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Tanz des Aufruhrs XXV

Tanz des Aufruhrs XXV,

„Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts setzte bei vielen Menschen das Gefühl ein, in einer Zeit zu leben, die sich schier unkontrollierbar beschleunigt. Das war mehr als ein subjektiver Eindruck: Das Tempo der technischen, politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen vervielfachte sich tatsächlich. Zugleich verstärkte sich die Sorge, dass die politischen und sozialen Krisen, deren Zeuge man wurde, zu einer überwältigenden Katastrophe anwachsen könnten. Der Eindruck, dass die politischen Ereignisse über die Gegenwart hinwegrollen, verschärfte sich in den Zwanzigerjahren. Nun aber kam in Deutschland eine neue Angst hinzu, die bald politikmächtig werden sollte: dass man selbst stehen geblieben und von der Zukunft abgehängt worden sei.“ (SPIEGEL.de)

Geschichte wiederholt sich nicht? Sie tut nichts anderes.

Nehmen wir an, sie würde sich nicht wiederholen, was wäre dann? Dann hätten wir keine nennenswerten Probleme, lebten in Glück und Freuden. Wir könnten ständig von vorne beginnen und hätten keine aufgetürmten Altlasten zu tragen.

Unlösbar scheinende Probleme sind uralt, wir haben uns an sie gewöhnt, bemerken sie nicht mehr und empfinden sie als unvermeidliche Bestandteile unseres Geschicks – das wir uns durch unsere „Sünden“ redlich verdient haben.

Geschichte wiederholt sich, weil ihre Grundprobleme gleich bleiben, sich im schlammigen Untergrund ständig verstärken, a) entweder durch gewisse Faktoren überlagert, unterdrückt oder verdrängt werden oder b) in bestimmten Bruchzeiten

 durch explosiv aufgestaute Selbstheilungskräfte des Menschen in die Luft gesprengt werden.

So war es, als nach dem Ersten Weltkrieg keine Versöhnung der Völker zustande kam, das Tempo des Fortschritts – eines ungebärdigen, alles bestimmenden, verführerisch und teuflisch grinsenden, ergo als Heiland empfundenen Rüpels – immer bedrohlicher wurde und jenen Völkern den Hals zu drosseln schien, die mit der rasenden Entwicklung nicht Schritt halten konnten.

Die meisten Völker, die sich ohnehin als geborene Verlierer empfanden, ergaben sich in das Schicksal, vom Fortschritt überrollt zu werden. Wenige, die sich bislang zur Spitzengruppe gezählt hatten, begannen zu rebellieren. Unter ihnen die Deutschen.

Der Krieg war für sie ein Gottesbeweis, den sie glaubten, mit links für sich entscheiden zu können, um fortan allen Völkern ein leuchtendes, uneinholbares Vorbild zu sein.

„Hier setzten die fantastischen Romane an. Sie machten in einer Lage, in der sich viele angesichts der Neuerungen verloren und rückständig fühlten, das verlockende Angebot, die Zukunft zurückzugewinnen. Zentral für viele Zukunftsromane ist der Gedanke, dass die empfundene Starre Deutschlands gelöst werden müsse – notfalls auch mit Gewalt –, um wieder Anschluss zu finden an das Weltgeschehen. Dieses Denken war in den Zwanzigerjahren weit verbreitet, es trug schließlich zur Kriegsbegeisterung der Deutschen bei. Auf den Trümmern der weltweiten politischen und sozialen Zusammenbrüche entsteht ein neues Land: Atlantis. Die Überlebenden errichten hier eine neue Stadt (Neu-Hamburg) und eine neue, deutsche Ordnung: „Atlantis hieß das Ziel derer, denen der heimische Boden zu eng, zu fremd geworden war. Atlantis! Der Schrei ging durch die ganze Welt. Neues Land! Neues Leben!“

Riesige Gefahren drohen, das Überleben der Gattung scheint gefährdet. Die Menschheit vermehrt sich in angsterregender Weise, der übervölkerte Planet erstickt die zusammengepferchten Massen:

„Rechnen Sie sich doch die Vermehrungsziffer der Menschheit aus, überlegen Sie, wie viel bewohnbare Gebiete die Landfläche des Erdballes aufweist, denken Sie besonders an das rapide Wachstum mancher Menschenrassen, der gelben und der schwarzen vornehmlich! Es werden keine hundert Jahre vergehen, dann hockt die Menschheit in 60-stöckigen Wolkenkratzern aufeinander.“

