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Tanz des Aufruhrs IV

Tanz des Aufruhrs IV,

ein Kindelein gibt sich für uns verloren;
gelobet muß es sein.

Und wer dies Kind mit Freuden
umfangen, küssen will,
muß vorher mit ihm leiden
groß Pein und Marter vieldanach mit ihm auch sterben.

Gebt euch verloren, oh wackere Christenheit! Dann tretet an zum Leiden und Sterben: rüstet euch für eure Weihnachtsbotschaft.

Ihr führt einen Vernichtungskrieg gegen die Welt. Doch sterbt für euch, lasst uns und die Erde in Ruhe. Schwirrt ab zu eurem himmlischen Vater, wenn ihr die böse Welt nicht ertragt.

Einen Tag lang werden wir euch scheinheilig betrauern, danach in wochenlange Freudentänze ausbrechen.

Warum besiegten die Christen die Alte Welt? Ein sterbendes Weltreich übernahmen sie mit jenseitigen Sirenengesängen. Als ihnen die Herrschaft zufiel wie ein Leichenbegräbnis, entpuppten sich die Heiligen als unfehlbare Tyrannen und erbarmungslose Zerstörer der heidnischen Welt.

Es war nicht die Kraft der Worte, die dem Christentum zum Sieg verhalf. Es war rohe Gewalt, die sich bis zum Furor der Zerstörung und zum Blutrausch steigern konnte:

„Nicht nur im ausgehenden 4. Jahrhundert, sondern noch Jahrhunderte später wurden heidnische Tempel zerstört. Es herrschte lange Zeit ein Vandalismus, wie es ihn bis dahin in der Geschichte der Menschheit nicht gegeben hatte. (Manfred Clauss, Ein neuer Gott für die Alte Welt)

Heute jammern die Kirchen über wenige Opfer, die sie anfänglich im Römischen Reich erleiden mussten. Sie unterschlagen, dass viele Opfer freiwillige Märtyrer

waren, die schnell in den Himmel wollten. Gewöhnlich waren Römer gegen andere Religionen außerordentlich tolerant, viele fremde Götter integrierten sie in ihr polytheistisches Universum. Nur gegen diejenigen, die ihren Staat als Teufelsgebilde verfluchten, gingen sie – zumeist nach mehreren Verwarnungen – rabiat vor. Unversöhnliche Staatsfeinde nennt man heute Terroristen – der ideologischen oder militanten Art.

Ganz anders als die toleranten Römer agierte das zur Macht gekommene Christenregiment, das mit Morden und Brennen alle Tempel und heiligen Stätten der Heiden am Boden zerstörte.

(Nur das Silber in den Tempeln sollte den Bischöfen übergeben werden – und die Bücher der Heiden, die sie, als Zeugnisse der Verblendung in einer Mischung aus Faszination und Abscheu lasen. Hätten sie geahnt, dass diese Bücher 1000 Jahre später die Grundlagen der ersten europäischen Aufklärungswellen werden würden, hätten sie alles dem Feuer übergeben.)

Wie hasserfüllt jene Urchristen gegen Andersdenkende waren, zeigen ihre apokalyptischen Phantasien gegen Frauen, die gegen die Gebote der Religion verstoßen hatten:

„Und die Milch aller Mütter fließt von ihren Brüsten herab und gerinnt, und aus ihr entstehen fleischfressende Tiere. Die kriechen heraus und winden sich und quälen sie mit ihren Männern in Ewigkeit, weil sie das Gebot Gottes verlassen haben.“ (ebenda)

Die Texte der Heiligen Schrift und ihrer Weihnachtslieder liegen vor, die historischen Zeugnisse sind bekannt – und dennoch fühlt sich kein Christ bemüßigt, die antihumane Bedeutung der Texte zu erklären. Wie ist diese Kälte zu erklären?

Die Christen können nicht mehr lesen – was nicht bedeutet, sie könnten keine Texte entziffern. Nicht lesen können, obwohl man lesen gelernt hat, bedeutet dreierlei: entweder sie informieren sich nicht mehr, was im Buch der Bücher steht (Kirchenferne Christen). Oder sie lesen zwar die Texte, drehen und wenden sie aber, bis sie den originalen Sinn verloren und einen beliebigen Zeitmodesinn angenommen haben: sie deuten (Theologen und Kleriker). Oder aber sie ignorieren den Gehalt der Texte und machen sich nicht klar, was sie da singen oder nachplappern (Sonntagschristen).

