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Tanz des Aufruhrs V

Tanz des Aufruhrs V,

„Für Deutschland ist die Kritik der Religion im Wesentlichen beendigt.“

Marxens prophetische Künste waren begrenzt. Längst hat sich Religion zur westlichen Kultur erweitert, die den ganzen Planeten beherrscht. Religiöse Merkmale wurden zu Merkmalen einer Weltherrschaft, die alle Phantasien der Religion in politische Macht verwandelt. Heilsgeschichte wurde zur Geschichte des weltlichen Fortschritts.

An Weihnachten legt die Weltmaschine eine opiate Pause ein, damit das Räderwerk sich nicht völlig überhitzt und an sich selbst entzündet. Nur an Weihnachten ist Religion ein schlaf- und apathieförderndes Opium.

Gewöhnlich wirkt Religion nicht als Opium, sondern als Aufputschmittel und rücksichtsloser Aktivitätsbeschleuniger – der an Weihnachten eine winzige Atempause einlegen muss, um zu neuen Kräften zu gelangen. Einmal im Jahr wünscht Menschheit sich, was sie dem heiligen Kinde wünscht: Schlaf in himmlischer Ruhuh, schla-af in himmlischer Ruh.

Die zwei konträren Zeiten – rasende Hatz und Erholung – entsprechen dem weltlichen und himmlischen Staat, die sich durch Rivalität ergänzen. Rasende Hatz ist das weltliche Pendant zur Parusiebeschleunigung, Ruhe die Vorwegnahme der jenseitigen Ankunft. Erlösungsreligion besteht aus beiden Elementen: aus der Vorwegnahme des Gartens Eden aus eigener Kraft und der Erwartung des Herrn in passiver Ergebung.

Amerika steht eher für die erste Version, Deutschland für die zweite. Während Deutschland alle Parusieerwartungen offiziell verachtet, kann es den Amerikanern nicht schnell genug gehen, Gottes eigenes Land als vollendeten Garten Eden zu realisieren. America first ist die politische Kurzformel für amerikanische Erfüllungssehnsucht.

Sehnsucht nach Ruhe ist ein heidnisches Erbe mitten im Christentum: eine

Sehnsucht, die fließende Zeit anzuhalten und beim Nunc stans, dem Stehenden Jetzt, anzukommen. Nunc stans war Sinnbild der Ewigkeit in der Zeit: als ob die Zeit stille stünde.

In naturnahen Eingeborenenkulturen stehen die Menschen der präsenten Ewigkeit am nächsten, die sich als zyklische Wiederholung der Jahreszeiten darstellt. Andere Zeiten spielen keine Rolle. Männliche Hochkulturen beginnen mit der Eitelkeit, die dynastischen Jahre der Herrschaftsepochen zu zählen und miteinander zu vergleichen.

„Platon beschrieb die Zeit als „bewegtes Bild der Ewigkeit“. Die Zeit erstreckt sich zwar auf Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, aber nur der Ewigkeit kommt Gegenwart zu. Aus dieser Bestimmung wird eine Tradition, die die Ewigkeit als zeitloses Jetzt bestimmt. Plotin bezeichnet Ewigkeit als „Verharren in einem“. Der Tod schreckte nicht, er war Eingang zur ewigen Ruhe.

Dann der Crash. Die Moderne beginnt mit der Erkenntnis: Alles fließt. Heraklit schwebt zwischen dem Gefühl des Verlusts und dem kühnen Versuch, den Verlust in Gewinn umzudeuten:

„Wer in denselben Fluss steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu.“ „Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht.“ „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“

In stehenden Kulturen, die von der Moderne verachtet werden, obwohl sie der Natur am nächsten stehen, gibt es kein Altes, das vom Neuen gelöscht wird. Erst das Gefühl verfließender Zeiten nötigt die Menschen, ihren Selbstwert nicht mit dem Verflossenen zu identifizieren, sondern an ein Neues zu glauben, das den Verlust des Alten mehr als ausgleichen wird.