Doch wo Not ist, wächst das Rettende auch – im heiligen Germanien, wo die Götter noch nicht alle geflohen waren:

„Das Heilmittel gegen das Massensterben wird schließlich entwickelt, Deutschland wird so politisch zur führenden Nation – und die Idee der politischen Rolle der Medizin ist geboren. „Die Epidemie ist … nicht beängstigend: Die Toten sind Menschen, die verzichtbar sind. Ihr Sterben ist im geschichtlichen Prozess vorgesehen: Es reinigt die Gesellschaft und macht den Neuanfang erst möglich. Katastrophen wie diese sind ein wiederkehrendes Motiv der Zukunftsromane der Zwanziger. Die kommende Zerstörung wird töten, aber nicht überwältigen. Sie wird, da sind sich die Romanhandlungen sicher, die Krise der Zeit überwinden.“

Erneuerung durch Selbstzerstörung. Der alte Mensch muss sterben, um wiedergeboren zu werden. Durch Tod zur Auferstehung. In der Not zeigt sich erst der Gott. Schöpfung aus Nichts – setzt das Nichts voraus. Eine neue Welt entsteht, wenn die alte massakriert ist.

Erneuerer sind Vernichter. Viele Menschen müssen dran glauben, sie sind überflüssig und behindern den Fortschritt der Sieger, die über Leichen gehen müssen, um sich den Lorbeerkranz zu verdienen. Nur die besten Rassen überleben. Die Menschheit schrumpft sich gesund. Die Überflüssigen und Allzuvielen bleiben auf der Strecke.

Doch die Entwicklung des Menschen ist noch nicht am Ende. Der Fortschritt überwindet das irdische Jammertal und erobert das Weltall. Die Masters of Universe sind keine Erfindungen der Wallstreet, sondern deutscher Zukunftsvisionäre. Hollywoods Science-Fiction-Filme wurden in Weimar und Berlin erfunden:

„Andere Romane sprengen die Zeit-Raum-Grenzen noch nachhaltiger, sie errichten die neue Welt nicht auf der Erde, sondern auf fremden Planeten. Bevorzugt reisen Raumschiffe zu Mars und Venus. Begegnungen mit Außerirdischen sind dabei jedoch eher selten. Überhaupt wird im Weltraum zumeist Deutsch gesprochen – in den Handlungen geht es nicht um eine Verständigung mit der Zukunft, sondern um ihre Besetzung, ihre Besiedlung.“

Wenn die germanische Rasse siegen will, muss sie zuvor ihre gefährlichsten Rivalen zur Strecke bringen:

„Indem die Autoren immer wieder das Narrativ von kommender Zerstörung und Neuanfang bedienten, strickten sie mit an der gesellschaftlichen Erwartungshaltung, vor der sich insbesondere der Nationalsozialismus als politische Antwort präsentieren konnte. Die Zukunftsromane der Zwanzigerjahre zeigen, dass bereits Zeitgenossen diese Zeit als „Zwischenkriegszeit“ dachten.“

Was unterscheidet jene Zeit von der heutigen? Dass die Gefahren der Gegenwart noch bedrohlicher, ja, fast irreversibel und endgültig erscheinen.

Die Katharsis nach dem Ersten Weltkrieg war minimal. Eindeutige Sieger und Verlierer gab es nicht.

Nach wenigen Jahren des Atemholens wurde der Zweite Weltkrieg zum endgültigen Gottesbeweis mit schrecklichen Selbstverletzungen der Menschheit vorbereitet.

Danach gab es eindeutige Verlierer und Gewinner. Da fast die gesamte Menschheit an der Apokalypse beteiligt war, kam es zu einer langen und optimistischen Epoche internationaler Vernunft. Beobachter sprechen vom Zeitalter der Verantwortung.

Die Nationen bildeten ein Weltparlament mit feierlicher Erklärung der Menschenrechte. Die atomare Gefahr wurde gebändigt, demokratisches Denken verbreitete sich. Die innerdeutsche Mauer fiel, es gab konkrete Visionen einer friedlichen Weltgemeinschaft.

Dann der Rückstoß: religiöse Kräfte in Amerika befürchteten durch das areligiöse Friedensgesäusel das Ausbleiben von Armageddon, dem Jüngsten Gericht. Seit endlosen Zeiten warten die Frommen auf das Erscheinen ihres Herrn, der sie mit ewiger Seligkeit belohnt und die Ungläubigen mit ewiger Verdammnis bestraft. Jetzt sollten sie all ihre Hoffnungen auf das Erscheinen des Messias fahren lassen?

