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Donnerstag, 03. Januar 2013 – Journalismus

Hello, Freunde Augsteins,

wo bleibt das Statement des jüdischen Zentralrats? Wie kann BILD-Blome rechtfertigen, mit einem der übelsten Antisemiten der Welt regelmäßig Schabernack zu treiben? Wo bleibt die Stimme von Springer-Chef Döpfner? Warum hat die SZ noch nicht Stellung genommen? Warum Avi Primor seine Meinung noch nicht gesagt? Ist das SWC außer Rand und Band?

Wo bleiben all die illustren Stimmen, die vor Wochen nicht zögerten, den ausgewiesenen Israelfreund Günter Grass – der aus Sorge übertrieb und sich korrigierte – als puren Antisemiten darzustellen? Durch Schweigen bestätigen sie, dass selbst die harmloseste Kritik an Israel Antisemitismus sein muss.

Vor wenigen Tagen schrieb Uri Avnery, Angela Merkel sei bislang die Fußmatte unter den Füssen Netanjahus gewesen. Die israelische Villa versinkt immer mehr im Dschungel der Ultras – und Deutschland schweigt. Wer solche Freunde hat  Die einfachsten demokratischen Gepflogenheiten sind außer Kraft gesetzt.

Es herrscht das Klima dualistischer Erlösungsreligionen. Wer Israel nicht wie eine Fußmatte liebt, hasst das Land. Opfer und Täter, nein die Täterkinder, sind in einer Folie à deux – einem Wahnsinn zu zweit – verstrickt.

Die israelische Unfriedenspolitik zieht falsche Schlüsse aus dem Holocaust. Recht haben jene Holocaust-Opfer, die für Frieden und Menschenrechte eintreten. Kein Opferstatus an sich entscheidet über Wahrheit und Moral. Nur Wahrheit und Moral entscheiden über Grundfragen der Humanität, wo jeder die Pflicht hat, seine Stimme zu erheben. Auch die Täternation hat gelernt, dass ohne

Völker- und Menschenrechte die nächste Katastrophe bevorsteht. Taten der Vergangenheit müssen erklärt, verstanden und erinnert (und nicht als Ausbruch eines irrationalen Bösen dämonisiert und mystifiziert werden), der Opfer muss in Trauer gedacht werden.

Taten der Vergangenheit sind keine Taten der Gegenwart. Man kann niemanden als Freund betrachten, den man nach Lust und Laune als Täter beschimpfen darf.

Wenn Uri Avnery Recht hat und der Faschist Avigdor Liebermann demnächst Verteidigungsminister wird, beginnt eine neue historische Epoche in Israel – mit Grauen. Dazu keine einzige Stimme in der deutschen Öffentlichkeit.

An dieser Stelle hat Deutschland nichts gelernt, ist in seine amoralische Deutsche Bewegung der Vorkriegszeit regrediert (für Auserwählte gibt’s keine allgemeine Moral) und macht sich am Schicksal einer Nation mitschuldig, die hilflos in ultrareligiösem Ungeist versinkt. Das deutsch-jüdische Verhältnis kann in Heuchelei, Unaufrichtigkeit, verstecktem Hass und ätzendem Zensurklima tiefer nicht sinken.

Wenn die Deutschen nicht lernen, ihre Meinung zu sagen, auch wenn’s einigen Eliten in Israel – und deutsch-jüdischen Schreihälsen – nicht passt, werden sie das Wenige, was sie an Vergangenheitsbewältigung kapiert haben, noch auf dem Altar ihres historischen Kretinismus opfern müssen.

Schrieb ein Wiener Jude, lang, lang ist‘s her: „Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen einer demokratischen und einer totalitären Kritik an der Demokratie. Demokraten, die nicht den Unterschied zwischen einer freundschaftlichen und einer feindseligen Kritik der Demokraten sehen, sind selbst in totalitärem Geist befangen. Ein totalitäres Regime kann überhaupt keine Kritik als freundschaftlich ansehen, denn jede Kritik einer Autorität muss das Autoritätsprinzip selbst in Frage stellen.“

Henryk M. Broder oder Karl Popper – das ist hier die Frage.