Den Verlust verflossener Zeiten versuchen die Griechen durch zyklische Wiederholung aller Dinge zu begrenzen. Bei Hesiod beginnt eine Ahnung längerer Zeitverläufe durch eine Geschichte, die in goldenen Zeiten beginnt und in mehreren Verfallsetappen abstürzt. Doch der Tiefpunkt ist nicht der Endpunkt: danach beginnt die Wiederholung des Gleichen.

Die Schöpfungsgeschichte beginnt in einem tempo furioso. Am Anfang die vollendete Schaffung der Welt. Doch kaum erfreut sich der Schöpfer seines sehr guten Werkes: schon fallen die Menschen in Sünde und der Wurm ist in der creatio ex nihilo in Form der Schlange, die das schwache Weib verführt. In unbändigem Zorn will der Schöpfer sein gefallenes Werk vernichten. Was er auch tut – bis auf Noah, seinen einzigen getreuen Knecht, mit seiner Familie und einer kompletten Garnitur aller Lebewesen.

Dann der unerwartete Umschwung:

„Noah aber baute dem HERRN einen Altar und nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und opferte Brandopfer auf dem Altar. Und der HERR roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“

Menschen gewinnen Einfluss auf ihren Schöpfer und überreden ihn mit einem lieblich duftenden Brandopfer, seinem cholerischen Wesen Einhalt zu gebieten.

Dem abrupten Wechsel der Zeiten zwischen Sehr Gut und Sehr Schlecht folgt der Übergang zur heidnisch-zyklischen Wiederholung der Zeit im Rhythmus der Jahreszeiten.

Doch nicht lange. Je mehr der Mensch sich von Gott abwendet und sich von Verlockungen anderer Kulturen zum Bösen verführen lässt, je mehr zerbricht der Zirkel des Heilen. Es ist der ungehorsame Mensch, der mit seiner wachsenden Verderbtheit die Zyklen der Zeit zerschlägt und den Schöpfer zwingt, zur linearen Geschichte überzugehen, in der das Heil irgendwann – „wenn die Zeit erfüllt ward“ – erscheinen wird.

Je mehr die Allmacht Gottes durch die zunehmend bösen Taten des Menschen dezimiert wird, umso weniger ist Gott fähig, seine Reparaturarbeiten – die Erlösung des Menschen – mit einer prognostizierbaren Zeit in Verbindung zu bringen. Der präzise Zyklus zerfällt in zufällige Einzelteile: die unberechenbaren Augenblicke der Interventionen Gottes. Gott handelt nicht mehr in zuverlässigen Wiederholungen, sondern in „Verheißung und Erfüllung“, wobei die Erfüllung sich immer mehr bis an den Sankt Nimmerleinstag verschiebt.

Die nächste Etappe der göttlichen Zeit ist im hellenisch geprägten Buch „Prediger“ niedergelegt. Es ist kein Zyklus mehr, aber ein göttliches Bestimmtsein: der Kairos betritt die historische Bühne. Kairos ist der „günstige Zeitpunkt einer Entscheidung, dessen ungenutztes Verstreichen nachteilig sein kann“. Die Moderne übersetzt Kairos mit „just in time“.

„Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist, würgen und heilen, brechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen, Stein zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen, suchen und verlieren, behalten und wegwerfen, zerreißen und zunähen, schweigen und reden, lieben und hassen, Streit und Friede hat seine Zeit.“

Das Gute hat seine bestimmte Zeit, aber auch das Böse, das sich nicht mehr vertreiben, nur noch zeitlich einengen lässt: „Lieben hat seine Zeit und Hassen hat seine Zeit; der Krieg hat seine Zeit und der Frieden hat seine Zeit.“

Vergeblich, das Böse vertilgen zu wollen. Als Element der Unruhe und Zerstörung gehört es zur Ordnung der Schöpfung. Ein Sehr Gut ist nicht mehr in Sicht. Das Relativ Gute muss vorlieb nehmen mit dem Destruktiven, das immer mehr zum Teuflischen dämonisiert wird. Ja, das Teuflische wird zum treibenden Moment, das die Zeit ans Ende aller Dinge vorwärts drängt. Wenn sonst nichts hilft, muss ein Ende her. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Doch so weit sind wir noch nicht.

