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Tanz des Aufruhrs XI

Tanz des Aufruhrs XI,

der amerikanische Verteidigungsminister widerspricht seinem Dienstherrn im Weißen Haus:

„Dem amerikanischen Verteidigungsminister Mark Esper lagen keine konkreten Beweise dafür vor, dass der iranische General Qasem Soleimani plante, vier US-Botschaften anzugreifen.“ (SPIEGEL.de)

Den Widerspruch nennt der SPIEGEL eine Relativierung. Eine Relativierung ist eine Abschwächung. Streng genommen wirft Esper dem Präsidenten fahrlässige Unwissenheit oder zynisches Lügen vor. Vermutlich letzteres.

Vor kurzem wäre das ein unfasslicher Vorgang gewesen, der zum Rücktritt des Ministers – im unwahrscheinlichen Fall sogar zum Rücktritt des US-Präsidenten hätte führen können. Nicht mehr heute, wo Kollege Zeitgeist – der diskrete Vordenker der Moderne – das Gewand gewechselt hat.

Zeitgeist? „Es kann niemand seine Zeit überspringen, der Geist seiner Zeit ist auch sein Geist.“

Hegels Definition hat eine entscheidende Schwäche. Kann niemand den Zeitgeist überspringen, müsste jeder das Gleiche denken. Danach sieht‘s weniger aus. Entweder gibt es viele Zeitgeister, die die konträren Denkweisen verursachen oder einen führenden Zeitgeist, der im kakophonen Konzert von anderen übertönt wird und von Eliten per ordre de mufti zum bestimmenden ausgerufen wird.

Das ist die Ideologie heutiger Intellektueller und Medien, die sich für die wahren Zeitgeistentdecker und -propagandisten halten. Alle, die sich ihrem Spruch nicht fügen, werden von ihnen zu Hinterwäldlern, Abgehängten oder Losern degradiert.

Der Zeitgeist hat immer Recht. Er ist, nach Hegel, der Geist Gottes, der sich im Verlauf der Geschichte über viele Widersprüche hinweg zur vollen Offenbarung der Wahrheit am Ende der Zeiten entfalten wird. Nicht von Anfang an ist er in

kompletter Gestalt vorhanden, zur vollen Schönheit und Wahrheit über alle Gegensätze hinweg muss er sich erst entwickeln.

Zeitgeist-Entdecker wären demnach diejenigen, die das final siegreiche Element aus dem Gewirr heutiger Zeitgeister aufspüren und schon jetzt anbeten. Wie Götter einst als anonyme Menschen über Land gingen, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre verborgene Grandiosität zu entdecken, so die Zeitgeist-Entdecker, die die Fähigkeit besitzen, die Geister hinter allen Maskierungen zu unterscheiden.

„Ihr Lieben, glaubt nicht einem jeden Geist, sondern prüft die Geister, ob sie von Gott sind; denn viele falsche Propheten sind hinausgegangen in die Welt. Sie sind von der Welt; darum reden sie, wie die Welt redet, und die Welt hört sie. Wir sind von Gott, und wer Gott erkennt, der hört uns; wer nicht von Gott ist, der hört uns nicht. Daran erkennen wir den Geist der Wahrheit und den Geist des Irrtums.

Die Rolle der Zeitgeistentdecker wurde den Erleuchteten entrissen und von Medien und Intellektuellen übernommen. Sie bestimmen heute, wer zur siegreichen Avantgarde gehört und wer zu den Lahmen und Fußkranken.

Erkennen war bei den Griechen das Entdecken einer zeitlosen Wahrheit, bei Christen und Modernen ist es die Entdeckung der sich zeitlich verändernden Augenblickswahrheit einer göttlichen Offenbarung.

Bei Griechen ist Wahrheit zeitlos, was sich verändert, beweist seine Unwahrheit.

Bei Christen umgekehrt: wahr ist, was sich ständig verändert; das Zeitlose und Gleichbleibende muss unwahr sein.

Die zwei inkompatiblen Wahrheiten sind die Grundlagen der zwei inkompatiblen Kulturen des Westens – der sich, im Gefolge Hegels, als Versöhner aller Widersprüche darstellt. Versöhnen heißt Synthetisieren von Widersprüchen. Oder: alles ist kompromissfähig, weshalb deutsche Parteien sich im Kompromisse Schließen von niemandem überbieten lassen.