Ihr vermeintlicher Fortschritt hat der Moderne das Recht gegeben, die Vergangenheit zu ignorieren, wozu gehört, die Wurzeln ihrer Kultur entweder gar nicht oder nur dem Scheine nach zu beachten. Ihre Experten erforschen zwar die Texte der Vergangenheit, was diese aber zu bedeuten haben, entscheidet nicht der überprüfbare Ursinn der Sprache, sondern die Vexierkunst der Moderne, die aus jedem X beliebig ein U machen kann. Ihre Fälschungskunst nennen sie Hermeneutik (von griechisch: „erklären, auslegen“). Die Verehrer Luthers verstoßen gegen ein Urgebot des Reformators: „Das Wort, sie sollen lassen stahn.“

Gegen die Verfälschungskünste des Papismus wollte Luther den Ursinn der biblischen Sprache freilegen. Die Treue zum Buchstaben hatte er vom damaligen Humanismus übernommen, der begonnen hatte, die alten Texte im Original zu lesen und zu verstehen. Eben dies war der Grund, warum die neuen lutherischen Pastoren nicht nur Latein, sondern auch Griechisch und Hebräisch lernen mussten, um das Neue und Alte Testament im Original zu lesen.

Die neue Gelehrsamkeit der evangelischen Theologen (erst sehr viel später zogen die katholischen Dorfpopen nach), die sie auch ihren Söhnen vermittelten, trug dazu bei, dass protestantische Pastorensöhne zu den wichtigsten Begründern der deutschen Gelehrtenkultur wurden.

Die aufkommenden konfessionellen Streitigkeiten wurden zwangsläufig zu leidenschaftlichen Disputationen um jedes Wort, Punkt und Komma. Nicht nur zwischen Lutheranern und Katholiken, sondern zwischen Lutheranern und Calvinisten und Zwinglianern, zwischen den überall aus dem Boden sprießenden „Sekten“.

Sekte war der Schimpfname der Großkirchen für die vielen Basisgruppen, die ihre neu erworbene Lesekunst benutzten, um sich ein eigenständiges Verständnis der Bibel zu erarbeiten. Glaubten sie, dass die Kirchen gegen den Ursinn der Schrift verstießen, gründeten sie neue Glaubensgruppen und verließen die Kirche. Das Aufkommen der Sekten war ein Zeichen der beginnenden Toleranz im Geiste des Humanismus und der Aufklärung – in England.

In Deutschland wurde die hasserfüllte Rechthaberei der Prediger zur Begleiterscheinung der Religionskriege, die im 30-jährigen Krieg ihren schrecklichen Höhepunkt fanden. Es war keine rationale Dialogkunst der Theologen, sondern die Intoleranz von Unfehlbaren, die glaubten, ihre dogmatische Irrtumslosigkeit mit Hilfe der Urtexte nachweisen zu können.

Der 30-jährige Krieg war ein absoluter Tiefpunkt deutscher Geschichte. Als die ersten Geister sich aus Tod und Verderben erhoben hatten, war ihnen klar, dass die militante Rechthaberei mit Hilfe der Schrift beendet werden musste. Die neue Bewegung des Pietismus (pietas = Frömmigkeit) wandte sich ab von der Vorherrschaft des aggressiven Intellektualismus und entwickelte die Überlegenheit des Herzens über die Despotie des Kopfes.

Der Pietismus wurde zur emotionalen Urquelle des Sturm-und-Drangs, der sich stufenweise zur deutschen Klassik und zum philosophischen Idealismus emporschwang.

Das Herz, die Gefühle, wurden zum Sitz der Erleuchtung, die sich nicht mehr auf den Ursinn der Texte berufen mussten. Der Pietismus wurde zur antagonistischen Bewegung gegen die deutsche Aufklärung, die inspiriert war von englischen und französischen Vorbildern. Die deutsche Klassik wollte die Synthese sein aus deutscher Gefühlsbewegung und importierter Verstandesschärfe.

Doch die Synthese war nur oberflächlich und zerbrach bald wieder in ihre überwunden geglaubten Polaritäten: Denken gegen Glauben, Vernunft gegen Gefühl, Autonomie gegen Rückkehr in mittelalterliche Theokratie.

