen).

Die Deutschen hätten den Schrei der Juden nie erwidert und sie immer nur abtropfen lassen. Wo es zu einem Gespräch gekommen sei wie bei Wilhelm von Humboldt, wäre stets die deutsche Forderung laut geworden, die Juden sollten sich aufgeben. Juden als atomisierte Individuen seien willkommen gewesen, aber nicht Juden als Gemeinschaft.

„Den Juden als Individuen alles, den Juden als Volk (das heißt als Juden) nichts.“ Das war eine Formel, die in der Französischen Revolution von Clermont Tonnerre in der Nationalversammlung eingebracht wurde.

Ausgerechnet die Antisemiten hätten die Juden ernst genommen, aber nicht in förderlicher Hinsicht. Letztendlich sprachen die Juden nur mit sich selber, ja sie überschrien sich.

Dieser Scholem-Text könnte von keinem heutigen Judaisten geschrieben werden. Die Christen vollends wissen weder etwas über ihren Glauben, noch über die historische jüdisch-deutsche Symbiose. Gleichwohl lässt er viele Fragen offen:

Was wollten die Juden den Deutschen geben, was haben sie von ihnen erhofft? Wovon waren sie berauscht? Woher die Einseitigkeit des Verhältnisses? Warum ging der Rausch bis zur „kriecherischen Würdelosigkeit“? Was meint Scholem mit jüdischem Volk mitten unter einem anderen Volk? Geht es hier um ein religiöses Volk? Hatte die Aufklärung nicht bereits jede Religion, besonders die christliche und jüdische, bis in die Fundamente kritisiert?

Von welchen Juden spricht Scholem, von frommen, aufgeklärten, halbfrommen, halbaufgeklärten, liberalen oder orthodoxen? Von welchen Deutschen spricht er? Von Kantianern, Romantikern, Marxisten, Nietzscheanern? Konnte man wirklich von zwei abgrenzbaren Populationen reden, die sich in klarer Formation gegenüberstanden?

So bewegend der Artikel, so ratlos lässt er uns zurück. Bis zur Emanzipation durch Napoleon waren die Juden mehr oder minder in Ghettos eingesperrt. Außerhalb der Ghettos spielten die reichen Hofjuden eine Sonderrolle als Privatfinanziers der Fürsten. Die Rabbinen wollten ihre Gemeinden vor christlichen Einflüssen schützen, sperrten sie hinter Mauern ein und legten keinen Wert auf Vermischung ihrer Gläubigen mit Einheimischen. Die Gefahr der Entjudaisierung war zu groß. Von wenigen Ausnahmen abgesehen – Spinoza, Mendelssohn – waren jüdische Gemeinden von der Entwicklung des abendländischen Geistes abgeschnitten.

Die politische Gleichberechtigung war ein riesiger Dammbruch. Gerade die jungen und bildungshungrigen Generationen stürzten sich auf alles, was ihnen bislang unerreichbar oder verboten war. In den Berliner Salons kam es zur ersten Begegnung zwischen den Genies beider Konfessionen.

Hätte die Aufklärung sich in Deutschland rigoros und kontinuierlich durchgesetzt, wäre es zu keinem Nationalsozialismus gekommen. Nie hätten die Deutschen sich an sich selbst als Vollstrecker der Heilsgeschichte berauschen können. Der Wettlauf um den Titel: das wahre auserwählte Volk hätte nie stattfinden können.

Dem war aber nicht so. Die Romantik begann die Vernunft zu verhöhnen und kehrte zurück in den Schoß des Glaubens. Es bildete sich eine Durchschnittsmelange aus halbherziger Vernunft und amputiertem Glauben. Die meisten Intellektuellen wähnten sich durch historisch-kritische Forschung und Feuerbach‘sche Religionskritik weit über dem Niveau des mythischen Gemeindeglaubens. Dennoch hingen sie am Gleichnis vom Verlorenen Sohn und verknüpften Ratio mit einer Liebesethik, die sie glaubten, in der Bergpredigt gefunden zu haben.

Die jesuanische Liebesethik sollte den Rachegesängen des Alten Testaments bei weitem überlegen sein. Selbst judenfreundliche Gelehrte wie Mommsen, Gegner Treitschkes im Antisemitismus-Streit, erwartete selbstverständlich von seinen jüdischen Gesprächspartnern die Aufgabe ihres alttestamentarischen Gedankenguts.