Unmöglich. Die amerikanische Politik begann, den Rückwärtsgang einzulegen und den Globus in gewohnter Weise in das Reich des Guten und das Reich des Bösen einzuteilen. Die Utopie einer gleichwertigen und friedlichen Menschheit verschwand aus der Agenda der Internationalen. Jede irdische Utopie galt als vermessene Träumerei, die Fata Morgana eines jenseitigen Lebens hingegen als unbezweifelbares Faktum.

Seitdem brodeln aus allen Poren der Menschheit all jene Probleme, die sie zuvor untergepflügt hatte.

Das Hauptproblem des Westens ist die missglückte Symbiose aus griechischem und religiösem Denken.

Die griechische Polis versuchte ihre Probleme mit Vernunft zu lösen. Vernunft ist der Glaube an die Wahrheit, die der Mensch aus eigener Kraft erkennen kann.

Erlöser hassen die Weisheit der Welt und lösen ihre Probleme nicht in eigener Kompetenz, sondern im Glauben an Gott. Der verspricht die Lösung aller Probleme – oder Erlösung –, wenn der Mensch all seine Fähigkeiten auf dem Altar des Glaubens an IHN opfert. Zum Opfer gehört die Absage an alle autonomen Lösungskompetenzen.

Seitdem Paulus die Weisheit der Welt als Torheit und ihre moralische Kompetenz als Werkgerechtigkeit verfluchte, wurden beide Fähigkeiten der Heiden zu teuflischen Lastern erklärt.

Das gilt bis heute. Zwar übernahm das Abendland die wissenschaftlichen Fähigkeiten der Heiden, aber die philosophischen Grundlagen dieser Wissenschaften als Naturerkenntnis verfälschten sie zur Offenbarung Gottes in der Natur. Natur wurde bei Galilei zum zweiten Buch der Offenbarung.

Die Griechen benutzten ihre Naturerkenntnisse nicht zur Beherrschung der Natur. Das wäre für sie ein Verstoß gegen die bewundernswerte Ordnung des Kosmos gewesen.

Die Christen hatten kein Interesse an Erkenntnissen um der Erkenntnis willen. Sie entwickelten eine machtgierige Naturwissenschaft, die keine Rücksicht nahm auf die sündig-minderwertige Natur. Da sie darunter litten, dass die Wiederkehr ihres Herrn ausfiel, benutzten sie sie machtorientierte Verwertbarkeit ihrer Forschung, um das Jüngste Gericht durch eigene Kraft herbeizuzwingen.

Wenn es ihnen gelänge, die Natur – das „Alte“ – zu zerstören, um ein „Neues“ zu schaffen, könnten sie den säumigen Herrn zwingen, seine Zusagen einzuhalten: das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden.

Seitdem missbrauchen die Christen die Erkenntnismethoden der Heiden, um ihre Endzeiterwartungen einzulösen. Mit anderen Worten: Wissenschaft missbrauchen sie, um Macht über Mensch und Natur zu gewinnen.

Der Sinn von Wissenschaft und Philosophie aber besteht nicht im Erringen endloser Macht, sondern in der Beantwortung der Frage: was muss der Mensch tun, damit er, im Kreis seiner Mitmenschen, ein erfülltes Leben führen kann?

Die Antwort lautet: er muss ein humanes Leben führen. Humanität ist Problemlösen im Geist gleichwertigen Respekts vor allen Menschen.

Die Diffamierung der menschlichen Weisheit durch die „Torheit Gottes“ veranlasste die christlichen Wissenschaftler, die moralische Weisheit des Menschen aus dem Reich der Wissenschaft zu verbannen. Das Erkennen verlässlicher Naturgesetze machte jegliche Moral überflüssig. Denn der Mensch war an den Determinismus der Natur gebunden und hatte keine Chance mehr, sie nach Belieben zu beeinflussen.

Psychologie als geistige Selbsterforschung des Menschen verwandelte sich in eine mechanische Wissenschaft, die nur den Zweck hatte, den Menschen durch äußere Reize zu beherrschen.

Ökonomie als Regulierung der Wirtschaft durch moralische Prinzipien wurde zur Marionettenwissenschaft. Der Mensch ist zur Lösung seiner Probleme unfähig. Gegen die Allmacht natürlicher und geschichtlicher Gesetze kommt er mit lächerlich-moralischem Wunschdenken nicht an.