Die Romantik nahm Abschied von der Aufklärung. Schleiermacher wurde zum führenden Theologen der Romantik und entschiedenen Gegner Hegels. Dem Inhalt nach war Hegel kein Aufklärer, doch das gefühlige Geschwafel der neurotischen Jünglinge – besonders ihre nichts ernst nehmende „romantische Ironie“ – ging ihm auf den Wecker. Sie nahmen nichts wichtig – außer dem Glauben und die Sehnsucht nach sicheren Zeiten theokratischer Oberherrschaft über die Welt.

Schleiermacher wurde zum Urvater der modernen Hermeneutik. Der Sinn der Bibel lag nicht in der wörtlichen Interpretation der Worte, sondern im Prozess subjektiver Erleuchtung. Subjektive Erleuchtung war das Erbe pietistischer Herzensfrömmigkeit, die sich auf die Eingebung des Geistes berief und den Buchstaben zum Erzeugnis des heidnischen Verstandes degradierte. Scharfe Begriffsdefinitionen und logische Schlussfolgerungen waren Eitelkeiten des weltlichen Intellekts, der in geistlichen Fragen kein Mitspracherecht hatte.

Die Trennung zwischen dem objektiven Logos der begrifflichen Vernunft und der subjektiven Erleuchtung des Geistes war keine Erfindung des Pietismus. Schon im Urchristentum gab es die Opposition der Schwarmgeister gegen die hellenische Philosophie. Der Pietismus war nur ein Rückfall in die Atmosphäre jener Zeiten, als die religiös Erleuchteten sich den heidnischen Rationalisten entgegenstellten.

Auch die Postmoderne ist nur eine Wiederaufnahme der pietistischen Subjektivität: es gibt so viele Wahrheiten, wie es Subjekte gibt. Auch die Postmoderne ist noch eine späte Rebellion gegen die objektive Rationalität der Griechen – die allerdings selbst gespalten war: Objektivist Sokrates kämpfte gegen den Verfall der Wahrheit bei den Sophisten, die sich anmaßten, alle Wahrheiten nach Belieben in Unwahrheiten, alle Unwahrheiten in Wahrheiten zu verwandeln.

Das Misstrauen gegen die objektive Wahrheit ist ein Misstrauen gegen die Demokratie, die auf Dauer nur funktionieren kann, wenn Dialoge auf der Agora und Streitigkeiten in der Volksversammlung sich gemeinsam auf die Suche nach der Wahrheit machen. Streiten wäre zum Scheitern verurteilt, wenn es keine gemeinsame Grundlage gäbe, die von beiden Seiten gesucht wird.

Objektive Wahrheit, das gemeinsame Fundament, auf dem sich die Geister finden können – oder die unsichtbaren Käfige subjektiver Solo-Einsichten, aus denen die Solisten nicht mehr herauskommen: das ist die Schicksalsfrage der Demokratie.

Warum die Deutschen sich subjektiv Christen nennen, obgleich sie keine Ahnung vom Christsein haben: daran ist ihr zwiespältiges Erbe schuld. In der Tradition pietistischer Erleuchtung stehen sie souverän über dem Buchstaben der Schrift, die sie nicht zur Kenntnis nehmen. Ein Rest aber an objektiver Selbstdeutung nötigt sie, sich Christen zu nennen, obgleich sie nicht wissen, was das zu bedeuten hat. Oder: was Christsein ist, bestimmen noch immer sie selbst.

Ihre Deutung der Schrift ist, nehmt alles in allem, identisch mit dem demokratischen Glauben an die Humanität – den sie leichtsinnigerweise mit christlichem Glauben gleichsetzen. Sie glauben a priori zu wissen, dass die Bibel – eigentlich verstanden – nichts anderes sein kann als die Summa der Philanthropie. Da ihre listigen Theologen nur jene Worte auswählen, die diesen Glauben zu stützen scheinen, fühlen sie sich im Reinen mit sich, wenn sie Gottes Wort als Inbegriff höchster humaner Tugendlehre auffassen.