Zuerst muss noch der Neoliberalismus erfunden werden, jenes System, das der Kraft des Guten keinerlei Chancen mehr einräumt, den Fluss der Zeiten zu bestimmen. Alles geschieht, was geschehen muss nach Zeit und Zufall:

Wiederum sah ich, wie es unter der Sonne zugeht: Zum Laufen hilft nicht schnell sein, zum Kampf hilft nicht stark sein, zur Nahrung hilft nicht geschickt sein, zum Reichtum hilft nicht klug sein; dass einer angenehm sei, dazu hilft nicht, dass er etwas gut kann, sondern alles liegt an Zeit und Zufall.“

Darf es bei einem allmächtigen Vater Zufälle geben? Zufällig geschehen heißt, niemand weiß warum, niemand weiß, wer verantwortlich ist. Der englische Aufklärer H. Th. Buckle hält es für eine Zumutung, einen Gott allmächtig zu nennen, der zulassen muss, was er nicht zulassen dürfte. Allmächtig heißt: ein Gott bestimmt alles. Kann er nicht alles bestimmen, ist er nicht allmächtig, will er nicht alles bestimmen und lässt Böses zu, ist er nicht gut.

Jahrtausende später erfanden abendländische Theologen den freien Willen, um die Allmacht Gottes zu retten. Der Mensch muss sich mit einem freien Willen herumplagen – um Gott zu erlösen. Nicht Gott erlöst den Menschen, der Mensch nimmt alles auf seine schwachen Schultern, um in einem unerfindlichen Akt des Bösen Gott von seiner Allverantwortung zu befreien.

Betrachtet man die Bestrebungen der Moderne, mit Hilfe allesbestimmender Naturgesetze – die in den Genen, im Gehirn der Menschen ihr Unwesen treiben – den freien Willen des Menschen zu verneinen, kann das theologisch nur bedeuten: hier walten Gottlose, die alle Verantwortung dem Menschen nehmen, um sie dem Gott zurückzugeben.

Während die Zeiten im „Prediger“ zwar unbekannt, aber festgelegt sind, hatten die Propheten die Zeiten bereits in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinandergerissen. In der Vergangenheit hatte Gott dies und das zugesagt. Die Gegenwart ist zum Warten und Ausharren in Leiden und Ungewissheit verurteilt, bis Gott seine Verheißungen in unbekannter Zukunft einhalten wird.

Die konkrete Zeit wird zur Zeit der Unruhe, der Furcht und Angst. Nur, wer die Geduld und Leidensbereitschaft aufbringt, die schreckliche, die unbekannt lange Zeit des gegenwärtigen Wartens zu ertragen, der wird gerettet werden. Hier beginnt das sehnsüchtige Starren in die Zukunft, auf das Moderne noch immer stolz ist.

Selbst moderne Historiker wissen nichts über die verschiedenen Arten der Ewigkeit und die religiösen Ursachen, nach vorne zu schauen:

„Wenn wir unsere Demokratie wiederhaben wollen, liegt der erste Schritt daher darin, an die Zukunft zu denken. Um die Welt steht es schrecklich. Aber zumindest in einer Hinsicht nicht so schlecht, wie es scheint: Es gibt eine Zukunft. Dort hinzugelangen und sicherzustellen, dass es eine gute Zukunft wird, ist nicht so schwer, wie viele vermuten. Unsere aktuelle Grundstimmung, die „Politik der Ewigkeit“, die sich gerade zur Ära der Katastrophen wandelt, will uns einreden, dass wir nichts tun können, dass wir in einem Trott verfallen sind. Doch nur ein paar kleine Siege, ein paar Veränderungen können uns wieder davon überzeugen, dass Demokratie genau der richtige Weg nach vorn ist.“ (Sueddeutsche.de)