Sie hätten Recht, wenn die Wahrheit aller Dinge identisch wäre mit der Botschaft des Buches aller Bücher. Kompromisse schließen ist für sie dennoch keine Abkehr von ihrer intoleranten Unfehlbarkeit, sondern der Glaube, dass durch alle Irrtümer der Welt hindurch die jenseitige Wahrheit sich am Ende durchsetzen wird.

Kompromissfähigkeit darf mit endgültiger Toleranz nicht verwechselt werden. Nicht alles in der scheinbar endlos-kompromissfähigen Kultur ist wirklich kompromissfähig. Gewisse Elemente wie Herrschaft über die Natur, Fortschritt oder Entwicklung ins Grenzenlose entziehen sich aller Zustimmungsbedürftigkeit und entlarven die theokratische Grundstruktur der Kompromissmanöver. Wie Gott sich in einem langen Geschichtsprozess zu seiner wahren Größe und Unbesiegbarkeit entwickeln muss, so der Mensch, der sich im Verlauf der Zeit erst zum Sieger der Evolution entfalten kann. Für Griechen undenkbar: das Vollkommene ist zeitlos vorhanden, es muss sich nicht erst entfalten.

Die Parteien hätten Unrecht, wenn die griechischen Heiden Recht hätten. Bei ihnen gibt es in Wahrheitsdingen keine Kompromisse, sondern nur ein Entweder-Oder. In Lernprozessen kann der Mensch die Wahrheit erkennen, um die Unwahrheit mit Hilfe von Argumenten aus dem Wege zu räumen.

Der argumentative Weg wäre der Weg der Demokratie und des Dialogs, der mit der Vernunft aller Dinge rechnet und die Unwahrheit eines Besseren belehren kann. Geschieht die „Belehrung“ aber mit Gewalt, verkehrt sich die Demokratie zur faschistischen Herrschaft der Weisen.

Die Theokratie der Frommen und der Faschismus der Weisen haben sich im Abendland zusammengetan, um über alle widrigen Zeitgeister hinweg am Ende einen Gesamtsieg zu erzielen. Zu den widrigen Zeitgeistern gehört auch die intermittierende Demokratie, die eine Weile ihre Sandkastenspiele spielen darf, bis die unbesiegte theokratische Grundstruktur sie abschütteln und ihre Heilszeit siegreich beenden wird.

Pendelbewegungen des Zeitgeistes sind Bewegungen zwischen heidnischer Zeitlosigkeit und theokratischer werdenden Regressionen, die sich dem eschatologischen Ende der Geschichte nähern. Theologen sprechen vom Kampf zwischen göttlichen und satanischen Mächten.

Konkretisieren wir das übergreifende Kulturthema mit der Frage nach Ethik, Werten, Moral und Recht. In einer Kultur unbedingter Wahrheit müssten alle vier Begriffe aus einer Einheit bestehen. Ethik wäre identisch mit moralischen Werten, die im staatlichen Bereich zu rechtlichen Bestimmungen werden.

Da wir nur in einer scheinbaren Demokratie leben, die auf unsichtbaren theokratischen Grundpfeilern ruht, geht es drunter und drüber mit den Begriffen. Moral Gottes ist antinomisch gespalten, demokratische Ethik soll im Grunde eine theologische sein (Böckenförde-Doktrin), Recht denkt nicht daran, moralisch zu sein, Moral ist alles andere als einheitlich, sondern gehorcht dem Gesetz pluraler Vielfalt und Unverträglichkeit.

Eine allgemein verbindliche Wahrheit gibt es nicht. Wie diese flotte Unverbindlichkeit vereinbar sein soll mit allgemein verbindlichen Menschenrechten, bleibt das mystische Geheimnis der Vernunftgegner. Denn Vernunft ist die Instanz, die allgemein verbindlichen Grundlagen einer humanen Gesellschaft dialogisch-demokratisch zu entwickeln.

Betrachten wir den harmlos scheinenden Begriff Gradlinigkeit:

„Eskens Plädoyer für unterschiedlichere Lebenserfahrungen: „Ich glaube, diese Geradlinigkeit, die ja heute oft gefordert wird, birgt eben auch gewisse Gefahren“, sagt sie.“ (SPIEGEL.de)

Kann es sein, dass die SPD ein neues Führungsteam wählte, damit ihre Parteipolitik gradliniger wird und nicht um jeder Groko-Harmonie willen in Beliebigkeit verfällt? Dann wär‘s mit der Gradlinigkeit vorbei, bevor sie überhaupt das Licht der Welt erblicken konnte.