Drei Meinungen aus der FAZ, der ZEIT und der BLZ, die das Ihrige zu sagen wissen. Nils Minkmar in der FAZFrank Drieschner in der ZEITChristian Bommarius in BLZ

(Kommentar folgt)

 

Das neue Jahr beginnt, der Weltjournalismus ist in der Krise. Das bloße Beschreiben des Tages beschreibt nicht mal den Tag. Die unsinnige Trennung zwischen Historikern und Tagesschreibern schadet der Aufklärung des Tages und der aller verflossenenen Zeiten. Wer Gegenwart nicht im Spiegel der Vergangenheit, Vergangenheit nicht im Spiegel der Gegenwart erklären kann, erklärt weder Gegenwart noch Vergangenheit.

Wenn ein Student im Seminar die Kreuzzüge kritisiert, muss er sich von einem Dozenten sagen lassen, ein solches Ereignis könne man nur aus damaligen Verhältnissen verstehen. Das Vergangene aus heutiger Sicht moralisch zu verurteilen, sei billig und unstatthaft.

Nicht mal Verstehen wird von heutigen Historikern verstanden. Geschweige beurteilen. Beurteilen kann man nur mit seinen eigenen moralischen Maßstäben und die sind von heute, selbst wenn sie von gestern sind. Von sich absehen kann man und soll man nicht. Sich empathisch in etwas hineinfühlen kann man nur mit seiner vollen uneingeschränkten und gegenwärtigen Empathie.

Historiker, die von ihren Gefühlen und ihrem Denken absehen, können weder verstehen noch beurteilen. Ein Fußballspieler, der sich beide Beine amputieren lässt, kann keinen Elfmeter schießen.

Amputierte Historiker werden Historisten genannt. Historismus definiert Karl Löwith als ein „maßstabloses historisch-geschichtliches Denken, für das es nur noch Geschehen, Geschichte und Geschicke gibt“.

Dilthey war der Erfinder des Historismus. Unter historistischem Blickwinkel ist alles „gleich wahr, gleich richtig und gleichberechtigt.“ Gadamer hat Dilthey fortgesetzt und den unbedingten Wahrheitsanspruch der Philosophie bestritten. Wir verstünden nur, „weil wir selbst nicht mehr wissen, was wahr und was falsch ist“.

Wir sehen, der Relativismus der Gegenwart entstammt nicht nur der französischen Postmoderne. Er ist ein Originalprodukt des nachhegelschen Zerfalls der deutschen Philosophie. „Was vernünftig ist, das ist wirklich, was wirklich ist, das ist vernünftig“, so hatte der Wecken-Schwabe geschrieben, als er bereits in Berlin die Spitze des Weltgeistes bildete und alles, was in Preußen geschah, als letztes Wort des absoluten Geistes absegnete. (Und die Schrippen als undialektische Teigklümpchen verspottete.)

Hegel als Lutheraner hätte auch formulieren können, wenn Gott im Regiment ist – er ist –, geschieht nichts ohne göttlichen Willen. Die absolute Wahrheit ereignet sich im relativen Medium der Zeit oder: Gott ist Mensch geworden.

Bei den Griechen war die Wahrheit zeitlos, die Geschichte war keine Heilsgeschichte und wurde von keinem allmächtigen Gott geführt. Wahrheit geschah in der Geschichte nur insofern, als einzelne Menschen die zeitlose Wahrheit erkannt hatten und sie in der verfließenden Zeit so gut wie möglich realisierten. Wäre Platons staatliche Utopie zur Wirklichkeit geworden, hätte er ein zeitloses Gebilde wie einen kostbaren Kristall mitten in der Gülle verwirklicht.

War Hegel Relativist? Er wollte Zeitlosigkeit und Zeit, absolute und relative Wahrheit miteinander verbinden. Er war beides in einem. In der dialektischen Geschichte entwickelte sich die absolute Wahrheit in relativer Entwicklung, am Ende der Zeiten in Berlin werden absolute und relative Wahrheit deckungsgleich.

Dialektik ist jene geistige Turbine, die die Spannung von absoluter und geschichtlicher Wahrheit aushält, sie miteinander durch die Mühle dreht und sie allmählich einer finalen Synthese zuführt.