Timothy Snyder fordert viel Richtiges: dass der Mensch für sein Geschick selbst zuständig sei und deshalb seine Zukunft als formbare betrachten müsse. Was aber die Ewigkeit betrifft, liegt er daneben:

„Diesen Moment des Schreckens, in dem niemand wirklich von der Zukunft spricht, in dem sich alle gegenseitig an die Kehle gehen und in einer Gegenwart des „Wir gegen die“ gefangen sind, nenne ich die „Politik der Ewigkeit“. Indem uns die „Politiker der Ewigkeit“ von der Zukunft abwenden, machen sie uns auch blind für die realen Probleme, um die wir in Zukunft nicht herumkommen werden. „Politiker der Ewigkeit“ sind oft Klimawandelleugner oder glauben sogar daran, dass der Klimawandel etwas Gutes sei.“

Das Gegenteil ist richtig. Ewigkeit der Natur ist Eintracht mit ihr. Unter diesem Aspekt an die Zukunft denken, heißt, die Eintracht mit der Natur herzustellen, den verlorenen Nunc stans zurückzugewinnen. Es sind die Vertreter der Heilsgeschichte, nicht der Ewigkeit, die die Menschheit verrotten lassen. Denn Heil gibt es nur für eine verschwindend kleine erwählte Elite, die Mehrheit ins höllische Feuer.

Es waren Propheten, die nicht nur die Verheißungen erfanden, sie mussten dieser Verheißung auch eine konkrete Person zuordnen, damit die Menschen sich an etwas festhalten konnten: der Erlöser stand ante portas. Um seine Erlösungskompetenz zu begründen, musste der Erlöser ein Sohn Gottes sein, der zu einer bestimmten Heilszeit kommen werde. Als aber die Zeit erfüllet war.

Doch welche Zeit war erfüllet – und wo war der genaue Zeitpunkt niedergelegt, damit Gottes Verheißung als verlässliche Erfüllung verifiziert werden konnte? Alles bleibt vage, alles eine Frage blinden Glaubens.

Ständig wird Zeit bemüht, um die Zusagen Gottes als verlässliche Versprechungen zu beweisen – doch nichts war‘s. Jesu Geburtsjahr wird zum Anfang einer neuen Zeitrechnung, die alte Zeit konnte man aus dem Gedächtnis streichen, die Vergangenheit wurde gelöscht. Inzwischen liegt das Heilsereignis der Biografie Jesu 2000 Jahre zurück und wer nicht glaubt, dass in einem einmaligen, wunderbaren Ereignis ein Gottessohn als Gesandter der Ewigkeit in die irdische Zeit kam, der ist für immer verloren. Das Wort ward Fleisch. Fleisch ist vergänglich, das Wort unvergänglich.

Das christliche Heilsgeschehen war ein übernatürliches Nunc stans – aber nicht für jeden Menschen, sondern nur für eine mythische Figur, von der bis heute niemand weiß, ob es sie je gegeben hat. Gewiss, einen Zimmermannssohn namens Jesu mag es gegeben haben. Vielleicht predigte er auf einem Berg, um sein Volk, ja die ganze Welt zu erretten. Möglich, dass er von den Römern aus unerfindlichen Gründen ans Kreuz genagelt wurde. Doch wer konnte bezeugen, dass er von den Toten auferstand? Dass er in den Himmel fuhr? Das wären Wunder, die die verlässliche Struktur der Naturgesetze zum Einsturz bringen würden.