Gradlinigkeit ist „Offenheit und Ehrlichkeit“. Gradlinige mögen anecken, aber man weiß immer, woran man bei ihnen ist. „Synonyme zu Gradlinigkeit sind Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Redlichkeit, Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit.“

Bei Esken kommen diese Begriffe nicht vor. Sie assoziiert Gradlinigkeit mit Intoleranz und der Unfähigkeit, andere Erfahrungen zuzulassen. Erfahrungen aber sind keine moralischen Prinzipien, sondern Folgen derselben.

Was wäre das Gegenteil zu Gradlinigkeit?: „Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, Unberechenbarkeit, Unehrlichkeit.“ Esken würde also Unberechenbarkeit und Unehrlichkeit bevorzugen, um die Erfahrungen eines Trump „zuzulassen“? Kaum vorstellbar. Schützen wir sie vor sich selbst mit der Vermutung: sie weiß nicht, wovon sie spricht.

Ein fairer Interviewer hätte sie mit Nachfragen vor ihrem gedankenlosen Gerede schützen müssen – wenn er die Fallen der postmodern verluderten Begriffe durchschaut hätte.

Wenn Gradlinigkeit Zuverlässigkeit, Berechenbarkeit und Wahrhaftigkeit sein soll, befinden wir uns bereits im Bereich der Philosophie oder des Erkennens der Wahrheit. Ohne Wahrheit keine Wahrhaftigkeit.

Ab jetzt scheiden sich die Geister. Meinen wir die Wahrheit einer Geschichtsoffenbarung, müssen wir auf Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit verzichten. Denn eine zeitabhängige, sich ständig wandelnde Wahrheit kann nie berechenbar sein. Sie ist abhängig von externen Weisungen, die sich täglich ändern können.

Was gestern gültig war, gilt heute nicht mehr, weil das Neue das Alte vertilgt. Wer Neues um des Neuen willen propagiert, ohne nachzuweisen, dass das Neue wahrer und besser ist, der hasst alles Alte und erfindet sich täglich neu. Von daher das faschistische Gerede: Demokratie ist auch nicht das Gelbe vom Ei, wir müssen nach China schauen, um wahre Effizienz zu lernen.

Vermutlich meint Esken, der Gradlinige ist unfähig, Kompromisse zu schließen. Da Demokratie nur mit Kompromissen leben kann, muss Gradlinigkeit antidemokratisch sein.

Absolut daneben, Madame Esken! Kompromisse schließt man nur im Bereich praktischer Verträglichkeit, die die eigenen theoretischen Prinzipien niemals ausschließen darf. Jede Theorie ist eine abstrakte Idee, für die gilt, was für Rom gilt: es führen viele Wege nach Rom. Manche ziemlich direkt, manche in Umwegen. Alle Kompromisse sind erlaubt, wenn sie das Endziel Rom nicht aus den Augen verlieren.

Zudem gilt: Kompromisse sind nur für eine gewisse Zeit verbindlich. Danach müssen sie überprüft werden am Kriterium der finalen Idee. Insofern könnte man sagen: Kompromisse sind Erkundungswege, die in Versuch und Irrtum den kürzesten Weg nach Rom suchen. Einen Irrtum kann man nur entdecken und benennen, wenn man die Wahrheit kennt.

Das muss kein von Anfang an bewusster Akt sein. Der Mensch in seinem dunklen Drang ist sich des rechten Weges wohl bewusst. Je mehr Erfahrungen ich mache, je klarer kann mir werden, wohin ich will. Je näher ich komme, umso deutlicher spüre ich: ja, das ist es, was ich wollte. Oder umgekehrt: nein, das kann es nicht sein, was ich hier erlebe, ich muss mich getäuscht haben und ab jetzt einen anderen Weg finden.

Ohne das prinzipiell Gradlinige keine Kompromisse, die nur funktionieren können, wenn sie überprüft werden anhand kompromissloser Ideale.

Warum sind wir in einer Parteienkrise? Weil die Parteien sich alle dem Dogma der Kompromisslerei ergeben haben. Sie sind besoffen vom Zwang, schon im gedanklichen Vorfeld der Taten nicht zu suchen, was sie für richtig halten, sondern was voraussichtlich kompromissfähig sein – oder bei den Wahlern ankommen wird.

Zwischen Theorie und Praxis, Wahrheit und Macht, wird heute nicht mehr unterschieden.