Dahinter steckt immer der Geschlechterkampf. Der zeitlos wahre Göttergatte muss in herkulischer Überzeugungsarbeit sein zänkisches Weib zu seiner Höhe hinauf erziehen. Doch Ende gut, alles gut, im Berliner Finale versöhnen sich die Geschlechter. Am Ende ist Gott alles in allem, die Spannungen sind durchgearbeitet, die Dialektik kann in Rente gehen.

Historiker und Journalisten sind beide Historisten. Zeitlose Wahrheiten – das Vernünftige – gibt es bei ihnen nicht, es gibt nur das Wirkliche. Das Wirkliche kann nicht durch Teilhabe an der Vernunft definiert werden. Es gibt nur Geschichten – oder Events, die erzählt werden können.

Ein Event ist, was geschieht, egal was geschieht. Es kann nur durch Parameter der verfließenden Zeit, des Kalenders, und der geografischen Ortsangabe, der Weltkarte, erzählt werden. Raum und Zeit sind die Netze, mit denen der Tageschreiber das für ihn Wichtige und Bedeutungsvolle einfängt.

Da kommen sie schon ins Straucheln, denn das Wichtige und Bedeutungsvolle lässt sich nicht durch Raum und Zeit definieren, sondern nur durch – Vernunft. Natürlich benötigt Vernunft auch Zeit, um sich zu finden und ständig dazuzulernen. Doch Eins und Eins ist zeitlos Zwei, auch wenn dies nicht alle Menschengeschlechter präzis sagen konnten.

Carolin Emcke ist eine bedeutende Kriegsreporterin und hat der TAZ Auskunft über ihr journalistisches Selbstverständnis gegeben. (TAZ-Interview von Waltraud Schwab mit Carolin Emcke)

Emcke will welthaltig sein, will als Reporterin die Welt einfangen wie Frederick die Wörter. Die meisten Kollegen würden nur um sich selbst kreisen. Das missfiele ihr. Was sie schrieben, spiegele allzu oft nur ihr eigenes Denken.

Doch hier stock ich schon. Alles, was der Mensch sagt, schreibt und tut, sollte sein eigenes Denken darstellen und nichts sonst. Sapere aude, habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Sagt der Mensch etwas, was nicht seinem eigenen Denken entspricht, muss er seine Sätze in Anführungszeichen setzen, sonst ist er Plagiator, Aufschneider oder Nachschwätzer.

Was nicht durch den eigenen Kopf gegangen, vom eigenen Kopf überprüft worden ist, hat keinen Anspruch, vom jeweiligen Ich adoptiert zu werden. Das Ich-Authentische muss aber nicht das Gegenteil zum Welthaltigen sein. Erst, wenn ich Ich sagen kann, kann ich mein Ich mit Welt anreichern und mein Ich durch Welt erweitern. Man könnte simpel sagen: Ich lerne.

Vermutlich meinte Emcke dies auch und wollte sagen, ihre Kollegen blieben auf der Stelle stehen und seien lernunwillig. Sie seien nicht neugierig auf alles, was ihr Ich nicht kennt oder ihrem Ich widerspricht.

Lernen ist Verwandlung des Neuen und Unbekannten in Bekanntes und Vertrautes. Hier hör ich schon den Aufschrei. Ist das keine Blasphemie vor dem Neuen, wenn ich es in Altes verwandle?

Wenn Astronauten vom Mond unbekannte Gesteine mitbringen, werden sie im Labor überprüft und mit bekannten irdischen Gesteinen verglichen. Das neue X ist dann erkannt, wenn es als eine bislang unbekannte Mixtur aus den bekannten Stoffen Y und Z identifiziert worden ist. Unser Wissen hat sich erweitert, wir kennen eine neue Gesteinsmischung, können Rückschlüsse ziehen, ob der Mond ein ehemaliger Teil der Erde sein konnte – vermutlich nicht, sonst hätte man diesen unbekannten Stoff nicht auf ihm finden können. Und dennoch sind alle neuen Bestandteile auf unser vorhandenes Wissen zurückgeführt worden.

Man könnte sagen, die logischen und naturwissenschaftlichen Strukturen sind dieselben geblieben, nur die Beispiele ihrer Variationsmöglichkeiten haben sich erweitert. Heißt dies, unsere Denkstrukturen bleiben immer die alten?