Christen sind Herren der Natur, mit der sie machen können, was sie wollen. Zu ihnen gehören die Marxisten:

„Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.“

Revolution gegen Kapitalismus und Religion besteht darin, die lebendige Blume zu brechen, damit die Natur weiß, wer ihr das Genick brechen darf. Das Reich der Freiheit, der neue Garten Eden, ist der Tod der alten Natur.

Für Marx ist Religion „die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt.“

Für den SPIEGEL ist die Bibel wieder ein Heldenbuch, in dem religiöse Phantasie die Macht der Welt besiegt:

„Die Bibel, sie ist auch ein Triumph der Fantasie über die Machtpolitik.“ (SPIEGEL.de)

Phantasie als illusorische Kompensation einer schlechten Realität – bei Marx.

Phantasie als Triumph über die Machtpolitik – beim SPIEGEL. Hätte der SPIEGEL Recht, wäre der abendländische Sieg des Christentums über die Welt ein Triumph der Phantasie – inklusive Vernichtung der Natur und eines unausweichlich-apokalyptischen Endes der Geschichte.

Humane Utopien sind bei den Medien verboten. Illusorische Phantasien über eine Omnipotenz aber, die die irdische Macht der Menschen in den Staub treten sollen das Höchste der Gefühle sein. Zur Machtpolitik gehört jede Politik jener Zeit, wozu auch die Demokratien gehören. Das Heil war ein Triumph über alle irdische Selbstbestimmung.

Tatsächlich hat das Christentum alles besiegt, indem es die Geschichte als Heilsgeschichte ins Herz der Menschen brannte. Indem es alles Gute der Welt im Akt eines charismatischen Imperialismus sich selbst unter den Nagel riss.

In der SZ raubt Drobinski das Staunen den griechischen Philosophen und verfälscht es zur christlichen Gnadengabe:

„Wer staunen können will, muss sich angreifbar machen, muss alle Gewissheiten über den Haufen werfen. Das Staunen ist der Feind der religiösen wie der politischen Fundamentalisten, weil es ihnen sagt: Es gibt mehr, als dein Weltbild glauben machen will. An Weihnachten wird gestaunt, was das Zeug hält.“ (Sueddeutsche.de)

Für Griechen war Staunen der Anfang des Erkennens, das Erstaunen über eine Natur, die so rational ist, dass sie sich begreifen lässt. Am Anfang das Staunen, am Ende die Erkenntnis.

Drobinski wirft alles auf einen Haufen und will staunen über etwas, was sich nicht erkennen lässt: über das Wunder. Das Wunder ist Zertrümmerung der Natur. Wer über Trümmer und Chaos staunen will, der verwechselt Staunen mit befremdlichem Erschrecken beim Fleddern von Leichen.

„Der Schrecken geht in der Weihnachtserzählung mit dem Staunen einher; sie bedingen einander.“ Das ist dialektische Kunst, sich die Weisheit der Welt unrechtmäßig einzuverleiben – denn die Weisheit der Welt ist Torheit vor Gott – um die Welt zum erlösungsbedürftigen Schrott zu ramponieren.

Von Anfang an waren die Frommen fasziniert von der anrüchigen Weisheit der Welt – und verfälschten sie zur Weisheit ihrer biblischen Helden. So wurde Moses zum Vorbild Platons und die griechische Philosophie zur Offenbarung Gottes. Warum nur erklärte dieselbe Schrift die Weisheit der Welt zur Torheit vor Gott, wenn sie doch letztlich von Gott selbst stammt?

Gretas Klimabotschaft? Jaja, schon recht – schmeckt aber zu sehr nach Religionsersatz. Sagen hohe Vertreter der Religion, die sich mit dieser Abwertung selbst ins Knie schießen. Wenn etwas schlecht sein soll, weil es nach Religion riecht, kann Religion nichts Gutes sein. Sollte es hingegen um eine mindere Form der Religion gehen, müsste man sich fragen, wer sich hier das Copyright einer unfehlbaren Religion angemaßt hat.