Eine gradlinige Partei hat nicht daran zu denken, ob ihre Programme kompromissfähig mit denen anderer Parteien sind. Auch nicht, dass sie dieses oder jenes Lager für sich gewinnen und damit die Macht erjagen können.

§1 aller gradlinigen Politik: sind unsere Ideen wahr? Können wir sie im Seminar genau so vertreten wie in der Stammkneipe? Erst dann kommt §2: wir erringen genau die Macht, die wir mit unseren gradlinigen Ideen gewinnen können. Angepasste Programme, nur um eine möglichst große Macht zu erringen: sind eine Form des Betrugs.

Parteien haben in der Öffentlichkeit ihre Ideen vorzutragen – und es dem Volk zu überlassen, welche Macht es welchen Ideen einräumt. Alles andere ist Machiavellismus und Manipulation.

Parteien der Gegenwart sind kompromissfähig bis zur Selbstauslöschung. Ihnen fehlt die Präzision gradlinig-wahrhafter Gedanken. Die Weltkrise ist eine Grundlagenkrise der westlichen Demokratien. Ergo müssen sie die Wurzeln ihres Daseins überprüfen, um bedrängenden Problemen ab ovo die rechte Antwort zu geben.

Typisch, dass Prinzipien wie Ethik, Moral, Gerechtigkeit, Fortschritt, Natur, Wahrheit in keiner Talkshow debattiert werden. Fällt mal unversehens ein solcher Begriff, sollste mal sehen, wie hurtig die Moderatorin auf ein anderes Feld hüpft. Deutschland ist begriffsfeindlich, wahrheitsmüde und denkfaul geworden. Man will nur noch fuggern und mauscheln, dass sich die Balken biegen.

Als die Grünen vor 40 Jahren eine Partei gründeten, warfen Politik und Medien ihnen handlungsunfähigen Fundamentalismus vor. Zum jetzigen Geburtstag werfen sie ihnen das Gegenteil vor: angepasste Mittelschichtsattitüden. Wie man‘s macht, ist es falsch. Nicht philosophisch, sondern taktisch falsch. Wahrheit interessiert heute niemanden mehr, sondern nur noch „kommunikative“ Strategien, Framing-Finten und Bauernfängereien.

Die politisch sterilen Gazetten neiden den Erfolgreichen den Erfolg, den Erfolglosen werfen sie falsches Taktieren vor. Warum steht die westliche Kultur nicht auf demokratischen, sondern auf theokratischen Grundpfeilern? Weil sie nicht der Wahrheit um der Wahrheit willen folgt, sondern der religiösen Wahrheit der Macht.

Religion will am Ende der Tage Recht behalten und die Menschheit vor Gericht stellen. Da wird nicht gefragt: seid ihr eurer erkannten Wahrheit gefolgt, sondern: habt ihr euch dem Göttlichen ergeben? Das letzte Wort der Geschichte hat nicht die Wahrheit, sondern der Erfolg.

Beispiel Joe Kaeser. Der FFF-Bewegung gab er einen Korb, obwohl er zugab, dass seine Kohle-Politik die Natur entschieden schädigt. Seine Begründung: vertragliche Verpflichtungen müsse man erfüllen. Somit hätte Kaeser eine wahrheitswidrige Entscheidung getroffen und müsste von der Presse aufs schärfste gerügt werden. Der SPIEGEL:

„Klimaschützer sind erwartungsgemäß empört. Allerdings: Kaeser wäre auch der Verlierer gewesen, hätte er dem Druck nachgegeben und den Auftrag sausen lassen. Denn der Vertragsbruch hätte wohl einen massiven Vertrauensverlust für das Unternehmen bedeutet. Mit womöglich gravierenden wirtschaftlichen Folgen.“

Die eigene Wertung versteckt sich hinter der „Empörung“ der Klimaschützer. (Empörung ist auch keine klare Wertung, empört kann jeder aus unterschiedlichsten Gründen sein.)

Dann folgt die dialektische Antithese: im Falle eines Vertragsbruchs wäre Kaeser auch der Verlierer gewesen. Wie er’s macht, es ist falsch. Richtiges kann es offenbar nicht geben: lasst ihn also machen, was immer er für taktisch richtig hält.

Gradlinige Politik schielt nicht auf den Erfolg, auch nicht auf eine „innere Gesinnung“ – wie Max Weber alles durcheinander brachte –, sondern auf gradlinige Moral, die auf den ersten Blick verlieren, aber langfristig die einzige Möglichkeit einer humanen Weltpolitik bieten kann.