Schwierig ist es, wenn bislang für zeitlos gehaltene Wahrheiten durch neuartige Phänomene in Zweifel gezogen werden müssen. Bei Heisenberg war es die durchgängige Kausalität, bei Einstein die Kategorien von Raum und Zeit. Was sich überhaupt nicht auf Bekanntes und Fundamentales zurückführen ließe, könnten wir nicht erkennen, nicht beschreiben, nicht in Worte fassen. Wir könnten nur erstaunt und erschreckt sagen: Guck mal, das Ding da!

Bei Heisenberg wurde die Kausalität nicht vollständig abgeschafft, sondern in eine bestimmte Wahrscheinlichkeit umgewandelt und auch dies nur im kleinsten atomaren Bereich. Wie Kausalität im normalen Bereich und eingeschränkte Kausalität im Bereich des Winzigen zusammenhängen, überlassen wir den nächsten Einsteins.

Ohne es zu bemerken, hat Emcke den Lernvorgang übersetzt in Reisen und nach Hause zurückkehren. Sie ist keine Nomadin, die ruhe- und heimatlos durch die Gegend tigert. Sie ist sesshaft, hat ein Zentrum, in das sie immer wieder zurückkehrt. „Es ist eher so, dass ich mir andere Gegenden zusätzlich angeeignet habe.“

Warum will sie immer wieder weg, ins Offene? Warum muss sie reisen? Weil sie sucht. „Wenn sie mit Suchen aber etwas meinen, was mit Begreifenwollen zu tun hat oder mit einem Nicht-zufrieden-Sein, mit dem, wie wir uns sprachlich und politisch Phänomene aneignen, dann bin ich suchend“. Was will sie begreifen?

„Ein Zuhause taugt ja nichts, wenn man es nie infrage stellt.“ Sie will reisen und Abstand gewinnen, um ihr Zuhause zu verstehen. Sie geht in die Fremde, um sich und das Heimische besser kennen zu lernen.

Ist das kein Missbrauch des Fremden, wenn man es benutzt, um das Eigene kennen zu lernen? Niemals. In jedem Lernakt muss ich auf Distanz gehen. Zu mir und zu dem Anderen. Distanz halten zum Anderen ist keine Kunst, das Andere ist definitionsgemäß das Neue und Unbekannte. Dass ich das Neue aber nur verstehe, wenn ich auf Distanz zu mir gehe, ist für viele überraschend.

Einstein musste die selbstverständlichen Newtonschen Kategorien von Zeit und Raum infrage stellen, um seine neuen Erkenntnisse zu formulieren. Siehe da, jene Kategorien waren nicht die ursprünglichsten, sondern hinter oder unter ihnen gab es noch fundamentalere. Raum und Zeit wurden zu Varianten unter speziellen „Randbedingungen“.

Nach denselben Prinzipien verläuft der mäeutische Dialog des Sokrates. Mäeutik heißt Hebammenkunst, die Mutter des Sokrates war Hebamme. Im mäeutischen Gespräch werden Erkenntnisse zur Welt gebracht wie die Hebamme die Kinder zur Welt bringt. Erkennen ist ein natürlicher Vorgang, der mit Zeugen und Entbinden zu tun hat. Der logisch abstrakte Vorgang ist ein mütterliches Ereignis.

Der sokratische Dialog ist eine Verbeugung vor den Urmüttern im Matriarchat, die das Erkennen erfunden hatten. Eva respektierte nicht das männliche Erkenntnisverbot und pflückte vom Baum der Erkenntnis. Adam hatte nicht den Mut, sich dem patriarchalischen Denkverbot zu widersetzen.

Heute scheinen die Rollen umgekehrt. Doch nur deshalb, weil ein Großer Gott mit fürchterlichen Höllenstrafen über der christlichen Welt aufpasst, dass die Frauen malochen gehen, ohne darüber nachdenken, ob dieser Gehorsam vor dem Kapitalismus auch sinnvoll ist (Antwort: nein).