Der Glaube an den Fortschritt – ursprünglich ein wissenschaftlicher und moralischer – wurde zunehmend zu einem Glauben an technische und wissenschaftliche Macht. Philosophische Moral fiel flach. Mensch und Gesellschaft verloren ihre geistige Kompetenz und verwandelten sich in Räderwerke, deren Gesetze naturwissenschaftlich erkannt werden konnten. Autonome Moral – überflüssig.

Durch Reduktion des Fortschritts in technische Machtanhäufung unter Ausschluss humaner Ethik häuften sich die politischen Probleme ins Unermessliche.

Demokratische Probleme werden einzig durch moralische Politik gelöst. Fällt Moral flach, schießen die Probleme ins Gigantische. Von Krise zu Krise werden die Gefahren größer. Bislang gab es nur eine einzige Möglichkeit, die Wirkung ungelöster Probleme einzuhegen: durch Macht und Anhäufung von Wohlstand und Reichtum.

Machteliten hämmerten den Völkern ein, dann am glücklichsten zu sein, wenn sie in Luxus und Überfluss schwammen. Das geht eine Weile gut, zumal, wenn die christlichen Völker lernten: wer hat, dem wird gegeben, wer nichts hat, dem wird genommen, was er hat.

Also mussten sie reich werden, damit sie von Oben noch reicher würden. Also mussten sie Macht erringen über die Natur, um noch mehr Macht über sie zu erringen. Also mussten sie Herren der Welt werden, um Herren des Universums zu werden.

Wahrheit ist die Lösung aller Probleme. Die Wahrheit des Tuns ist Moral. Wird praktische Wahrheit verfemt, gibt es keine Mittel mehr, die rasanten Probleme der Politik zu lösen, zumal das bisherige Mittel – Erfolg durch Fortschritt – an sein Ende gekommen ist. Die drohende Klimakrise ist eine Bankrotterklärung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts.

Weder praktischer Nutzen, noch Macht über Mensch und Natur sind die Zwecke der Wissenschaft, sondern die Erkenntnis des Wahren. Wer die Wahrheit der Natur erkennt, kann sie nicht mehr ausbeuten und zerstören. Wer die Wahrheit des Menschen erkennt, kann ihn nicht mehr manipulieren, konditionieren, überwachen und seinen eigenen Profitinteressen unterwerfen. Wahrheit ist die Voraussetzung eines Lebens in Einklang mit der Natur und der globalen Menschheit.

Wahrheit in Theorie und Praxis ist die conditio sine qua non aller Problemlösungen, die kein Problem durch Schaffen neuer Probleme lösen wollen.

Der Mensch ist ein Teil der Natur, der nur leben kann, wenn er in inniger Verbindung mit der Natur bleibt. Seit Erfindung männlicher Hochkulturen und deren Religionen, die Besseres sein wollten als Natur, hat sich der Mensch von seinen natürlichen Ursprüngen entfernt. Die neuen Männerreligionen, die die Bedeutung der Frau und der mütterlichen Natur negierten, verjagten – mit jenseitigen Strafen und Belohnungen – den Menschen aus dem Reigen der Natur. Und trieben ihn in die Hände eines männlichen Gottes, der die Natur zu seiner Schöpfung erklärte, zu einer verkommenen und minderwertigen Kreation aus Nichts. Natur ist Nichts, Gott ist Alles.

Ab jetzt war das Ziel eines gottkonformen Lebens, so schnell wie möglich die natürliche Lebenszeit zu durchlaufen, um in einem illusorischen Jenseits zu verschwinden. Alles Irdische verlor seinen Wert als Heimat des Menschen, in der er sich wohl fühlen und glücklich werden konnte.

Es gibt zwei Problemkerne, die sich der Westen schuf. A) Je mehr er die Natur zerlegt, je höher wächst die Gefahr, dass Natur ihn zerlegt. B) Je mehr er die Gerechtigkeit des Zusammenlebens und die gleiche Wertschätzung der Menschen zerstört, je mehr wächst die Gefahr, dass der ent-menschlichte Mensch zur Bestie wird, die über seine Nachbarbestien herfällt.