Franz Alt ist der König aller charismatischen Beutemacher. Mit Kleinigkeiten gibt er sich nicht ab, er geht aufs Ganze. Alles, was edel und gut ist in der Welt, gehört den Christen:

„Dieses Weihnachtskind war ausgezeichnet mit schöpferischer Fantasie, einmaliger Originalität und außergewöhnlicher Empathie. Deshalb nenne ich Jesus den außergewöhnlichsten Menschen aller Zeiten, der für die Glaubwürdigkeit seiner tiefsten Überzeugung bewusst in den Tod ging. Der Christ Martin Luther King war mit seinem Traum von der Gleichheit aller Menschen sein Schüler, aber ebenso der Hindu Mahatma Gandhi oder Bertha von Suttner, Albert Schweitzer und Nelson Mandela mit ihrer Lehre von der Gewaltfreiheit oder auch die Bürgerrechtler in der DDR vor 30 Jahren mit ihrem Ruf „keine Gewalt“. 1989 erlebten wir in Deutschland eine jesuanische Revolution.“ (WELT.de

Auf dieselbe Art und Weise des imperialen Raubens erklärten die Kirchen sich auch zu Erfindern der Demokratie und der Menschenrechte – nachdem sie jahrtausendelang die Menschen unterjochten, zum Glauben zwangen und in die Hölle schickten, wenn sie nicht gehorchten. Prediger einer totalitären Theokratie erkühnen sich, die Erfinder der Menschenrechte und der Demokratie zu sein.

Auf dieselbe Art und Weise wurden Fromme zur wichtigsten Widerstandsgruppe gegen die Nationalsozialisten – nachdem sie sich rühmten, zu den geistigen Gründungsvätern des Dritten Reiches zu gehören. Sie schwärmten von der Ausgießung des Heiligen Geistes durch den Sohn der Vorsehung.

Rauben, Lügen, Töten, Foltern, Verbrennen: alles war erlaubt und geboten, wenn es um den Vorteil der Kirchen geht. Die Propaganda hat sich inzwischen verändert, die theologischen Grundlagen sind gleich geblieben. Ex cathedra sagte der Papst an Weihnachten dem Sündigen erneut die Liebe Gottes zu. Liebe und tu, was du willst. Kein Wunder, dass man vor der Liebe der Kirchen und ihrer Liebesschergen nirgends sicher ist.

„Gottes Liebe zu den Menschen sei nicht an Bedingungen geknüpft. „Wie oft denken wir, dass Gott gut ist, wenn wir gut sind, und dass er uns straft, wenn wir böse sind. So ist es nicht“, sagte Franziskus.“ (WELT.de)  

Wer sagt, dass ein Pastorensohn nicht auch mal Recht haben kann?

„Ich sehe mich um: es ist kein Wort von dem mehr übrig geblieben, was ehemals „Wahrheit“ hieß, wir halten es nicht mehr aus, wenn ein Priester das Wort „Wahrheit“ auch nur in den Mund nimmt. Selbst bei dem bescheidensten Anspruch auf Rechtschaffenheit muss man heute wissen, dass ein Theologe, ein Priester, ein Papst mit jedem Satz, den er spricht, nicht nur irrt, sondern lügtdass es ihm nicht mehr freisteht, aus Unschuld, aus Unwissenheit zu lügen … Jedermann weiß das und trotzdem bleibt alles beim alten. Wohin kam das letzte Gefühl von Anstand, von Achtung vor sich selbst?“ (Nietzsche)

Selbst Bundespräsident Steinmeier hielt es für richtig, ein Wort aus dem Neuen Testament zu zitieren, als handele es sich um objektive Wahrheit.

Weihnachten ist Orgienzeit der opiaten Vernebelungen der Demokratie. Trennung von Religion und Staat? Nicht angesichts des Wunders im Stall von Bethlehem. Hier dürfen, hier müssen alle VIPS ihre Liebesbotschaft unters Volk bringen.