Und in der Tat gibt es manche heiligen Worte, die auf den ersten Blick human klingen, stammen sie doch zumeist aus hellenischen Philosophenschulen, die seit Alexanders Feldzug in vielen Pflanzstädten im Vorderen Orient Einzug hielten. Diese Übernahmen aber wurden in das Korsett einer unbarmherzigen Erlösungsreligion gepresst, die alle autonomen Aussagen in göttliche Drohungen und Verheißungen verfälschten.

Heidnische Tugenden hatten den Sinn, menschliche und politische Probleme in der Polis zu lösen. Die Religiösen verschmähten irdische Problemlösungen und begehrten nur die Erlösung des Einzelnen zur privaten Seligkeitsgewinnung. Oder dessen Verfluchung in alle Ewigkeit. Religiöse Moralpredigt war Selektion, Vernunftmoral galt für alle Menschen als Voraussetzung einer friedlichen Kosmopolis.

Versuchen wir‘s mit Logik. Während die heidnische Tugendlehre eine Entweder-Oder-Lehre war – wer A wählt, muss Non-A verwerfen –, war Erlösungslehre ein Sowohl-Als-Auch. Zwar soll ein Gläubiger Gottes Geboten folgen. Die aber widersprachen sich oft in vehementer Weise, Gott selbst war kein eindeutiges moralisches Vorbild. Er predigte Liebe – und verfluchte die Mehrheit aller Menschen in die Hölle. War das Liebe?

Der Gläubige soll A tun, aber nicht glauben, dass er dazu fähig sei. Macht aber nichts. Wenn er A nicht tun kann, kann er beliebig überwechseln zu Non-A. Auch Gott kann nach Belieben liebender Vater und Teufel sein. Entscheidend ist nicht sein moralisches Tun, sondern sein Glauben an die Erlösung. Auch wenn er ein Sünder ist, ja, weil er einer ist und eben dieses bereut, kann er in Gnaden angenommen werden. Nicht seine moralischen Taten entscheiden, sondern sein Glaube an die Vergebung der Sünden, denen er nie entkommen wird.

Sündige tapfer, wenn du nur glaubst. Liebe und tu, was du willst. Wenn das nicht logisch ist: der Mensch muss A tun, Non-A aber muss er nicht lassen. Es gibt keinen Gegensatz zwischen Richtig und Falsch. Beide sind identisch im Glauben an den Erlöser.

Wir stehen am Ursprung der Hegel‘schen Dialektik, der es nicht ertragen konnte, dass griechische und christliche Wahrheit sich gegenseitig ausschlössen. Das Sein und das Nichts, Wahrheit und Falschheit, das Gute und das Böse sind alles nur scheinbare Widersprüche des Anfangs, die eine Geschichte lang miteinander ringen müssen, um sich am Ende der Tage selig in die Arme zu fallen.

Die Deutschen sind emotionale Hegelianer oder Christen, für die es keine unüberwindbaren Widersprüche gibt. Einerseits wollen sie Anhänger des Christentums sein, andererseits ist ihnen der Sinn der Schrift gleichgültig. Oder mit Worten jenes berühmten Gleichnisses: sie wollen beide Brüder in Personalunion sein: gehorsamer Sohn, der seinen Vater nicht verlässt, und verlorener Sohn, der unter die Säue fällt, seinen Verrat bereut und wieder zum Vater zurückkehrt. Der verlorene, aber bußfertig zurückkehrende Sohn wird vom Vater gefeiert, während der treue und brave nie ein Fest zu seinen Ehren erlebte.

Der Deutsche will beide Söhne in sich vereinen, damit er zeigen kann, wie toll er sich „lösen“ und dennoch wieder zurückkehren kann – und wie er unwandelbar treu und gehorsam sein kann. Verschmelzen beide Söhne zu einem, gibt es keine ungerechte Bevorzugung durch den Vater und keine bornierte Treue, die nicht die Kraft gehabt hätte, sich eine Weile vom Vater zu entfernen.

Das Gleichnis soll den tödlichen Kain-Abel-Bruderkonflikt in Eintracht mit dem Vater lösen. Das Neue Testament hat damit das Alte Testament ethisch überwunden, das Christentum das Judentum in den Schatten gestellt. Hier liegen die Ursachen des späteren Antisemitismus der Deutschen, die sich durch ihre Überlegenheit als das neue auserwählte Volk Gottes fühlen durften.