Nicht nur in Syrien wird gekämpft, die Gefahr großer Kriege zwischen den Kolossen der Welt steigt mit jedem Tag. Die Deutschen verachten sich wegen ihrer pazifistischen Jammerpose und begehren, militanter zu sein. Schon schauen sie neidisch und begehrlich auf die Atomwaffen der Franzosen. Ihr Motto ist nicht: willst du Frieden, sorge für Frieden unter den Völkern. Sondern es ist das Motto der Kriegsenthusiasten: willst du Frieden, rüste zum Krieg. Die Epoche der Abrüstung ist vorbei. Die Völker, in steigender Angst voreinander, schwimmen in Waffen.

Endlich beginnen die Naturwissenschaften, sich für die Folgen ihres machtgierigen Forschens zu interessieren. Doch es ist nur ein kleiner Bruchteil der Wissenschaftler aller Welt, die sich für notwendige Korrekturmaßnahmen einsetzten. Die meisten Wissenschaftler sind nähere oder entferntere Lakaien der Macht ihrer Nationen, vor allem ihrer militärisch-technischen Komplexe.

Der Bankrott des Erfolgs ist der Bankrott einer missbrauchten Wahrheit, die sich durch Fortschritt von Macht und Reichtum bestätigt fühlt. Das Kriterium der Wahrheit ist Frieden.

Diese einfachen Botschaften sind der Moderne unerträglich, weil sie noch immer unter dem Damoklesschwert des christlichen Glaubens steht. Dessen Parolen sind unzweideutig: die Sünden des Menschen auf Erden sind irreparabel. Wahrer Friede herrscht nur im Jenseits. Also muss das Jenseits hergestellt und das Diesseits vernichtet werden.

Die Menschheit ist noch nicht so verdorben, dass sie tief im Innern nicht den Grund ihrer Malaise spürte. Ihre wachsende Empörung signalisiert den Mächtigen: Stopp. Nicht weiter wie bisher. Wir brauchen eine globale Nachdenkzeit. Blinder Fortschritt stürzt uns ins Verderben, endlos wachsender Wohlstand vergrößert die Kluft zwischen Reich und Arm.

Reichtum und Armut erkennt man nicht nur am Unterschied ihrer Kontogrößen, sondern am Unterschied ihrer Macht und politischen Einflussmöglichkeit. Eine Gesellschaft voll schreiender Ungerechtigkeit ist keine Demokratie mehr, in der alle Gewalt vom Volke ausgeht, sondern eine Kleptokratie, die angemaßte Herrschaft jener, die sich mit List und Tücke einen immer größeren Batzen des öffentlichen Reichtums unter den Nagel gerissen hat. Die Reichen wollen regieren, ohne für die Politik offiziell verantwortlich zu sein.

Da die Menschheit in der jetzigen Krise ihr Versagen in der Vergangenheit zu ahnen beginnt, fühlt sie den Wunsch, sich vom Ballast zu befreien – indem sie alle aufgehäuften Giftbestände in die Luft sprengt. Generalreinigung durch Selbstzerstörung. Wer den Glauben an die therapeutische Kraft der Vernunft verloren hat, der kennt nur Höllenfahrt und Auferstehung ins Nichts.

Dem Bedürfnis nach Generalreinigung entspricht – wenn Selbstbesinnung ausfällt – der triebhafte Wunsch, dem Hier und Jetzt durch Flucht in eine messianische Zukunft zu entkommen. Fortschritt ist Flucht. Wer immer nach vorne schaut, fühlt sich verfolgt vom Vergangenen. Weshalb es in der Moderne nie die Zäsur geben darf: haltet ein, Brüder und Schwestern, wir müssen unsern Kopf einschalten.

Nachdenken ist tödlich für blinden Fortschritt, der nichts will als Beschleunigen und die Motoren aufheulen lassen.

Die bislang führenden Wirtschaftsmächte Marxismus und Neoliberalismus sind beide Feinde der Philosophie und der autonomen Moral. Für Marx gibt es nur den Automatismus einer ökonomischen Heilsgeschichte, für Hayek nur den Zufallsgenerator einer Evolution. Heilsgeschichte und Evolution sind für den menschlichen Verstand nicht einsehbar.

Der Prolet kann sich nur an den Fortschritt des Kapitalismus klammern, bis dieser sich selbst ins Messer stürzt und irgendwann seine Früchte den Opfern übergibt.