Selbst die Allround-Akrobatin Helene Fischer, die sich als Engel mit weißem Gewand und goldenen Kreuzen präsentiert, um ein inniges Bekehrungsgespräch mit ihrem Gott in gesungener Form in die Welt zu senden:

„Hier stehe ich, und ein helles Licht
Durchflutet mich
Jetzt sehe ich klar
Das ist mein Leben das bin ich
Denn das bin ich, das bin ich!!“

Gottlob, der Höchste hat bestätigt, dass Helene Ich sein darf, dass es nichts Wichtigeres gibt, als ihr gottbegnadetes Ich aller Welt bekannt zu machen. Das Ich steht im Mittelpunkt der Welt: § 1 der Moderne.

Was auch immer die Welt zu bieten hat: Jünger Jesu haben keine Skrupel, alles zu entwenden, was ihnen wünschenswert erscheint, um ihre Weltmeisterstellung in Staunen, Zweifeln, Denken, Menschenrechte beachten, Andersdenkende tolerieren, die Welt lieben bis in den Untergang, unter Beweis zu stellen.

„Wir müssen noch ein wenig nacharbeiten“, lautet der Spruch, mit dem sie sich anspornen, etwa die Toleranz der Homosexuellen aus der Schrift abzuleiten – obwohl dort das strikte Gegenteil steht. Wie sie alles Wünschenswerte ihrer heiligen Schrift entnehmen: da muss man wahrlich ins Staunen verfallen.

Die TV-Kanäle unternehmen alles, um an Weihnachten den Kirchen die beste Plattform der Propaganda zu liefern, indem die „Vertreter der großen Kirchen“ in den politischen Nachrichten ihre weltüberwindenden Botschaften senden dürfen.

Marx war mitnichten ein Feind der Religion. Er vollbrachte das Kunststück, eine wuchtige Religionskritik zu formulieren, um mit seiner Revolutionsökonomie – eine hervorragende Kopie dieser Religion in ökonomischen Chiffren ins Leben zu rufen.

In der Religion bestimmt Gott, was in der Geschichte passiert. Bei Marx ist es die Geschichte selbst, die alles bestimmt. Der Mensch ist in der christlichen wie in der marxistischen Religion als Gestalter seines Schicksals ohne Bedeutung.

„Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren.“

Unvermutet rehabilitiert Marx sogar die sonst so verachtete Philosophie:

„Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven.“

Sonst klang das anders, wenn er Philosophie zur nutzlosen Interpretin der Realität degradierte, zum Bewusstsein, das vom Sein ferngelenkt wird.

Marx entging völlig, dass der christliche Glaube nicht nur eine Flucht ins Phantastische war, sondern eine unerbittliche Kriegserklärung an die Welt, die sich anmaßte, die heiligen Altäre zu missachten.

Es war ein außerordentliches, ein vor Kühnheit zitterndes Wagnis, sich der ganzen Welt mit Haut und Haaren entgegenzustellen. Es war keine Absage an die Macht, sondern eine Bedrohung der irdischen Macht mit der Allmacht des Jenseits. Mit einem imaginären Jenseits wurde das Diesseits zum Tode verurteilt.

In der Welt seid ihr die größten Machthaber, die tiefsinnigsten Denker, die demokratischsten Demokraten, die Reichsten und Schönsten: doch siehe, ich habe diese Welt überwunden. In der Welt seid ihr die Ersten, in der wahren Welt werdet ihr die Letzten sein, weil meine Schafe bei euch die Letzten sein mussten.

Kaum ist Weihnachten vorüber, beginnt schon wieder die Hatz. Kaum sind die Wolken der kollektiven Betäubung in alle Winde verweht, beginnt die große Weltmaschine schon wieder in Höchstgeschwindigkeit zu rotieren, die Menschen zu entmündigen und die Natur vollends zu schreddern.

Kaufet die Zeit aus, denn niemand weiß, wann der Herr kommt.

 

Fortsetzung folgt.