Wie der Zeugungsvorgang hat der Dialog es immer mit zweien zu tun, die sich gegenseitig beglücken und bestäuben. Erkennen ist ein sozialer Vorgang. Einige Zeit kann man durchaus in Einsamkeit den grübelnden Einsiedler spielen, um herauszukriegen, was man denkt. Auf Dauer ist der Erkenntnisvorgang auf andere Menschen angewiesen.

Erst, wenn ich eine andere Meinung höre, kann ich meine in vollem Bewusstsein erfassen. Erst, wenn ich meine Meinung verteidigen muss, bewährt sie sich oder nicht. Dann muss ich sie revidieren. Dass der Mensch ein zoon politicon ist, umfasst alles Menschliche, auch Denken und Erkennen. Allein könne er nicht denken, sagte Sokrates, er bräuchte immer einen Helfer.

Erst wenn eine Polis öffentlich zu debattieren beginnt, kann sie zur Demokratie werden. Die Demokratie ist das öffentliche Forum, auf dem miteinander gestritten und geistig gerauft werden kann.

Wenn der Marktplatz als öffentlicher Debattierraum peu à peu abgeschafft wird, wenn die Klassen sich voneinander entfernen und Mauern um ihre Villen errichten, wenn der Vorstandsvorsitzende der BASF nicht mehr in der Fußgängerzone der Stadt gesichtet und angesprochen werden kann: Hör mal Boss, was treibt ihr für einen Unfug mit eurer Chemie, dann hat die Demokratie bereits demente Züge angenommen.

Sind Marktplätze nur noch Konsumenten-Slaloms und keine Debattiermeilen mehr, können auf Dauer auch die Medien nicht lebendig sein und sterben innerlich ab, was wir momentan beobachten.

Wenn Sokrates durch Fragen seinem Partner Erkenntnisse entlocken will, muss er erst versuchen, eine gemeinsame Sprache zu finden. Denn jeder benutzt dieselben Begriffe anders. Was verstehst du, o Freund, unter Tugend? Unter Gerechtigkeit? Nur so kann herausgefunden werden, ob beide Gesprächspartner eine gemeinsame Basis haben. Die ursprünglichen Denkunterschiede können dann behoben werden, wenn man von der gemeinsamen Basis aus in logisch verlässlichen Schritten nachschaut, wo die Wege sich getrennt haben, um zu sehen, ob die Unterschiede durch Rückbindung an das Gemeinsame noch immer Bestand haben. Wenn nicht, hat man sich geeinigt. Wenn doch, muss noch tiefer gegraben werden. Sokrates muss seine Grundbegriffe genau so in Frage stellen und in Frage stellen lassen wie er die Grundbegriffe seines Partners in Frage stellt.

Genau dies geschieht bei Emcke im fernen Land nicht. Sie bleibt den Fremden eine Fremde.

„Das eine ist die Erfahrung, dass du dort niemand bist. Die kennen nicht meine Familie. Die kennen nicht die Straße, wo ich aufgewachsen bin. Die kennen die Schule nicht, zu der ich ging. Die kennen die Sprache nicht, die ich spreche. Einerseits fällt damit Ballast ab, andererseits auch ein Schutzraum. Ich mag es, dass es in einer mir unbekannten Umgebung, in der ich eine Unbekannte bin, wirklich von mir abhängt, was für eine Art von Begegnung möglich ist.“

Emcke führt keinen Dialog, in dem sie selbst in Frage gestellt werden kann. Sie führt nur mit sich selbst Zwiegespräch. (Dasselbe Phänomen erkannten wir bereits bei Bernd Ullrich, der in Israel auch nur innere Monologe führte. Zum offenen Streitgespräch darf es nicht kommen.) Das könnte sie nur, wenn sie sich frei zu erkennen geben würde, wenn die anderen genau so intensiv nach ihr fragen würden, wie sie nach ihnen.

Es bleibt ein Riesengefälle. Emcke bleibt Beobachterin. Mit Beobachten kann man keinen Dialog führen. Es kommt zu keiner Begegnung auf gleicher Höhe. Die eine schaut, die andere lässt sich mehr oder weniger passiv beschauen. Die Palästinenserin hat keine Energie mehr, um nach Fremden so intensiv zu fragen wie umgekehrt, sie bleibt ein Mitleids-, ein Beobachtungsobjekt. Für sie ist die fremde Deutsche eine von vielen westlichen Zaungästen, die durch den Maschendraht sehen, aber keine bleibende Beziehung mit der Tendenz zur Gleichberechtigung aufbauen.