Kurzfristiger Erfolg der Machiavellisten besteht aus Verlust der Wahrheit, langfristiger Erfolg der Gradlinigen vereint Wahrheit und Erfolg. Es ist Unsinn, den „Moralisten“ oder „Gesinnungsethikern“ keinen Erfolgswillen zu unterstellen. Den Erfolg kurzsichtiger Macht über den eigenen Staat, über andere Staaten: den lehnen sie ab. Was sie anstreben, erweist sich gerade in diesen Tagen als einzige Möglichkeit, dem kollektiven Suizid zu entgehen: den wahrheitsfähigen Erfolg der Vernunft – oder eine kosmopolitische Humanität.

Max Webers Trennung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist eine christliche Missgeburt. Gesinnung ist die Moral der civitas dei, die darauf vertrauen darf, dass Gott Wollen und Vollbringen des Menschen bewirkt. In der civitas diaboli, dem irdischen Staat, hingegen bleibt dem Gläubigen nur die innere, wirkungslose Gesinnung, wer weltlichen Erfolg haben will, muss auf Verantwortungsbrutalität hoffen, dem satanischen Wirken in der sündigen Welt. Wie Gottesstaat und Teufelsstaat sich feindlich gegenüber stehen, so stehen sich Gesinnung und Verantwortung unversöhnlich gegenüber.

Was fehlte in der Definition der Gradlinigkeit, ist die moralische Autonomie des Menschen. Der Mensch hat ausschließlich seinem eigenen Kopf zu folgen. Was bedeutet, er soll auf Erfolg seines gradlinigen Denkens hoffen können. Doch Garantien gibt es keine. In einer moralwidrigen Welt muss er mit unangenehmen Konsequenzen rechnen.

Widerständler im Dritten Reich durften nicht mit öffentlichen Preisen rechnen, wenn sie bei staatsfeindlichen Aktionen erwischt wurden. Dasselbe gilt für gewaltfreie Aktionen in allen menschenfeindlichen Regimes dieser Welt. Wie mutig die Menschen heute geworden sind, die in Russland, Hongkong, Chile, Venezuela, Algerien, Irak und Iran auf die Straße gehen, um sich ihren Diktatoren zu widersetzen!!

Aus dem Blickwinkel deutschen Moralverächter müssten sie alle idealistische Träumer sein.

Als man Helmut Schmidt fragte, wie er die Zukunftschancen der frisch gegründeten Grünenpartei einschätze, antwortete er: in zwei Monaten sind sie verschwunden. Bekanntlich war Schmidt ein Verächter der Utopisten, die er alle zum Psychiater schicken wollte. Inzwischen steht seine utopievergessene SPD kurz vor dem Exitus, da sie nur noch von Groko-Kompromiss zu Groko-Kompromiss humpelt. Gradlinige Gedanken und Werke sind bei den einstigen Weltverbesserern in der Mülltonne gelandet.

Eine ähnlich bigotte Kommentierung wie bei Kaeser gab es beim Impeachment-Verfahren gegen Trump. Sollten die Demokraten ein solches Verfahren einleiten oder nicht? Die wenigsten Edelschreiber sagten frank und frei: politisch und moralisch ist es absolut notwendig, einen Präsidenten, der sich selbstherrlich über die Gesetze des Landes hinwegsetzt, zum Teufel zu jagen.

Die meisten zeigten den üblichen salto mortale: gewiss, schon richtig, alles in allem dennoch falsch. Ein erwartbares Scheitern des Verfahrens würde nur dem Angeklagten nützen. Macht siegt erneut über Wahrheit.

Auf diese Weise wird jede rechtliche und moralische Struktur einer Demokratie zuschanden geritten. Wen wundert es, dass im Westen immer mehr Ruinen übrig bleiben, wenn man den Demokratien das Rückgrat bricht?

Noch ein Beispiel: die Ferntötung des iranischen Generals Soleimani. Kann ein Staat nach Belieben – im Innern wie im Äußern – Menschen töten, die er für böse hält?

Im Innern gibt’s selbstgemachte Gesetze, die einzuhalten wären, im Ausland Völker- und Menschenrechte, die man nicht in einem Akt der Selbstjustiz killen darf. Da muss man sich an die UNO wenden und Verfahren akzeptieren, die dem Gewissen der Welt gerecht werden. Alles andere sind Wildwest-Lynchmethoden.