Man kann aus allen Büchern lernen, sich aus allen Büchern seine persönlichen Einsichten in Pro und Contra entwickeln. Man kann die Bibel lesen und in frommer Ergebung zu Luther oder im Zorn zu Nietzsche werden. Man kann die Lysistrata des Aristophanes auf die Bühne bringen und aus der politischen Rebellin eine keusche Nonne machen.

Was man aber nicht kann, ist, die Verwandlung eines Alten in ein Neues als getreue Reproduktion des Alten verkaufen. Das Neue ist die Creation eines Zeitgenossen, der seinen Namen unter das „modernisierte“ Stück setzen muss. Sonst wird aus Verwandlung eine Verfälschung. Dem uralten Stück wird eine neue Deutung untergejubelt, die dem Sinn des alten widerspricht.

Fast alle modernen Interpreten machen sich dieses Urheberschwindels schuldig, wenn sie ihre Vorstellungen alten Stücken andichten, die mit dem Ursinn dieser Stücke nichts gemein haben. Wenn Antigone im Original deklamiert: nicht zu hassen, zu lieben bin ich da, und ein moderner Regisseur lässt sie sagen: und meine Liebe besteht darin, jedem den Schädel einzuschlagen, der sich mir in den Weg stellt: dann wird Kreativität zum Schwindel.

Solche Modernen wollen kreativ sein, sind aber zu feige, zu ihrer Kreativität zu stehen – und verstecken sich hinter der Rolle der kessen, aber gehorsamen Schüler. In einem Akt wollen sie gehorsam und ungehorsam sein.

Deutungen aus Erleuchtung pfeifen auf den wörtlichen Sinn der Worte. Zumeist zitieren sie Worte, die ihnen in den Kram passen, ihre Widersprüche aber unterschlagen.

Besteht eine Moral aus der Pflicht, A zu tun, Non-A aber zu unterlassen, hätte die Menschheit die Chance, eine vorbildliche A-Welt zu erkämpfen und eine amoralische B-Welt zu überwinden.

Besteht eine Lehre aber aus der Beliebigkeit, A oder Non-A oder beides zugleich zu tun, Gutes und Böses in einem Akt, entstünde die Gefahr eines totalitären Verhaltens. Ich könnte das Böse tun – und es als Gutes verkaufen, weil beides identisch wäre. Dann wären wir bei Himmlers Posener Geheimrede angelangt: wir sind anständig geblieben, auch wenn wir im Blut unserer Feinde wateten.

Die Erlöserreligion ist eine, die A und Non-A als gleichwertige Optionen für möglich hält: das Ergebnis sind totalitäre Theokratien, etwa die eines Hitler und eines Stalin.

Man kann nicht zugleich gehorsam sein und rebellisch, Christ sein und Humanist, Menschenrechte beachten und negieren.

Zu Recht behauptete der Dogmatiker Harnack, das Gleichnis vom Verlorenen Sohn sei das Gleichnis der Deutschen. Er vergaß nur die Kleinigkeit: der Deutsche wollte nicht nur der verlorene sondern zugleich der gehorsame Sohn sein. Er wollte sich kühn vom Vater losreißen und seine Freiheit wagen, und sich dennoch vorbehalten, im Fall des Scheiterns reumütig zum Vater zurückzukehren. Und er wollte der bis in den Tod getreue Eckart sein, der den alten täppischen Vater keine Sekunde aus dem Auge lässt.

Fromme Muslime und Juden haben dieselben Probleme wie fromme Christen. Durch humane Deutungen können sie dem totalitären Ursinn ihrer Schriften subjektiv entgehen. Solange sie sich aber treue Anhänger des Islam, des Juden- oder Christentums nennen, signalisieren die der Welt, dass sie sich vom objektiven Ursinn ihres Glaubens nicht gelöst haben. Was bedeutet, religiöse Terroristen oder militante Märtyrer, die sich auf den Wortlaut ihrer Schriften berufen, sind noch eher berechtigt, sich Muslime, Juden oder Christen zu nennen als die subjektiven Deutungskünstler, die aus der Schrift machen, was sie wollen.