Emcke will nicht das endlose Neue. „Ich muss von dort nicht weglaufen, um mir was Neues zu suchen, sondern ich muss verstehen.“

Jetzt kommen wir an den Zentralpunkt. Was hat sie verstanden? Sie hat das Leid der Menschen gesehen, sie hat versucht, sich empathisch hineinzufühlen. Doch Verstehen ist ein geistiger Akt, kein bloßer sinnlicher Wahrnehmungsakt. Sehen muss in Denken übergehen. Der Arzt sieht einen schwarzen Fleck, das genügt nicht. Er muss wissen, ob das Reste eines Tattoos sind oder der Beginn eines Karzinoms.

Kein Zufall, dass weder die Interviewerin fragt: was hast du verstanden? Noch dass die Befragte von sich aus erklärt, was sie an neuen Erkenntnissen über den israelisch-palästinensischen Konflikt gewonnen hat. Ihr Verstehen bleibt ein vages subjektives Gefühl, das kein Beitrag zur notwendigen Debatte ist.

Zum Verstehen muss man die Gründe des Konflikts erforschen. Man braucht historische und politische Kenntnisse, Kenntnisse über jüdische, christliche und mohammedanische Religion. Diese Erkenntnisse sind nicht von Ort und Zeit abhängig. Dazu muss man nicht die Welt durchreisen, es sei, mit dem Kopf durch viele Bücher. Kant hat Königsberg nie verlassen und hat die Welt wahrgenommen. Desgleichen Sokrates.

Emcke hat viele Impressionen und persönliche Sinneseindrücke mitgebracht. Doch Erkennen beginnt erst, wenn Sinneseindrücke durchdacht werden. Sinnlichkeit muss sich der Prüfung des Denkens stellen.

Platon verdeutlicht den Zusammenhang von sinnlicher Wahrnehmung und Denken anhand eines Beispiels, das jeder Indio kennt, wenn er mit dem Speer einen Fisch im Wasser treffen will. Er muss die verschiedene Lichtbrechung in Luft und Wasser berücksichtigen, um den Speer nicht genau dort hinzuwerfen, wo seine Augen den Fisch sehen, sondern einige Zentimeter enfernt. Das Gehirn muss die „falsche“ sinnliche Wahrnehmung korrigieren, sonst wird die optische Wahrnehmung zur Falle des Misserfolgs.

Das ist die Crux der Reporter, dass sie zumeist nur berichten, was vor Augen ist, ohne die Sinneseindrücke mit notwendigen Erkenntnissen des Denkens zu korrigieren oder zu ergänzen. Sehe ich einen Trauernden, bleibt meine optische Wahrnehmung abstrakt, wenn ich nichts über die Hintergründe des Trauerns erfahre.

Reporter verlassen sich allzu sehr auf die Kraft der unmittelbaren sinnlichen Impression. Wenn aber Impressionen nicht durch Denken eingeordnet, erklärt und durchdacht werden, wirken sie wie ein Platzregen. Schnell ist er verrauscht, schnell ist man bei den nächsten Impressionen. Das Offene wird doch zu dem, was Emcke unbedingt vermeiden wollte: zur Sucht nach dem immer Neuen.

Es gibt zweierlei Neues: das empirisch Neue, das ich durch rationales Lernen erkennen kann und das messianische Neue, welches sich keinem irdischen Prüfverfahren stellt und geglaubt und angebetet werden will. Die meisten Zeitgenossen huldigen dem Letzteren.

Wenn unter dem Offenen das empirisch Neue gemeint ist, das ich lernen und verstehen kann, werde ich reicher an Erkenntnis. Wenn das Offene ein maskiert messianisches Ereignis sein soll, hab ich meine Vernunft vergeblich von Mutter Natur bekommen.

Wenn der Journalismus dazu beitragen will, die Denkfähigkeiten der Menschen anzuregen und zu stärken, muss er sich in seiner jetzigen Verfassung abschaffen und übergehen zum übertägigen Denken.