Der Neoliberale kann sich nur dem Zufall des evolutionären Marktgeschehens ausliefern, das mit keiner Vernunft erkennbar, mit keiner Moral beherrschbar wird. Die Ordnung des Marktes ist von keiner Vernunft erfunden oder verstehbar, sondern in einem langen undurchsichtigen Prozess entstanden,

„in dem sich langsam das Erfolgreiche durchgesetzt hat und imitiert wurde. Es ist gewiss oft traurig zu sehen, wie die Verteilung der Güter der Welt durch bloßes Glück, wenn nicht durch Schlimmeres bestimmt wird und nur so selten im Verhältnis zu erkennbarem Verdienst oder Bedarf. Aber wie viel schlimmer wäre es doch, wenn wir alle überzeugt wären, dass jeder das verdient, was er hat – oder nicht hat – und der, dem es schlecht geht, wüsste, dass alle anderen meinen, er verdiene es eben nicht besser. Ich möchte jedenfalls nicht in einer solchen Welt leben.“ (Hayek, Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit)

Soziale Gerechtigkeit nennt Hayek „Immoralismus“. Weshalb seine heutigen Anhänger jede Moral als amoralische Gutmenschenheuchelei ablehnen. So weit haben wir‘s gebracht: Moral ist Amoral, Amoral ist Moral. Kritiker der Moral sind demnach die Allermoralischsten.

In einer humanen Welt arbeiten alle Menschen zusammen, um das Wohl aller zu garantieren.

Aus Angst vor einer Welt, in der gerechte Belohnung der Gipfel der Ungerechtigkeit wäre – weil die wahren Verdienste jedes Einzelnen offen vor Augen lägen – will Hayek lieber eine ungerechte Welt, die die angeblich gerechten Verdienste mit dem Schleier des Unwissens bedecken.

Aus denselben Gründen hätte Hayek auch den Sozialismus akzeptieren können, in dem jeder nicht nur nach seinen Fähigkeiten, sondern auch seinen Bedürfnissen belohnt wird. Ginge es nur nach Fähigkeiten, wäre die Gesellschaft obszön gerecht. Ginge es aber nach Bedürfnissen, wäre der Leistungsgedanke negiert. Im Kommunismus hätte Hayek sich wohlgefühlt: das ist das überraschende Geheimnis des Neoliberalismus.

Das Motto des deutschen Verwirr-Liberalismus lautet: Leistung muss sich wieder lohnen. Der Urvater des Neoliberalismus verkündete das Gegenteil: Leistung und Verdienst müssen versteckt und negiert werden. Eine gerechte Gesellschaft wäre unerträglich. Der Mensch erträgt sein Los nur, wenn er hadern darf mit dem Unrecht der Welt: Mir aber sind die Hände gebunden, an meinem Geschick etwas zu ändern. Gerechtigkeit kann ich nicht wollen, sie wäre mir unerträglich. Ungerechtigkeit bleibt das Los der Menschheit.

Hayeks Neoliberalismus entlarvt sich als Paläo-Katholizismus: Herr, deine Welt ist sittenlos und verkommen. Doch eine gerechte Welt wäre noch unerträglicher, denn ich wäre gezwungen, Dich als Pfuscher und Bankrotteur anzuklagen.

In einer humanen Welt gibt es keinen unerbittlichen Wettbewerb, der die Leistungen der Einzelnen gnadenlos gegeneinander ausspielte. Sondern jeder tut, was er kann, weil er sich als gleichwertiges Wesen empfindet. Was der Einzelne beiträgt, tut er nicht um eitler Belohnung willen, sondern weil es ihm Freude bereitet, zu geben und zu nehmen.

Eine gerechte Gesellschaft erkennt man daran, dass niemand sich um sein Überleben sorgen, niemand fürchten muss, von seinen Mitmenschen diskriminiert zu werden, weil er ist, wie er ist. Eine Rangfolge der Verdienste gibt es nicht. Also braucht man keine zufällige Verteilung des Reichtums der Gesellschaft – um eine ungerechte Gesellschaft mit dem Schleier der Lüge zu vertuschen.

Die Welt erstickt an ihren endlos verschleppten ungelösten Grundsatzproblemen. Weil sie ihr Leben am Erfolg des Fortschritts, nicht an der Wahrheit ausrichtet. Daher besteht die Gefahr, sich aus Selbstreinigungsgründen in die Luft zu sprengen, um sich die Gnade eines radikalen Neubeginns mit Gewalt zu verschaffen.

Es gibt eine bessere, ja, es gibt nur eine Lösung: wir müssen ins Denken kommen.

 

Fortsetzung folgt.