Wie wurde der Fall in Deutschland beurteilt? BILD schäumte vor Wut über den schlimmsten Verbrecher aller Verbrecher; das genügte zur Rechtfertigung der Trump‘schen Völkerrechtsverletzung. Wenn Netanjahu allerdings seine imperiale Landnahme verteidigt und ankündigt, weitere Teile des palästinensischen Gebiets nach einem Wahlsieg zu annektieren, hört man keinen Mucks in einer Gazette, die das Etikett Philosemitismus zur Legitimierung von Völkerrechtsverbrechen missbraucht. Man fragt sich, warum Israel dem Springerverlag wortlos die Möglichkeit überlässt, blanken Zynismus als „israelfreundliche Gradlinigkeit“ durchgehen zu lassen?

Es entspricht unrühmlicher deutscher Tradition, alles, was nach Ethik und Moral riecht, derart sophistisch auseinanderzudividieren, dass alle „Experten“ wunschgemäß sagen können: alles nicht so leicht mit dem, was sich der Pöbel unter abendländischen Werten vorstellt. Um ihre eigene amoralische Kannitverstan-Haltung zu rechtfertigen, muss das Selbstdenken so kompliziert sein, dass es niemanden auf der Welt gibt, der die hohen Erwartungen deutscher Professoren erfüllen kann. Alles zu komplex für den Pöbel, inklusive Menschenrechte. Zurück zur nationalistischen Machtpolitik der Deutschen, die jeder Trottel nachvollziehen kann.

Umfragen zur Moral der Deutschen sind an Borniertheit nicht mehr zu übertreffen.

„Bei den Abgeordneten aus Kommunal- und Landesparlamenten sowie dem Bundestag folgen in der Werteliste Gerechtigkeit (28 Prozent) und Solidarität (27 Prozent). Gerechtigkeit taucht bei der offenen Abfrage unter den Deutschen gar nicht auf, Solidarität nannten lediglich sieben Prozent. In der Bevölkerung gaben hingegen je 22 Prozent Treue und Zuverlässigkeit als bedeutsame Werte an. Treue spielt bei den Politikern den Ergebnissen nach keine Rolle. Immerhin ein Fünftel der Abgeordneten (20 Prozent) findet Zuverlässigkeit wichtig. Auch Bescheidenheit und Offenheit stehen in der Werteliste der Bevölkerung – nicht aber bei den Parlamentariern. Dafür nennen diese unter anderem Verantwortung, Nachhaltigkeit und Soziales Engagement, die wiederum für die Deutschen belanglos zu sein scheinen.“ (Handelsblatt.de)

Ausgerechnet Politiker halten Gerechtigkeit hoch, die in ihrer täglichen Politik von Gerechtigkeit nichts wissen wollen? Was ist der Unterschied zwischen Treue-Zuverlässigkeit und Solidarität? Was zwischen Bescheidenheit-Offenheit und Verantwortung-Nachhaltigkeit-Sozialem Engagement?

Die verwendeten Begriffe sind nicht trennscharf und überlappen sich in hohem Maß. Sie auseinanderzudividieren wäre mühsam und wenig erfolgreich. Vollkommen übersehen wird, dass Begriffe im „einfachen Volk“ andere Assoziationen erwecken als bei den „Gebildeten“.

Dass soziales Engagement für die „Deutschen“ (als ob Politiker keine Deutschen wären) belanglos sein soll, ist eine glatte Unverschämtheit, wenn man sich die riesige Zahl der sozial Engagierten betrachtet.

Machen wir‘s kurz: Untersuchungen, die keine klaren Begriffsdefinitionen liefern und die Klassenunterschiede der Sprache ignorieren, sind für die Katz.

In der überwiegend moralverachtenden deutschen Presse gibt es so gut wie keine ethischen Erörterungen. Den Politikern überlässt man kritiklos die Phraseologie der Nationalfeiern, ohne je zu vergessen, die Gelassenheit und den vorwärts weisenden Geist der Kanzlerin positiv zu erwähnen.

Es genügt, wenn die Mächtigen Moral simulieren. Vom Volk ist ohnehin nichts zu erwarten – außer Spießermoral und populistischer Verführbarkeit.

Ein großer deutscher Reformator hat die autonome Moral der verhassten Griechen als Werkgerechtigkeit der Hölle übergeben. Dort brennt sie lichterloh bis zum heutigen Tag.

 

Fortsetzung folgt.