Liebe gegen Rache, das war die Formel des Fortschritts. Viele aufgeklärte Juden übernahmen diese Formel und begannen sich zu hassen, dass sie einem Volk mit archaischem Racheethos angehörten. Otto Weininger hielt es nicht aus, ein Jude zu sein und machte seinem Leben ein Ende.

Für die meisten Deutschen waren die Griechen bedeutender als die alten Hebräer. Ihr Jesus war eine Art Sokrates mit hochstilisierter Nächstenliebe. Gleichwohl wollten sie das rational gereinigte Fundament der Religion nicht verlassen und fühlten sich halbaufgeklärten und gläubigen Juden überlegen. Wenn ein Gespräch zustande kommen sollte, mussten die Juden ihr jüdisch-alttestamentarisches Erbe aufgeben.

Deutsche und Juden hatten nur zwei Möglichkeiten, miteinander umzugehen. Entweder verließen beide strikt das Gehäuse der Religion und gingen zur Aufklärung über. Dann hätten sie sich als gleichberechtigte Kinder der Vernunft finden können.

Verharrten sie aber auf dem Boden einer exklusiven Erlöserreligion, blieb ihnen nur die Fortsetzung des heimlichen Überbietungs- und Verdrängungsprogramms, welche abrahamitische Sekte das wahre Volk Gottes sei.

Keiner Gruppe gelang es, sich radikal von der Religion ihrer Väter zu lösen. Auch das liberale Reformjudentum, nicht anders als die halbaufgeklärte Christenheit, war ein Kompromiss aus Athen und Jerusalem. Das inhalierte Maß an Religionskritik genügte beiden Gruppierungen zur trügerischen Selbsteinschätzung, sich weit vom Fanatismus der Orthodoxie gelöst zu haben.

Der Schein trog. Unter dem dünnen Mäntelchen der Vernunft residierten die alten Mächte der fanatischen Auserwähltheit, die letztendlich im Nationalsozialismus zum unerwarteten, klammheimlich erwarteten, erhofften, befürchteten, immer wieder verdrängten schrecklichen Finale führen – mussten.

Beiden Völkern wurde zum Verhängnis, dass sie von einer intoleranten Religion nicht lassen konnten und das gemeinsame Ufer des Universellen nicht fanden. Nicht Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit waren die Beweggründe ihres Handelns, sondern: wer wird im Jüngsten Gericht den Sieg der Frömmsten feiern?

Die deutsch-jüdische Symbiose erwies sich als spannungsreicher Versuch, hinter der Maske eines friedlichen Wettbewerbs um Geist und Genialität den finalen Sieg vorzubereiten. Die Symbiose zerfiel in ein mörderisches Ineinanderverbissensein von Tätern und Opfern.

Heute scheinen sich die Fronten in mancher Hinsicht verkehrt zu haben. Nicht mehr die Juden hecheln „kriecherisch“ um die Gunst der überlegenen Deutschen. Die Deutschen haben sich in der gesamten Nachkriegszeit überboten, untertänigst den Segen ihrer Opfer zu erhalten. Ihr Philosemitismus war allzu oft der Versuch, jüdischer zu sein als die Juden selbst.

Waren früher die Deutschen die Herren, die die Juden aburteilten, sind heute die Juden an der Seite der Alliierten zu einer Siegernation geworden und die Deutschen zittern vor dem Urteil unfehlbarer Antisemitismus-Richter.

Doch jetzt, nach 70 Jahren Straf- und Bußezeit, ändern sich die Dinge. Die jüngeren Deutschen werden selbstbewusster. Sie sehen die eklatanten Mängel der israelischen Politik, begehren auf und wollen sich nicht länger der jüdischen Überlegenheit beugen.

Doch eins hat sich nicht geändert: schon wieder befinden sich die Deutschen auf dem Boden eines christlichen Glaubens, der identisch sein soll mit Aufklärung. Immer mehr spürt man, dass sie sich ihren Opfern schon wieder überlegen fühlen. In diesem Klima einer angemaßten Überlegenheit entstand vor über 100 Jahren der moderne Antisemitismus. Auf diesem Boden droht die reale Gefahr einer Wiederholung des Verdrängten.

Zwischen Opfern und Tätern beginnt das nächste Kapitel der Auseinandersetzung. Bislang in feindseliger Stummheit, ohne Erinnerung und Bewusstsein.