Das Ergebnis der subjektiven Erleuchtungshermeneutik ist die Entleerung der Sprache zu Hohlformeln, zur wildwüchsigen Beliebigkeit der Begriffe, zur Unzuverlässigkeit der politischen Sprache, zur Unfähigkeit demokratischer Verständigung. Der Hass der Urchristen gegen Begriffsklärungen des Dialogs, gegen die Schärfe logischer Widerspruchslosigkeit feiert heute wieder fröhliche Urständ.

Die Sophisten als Gegner der sokratischen Objektivität, die Urchristen als Widersacher des rationalen Logos: beide sind dabei, den Geist der Moderne mit hohlen Formeln, nichtssagenden Phrasen und widersprüchlichen Beliebigkeiten zu vergiften. Sollten sie gewinnen, wird die Demokratie kollabieren.

Den Verfall der Sprache kann man gerade heute zur Weihnachtzeit en detail beobachten.

Wenn die Verhältnisse in ihren Grundpfeilern zu schwanken beginnen, scheint es nötig, sich am Mythos des Erlöserkindes festzuklammern. Und wenn es noch so widersinnig scheint:

„Ja, Weihnachten beinhaltet ein Stück Unvernunft, ein gehöriges Stück Irrationalität – wie sollte es auch anders sein bei einem religiös inspirierten Fest. Aber es ist Unvernunft für einen guten Zweck. Und diesmal heiligt der Zweck die Mittel.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Weihnachten braucht Rituale, die nicht begründet werden müssen, die sich im abendländischen Umkreis von selbst verstehen:

„Rituale geben Struktur, Halt und Sicherheit. Alle wissen, was wann und wie geschieht. Das Nachdenken, Begründen und Rechtfertigen entfällt. Es wird so gemacht, weil es stets so gemacht wurde. Das stiftet Identität, verbindet viele zu einer Einheit. Ob kulturell oder religiös: Regelmäßige Handlungsabläufe sind wie Fixpunkte im eigenen Universum.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Prantl steigert sich in einen Exzess widersprüchlicher Rituale, die sich wiederholen müssen, weil sie sich wiederholen müssen. (Sonst darf sich in der Moderne nichts wiederholen, alles muss einmalig sein.) Garniert mit dem „Narrativ“ einer seltsam-schamlosen Kaiserin, die ihr Kind vor aller Augen gebären muss, um weltliche Machtansprüche zu legitimieren. Erneut müssen die stillenden Brüste einer Mutter als Sinnbild irdischen Verderbens herhalten. Im Gegensatz zur stillenden Maria, die nur deshalb nicht obszön wirkt, weil sie einem Göttersohn dienen darf.

„Da ließ die Kaiserin Constanze auf dem Marktplatz von Jesi in der italienischen Provinz Ancona ein Zelt aufschlagen, um dort öffentlich zu gebären. Der Historiker Pandolfo Collenuccio beschreibt das im 15. Jahrhundert so: „In dieses Zelt begab sie sich zur Stunde der Entbindung und wünschte, dass es allen Baronen und Adligen, Männern und Frauen, erlaubt sei, herbeizukommen und sie gebären zu sehen.“ Der Kaiserin ging es um Machterhalt, um die Legitimation der Dynastie. Alsbald nach dem Abnabeln wankte Constanze, einer schamlosen Maria lactans gleich, aus dem Zelt und präsentierte den Gaffern ihre vollen Brüste – um ein den Staat gefährdendes Gerücht zu stillen.“ (Sueddeutsche.de)

Rituale sind notwendig, weil sie Rituale sind. Über den Sinn dieser Rituale kein Wort. Hier hat sich die Zelebrierung des Heiligen als das entlarvt, was sie von Anfang an war: als Repetition einer sinnlosen Magie.

Ein Kardinal liefert die rechtgläubige Begründung für den übernatürlichen Sinn göttlichen Eingreifens, die der säkulare Prediger Prantl nicht liefern darf:

„Als Christ glaube ich, dass Gott den Willen und die Möglichkeit hat, in die Geschichte einzugreifen. Er durchbricht die Kette der natürlichen Zeugungen und erschafft jenes Kind von Bethlehem, jenen Menschen, durch den er selbst spricht und sich offenbart. Wenn ich an Gott glaube, fällt es mir nicht schwer, ihm dies zuzutrauen.“ (BILD.de)

Was Prantl in der SZ, ist seine geliebte Kanzlerin in Deutschland: eine säkulare Neujahrspredigerin mit verbalen Wolken- und Nebelbildungen. Die Überschrift der Untersuchung ihrer Ansprachen heißt Datenanalyse. Worte zählen nichts mehr, wenn sie nicht in Zahlen, Algorithmen oder Daten verwandelt werden.

Urchristen, Pietisten und Postmoderne haben Worte in subjektive Erleuchtungswolken verwandelt, moderne Analytiker verwandeln sie in statistische Datenmengen. Das Wort an sich ist zur geistlosen Zahl verschandelt.

Merkel hat die Entleerung der politischen Sprache perfektioniert: durch systematisches Weglassen jener Begriffe, die in ordinären Disputen verwendet werden. Als da sind: Kapitalismus, Neoliberalismus, Aufklärung, Religion, die Risiken der Moderne, die Naturfeindschaft einer grenzenlosen Wirtschaft. Sie bevorzugt eine Wolkenbildung der geringsten Dissonanz: Fußball, Liebe, Harmonie. Sie spricht nur in Trivialitäten, immer aber im Ton des Außerordentlichen:

„Was kann man alles in einem Jahr erreichen? Es ist eine ganze Menge!“, beginnt sie. „Wie wäre es, wenn wir uns heute Abend das Ziel setzen, im kommenden Jahr überall noch ein wenig mehr als bisher zu vollbringen?“ (Berliner-Zeitung.de)

Was auch immer sie an Worthülsen benützt, die Medien stehen bewundernd auf ihrer Seite:

„Auch wenn die Neujahrsansprache der Regierungschefin etwas Patriarchalisches, aus der Zeit Gefallenes an sich hat – Angela Merkel zeigt in diesen kurzen Reden, dass sie durchaus verstanden hat, was die Menschen umtreibt. Wer ihre Reden nachliest, erlebt ein Stück Zeitgeschichte.“

Vor allem ihre geheimnisvoll unterschiedlichen Grußformeln erregen das Staunen der Datenhermeneutiker:

„Sie kehrt an diesem Abend zu einer Grußformel zurück, die sie anfangs immer und dann viele Jahre nicht benutzt hat: Sie wünscht ein „gesegnetes Jahr 2019“ – und nicht „Gottes Segen“ (vgl. Tabelle oben). Warum sie das mal so und mal so handhabt, bleibt ein Geheimnis der praktizierenden Christin.“

Sie ist die Rätselhafte, die Mysteriöse, die fromme nicht-stillende Madonna, deren Geheimnis kein schnöder Plebs je entschlüsseln wird. Wer an sie glaubet, wird gerettet werden, wer nicht an sie glaubt, ist schon gerichtet. Die Deutschen glauben. Und wer garantiert, dass sie tatsächlich zurücktritt und sich nicht doch entschließt – wenn ihre designierte Nachfolgerin vollends abstürzt –, ein weiteres Mal als Kanzlerkandidatin anzutreten?

Merkwürdigerweise haben die Medien kein Problem, sich mit der guten Sache Weihnacht gemein zu machen. In ihrer Apologie des Heiligen wimmelt es nur so von Irrationalitäten, legitimen Widersprüchen und überflüssigem Nachdenken. An Weihnachten zeigt sich unverhüllt der Charakter der Deutschen als aufklärungsfeindliche, immer religiöser werdende, romantische Schwarmgeister. Und die Kanzlerin ist Königin Luise.

Von den Gefahren der Weltpolitik, der Klimaverschärfung, der Millionen Flüchtlinge: davon nichts bei den Verteidigern der frommen Rituale. Weihnachten ist das Fest, an dem Politik zu schweigen hat, an dem es niemand wagt, den Frevel eines Millionenmords an jungen Bäumen anzuprangern. Wenn Brasiliens Urwald und Australiens letzte Wälder in Feuer aufgehen, darf Deutschland auch seinen Beitrag zur finalen Naturausrottung leisten. Wie heißt es im TAGESSPIEGEL: „Und diesmal heiligt der Zweck die Mittel“.

Zum Ende der frohe Wunsch zum heiligen Fest in der rohen und direkten Sprache der Barbaren:

Die Menschheit kann sich nur retten, wenn sie sich zum naturheiligen Motto entschließt:

Christ ging verloren
Welt ward geboren.
Freuet euch, Freunde der Menschheit.  

 

Fortsetzung folgt.