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Von vorne XCVII

Von vorne XCVII,

die Welt in Schieflage.

Sollte Donald Trump seinen Amtsenthebungsprozess überstehen, gar die nächste Wahl gewinnen, Europa zudem als Korrektiv ausfallen, weil es sich in alle Einzelteile zerlegt, droht ein politischer Kälteeinbruch, gepaart mit meteorologischen Hitzewellen, Wasserknappheit und gigantischen Flüchtlingsmassen: rosige Aussichten für die Menschheit.

Blind und taub taumelt sie ihrer größten Globalkatastrophe entgegen, seitdem der Ausbruch eines Vulkans vor vielen Jahrtausenden die Erde in einen Schockzustand und die Menschheit in Todesangst versetzte.

Warum verwundert es nicht, dass niemand die Frage nach den Ursachen stellt? Will der homo sapiens wirklich nicht wissen, was ihm geschieht, was er sich und der Welt antut?

Die Frage Warum wird nicht mehr gestellt, seitdem der Westen sich entschloss, die Vergangenheit zu tilgen und nur noch in die Zukunft zu starren.

Gegenwart ist das Gesamtergebnis der Vergangenheit.

Wer seine Zeit verstehen will, muss ihr embryonales Werden in der Vergangenheit verstanden haben. Das ist unmöglich, solange die Gattung sich einbildet, jeden Tag jungfräulich von vorne zu beginnen. Sie will eine sich täglich reinigende tabula rasa sein – oder eine reine Weste haben und an nichts schuldig sein.

Eine weltbeherrschende Kultur wollte den größten Makel ihrer Prägung – den Urdefekt ihrer Stammeltern, die religiöse Erbsünde – für immer abwerfen, um sich regelmäßig neu aus dem Nichts zu erfinden.

Eine Gattung, die nicht wissen will, woher sie kommt, wird vergeblich in die Zukunft blicken, um ihr künftiges Geschick zu erfahren. Eine Heilsgeschichte mit täglicher Wiedergeburt versenkt die sündige Zeit der Vergangenheit, um präsent zu sein

für die verheißungsvollen Segnungen, die da kommen sollen.

Mit der Sünde ist die Schuld, mit der Schuld die Ursache, mit der Ursache die Vergangenheit, mit der Vergangenheit die Zukunft getilgt. Übrig bleibt eine taumelnde Gegenwart ohne Gestern und Morgen, die nicht weiß, was sie geprägt hat und was sie demnächst erwartet.

Ohne Ursachenforschung wird es keine Selbstkorrektur des Menschengeschlechts geben. Heidnische Ursache ist keine religiöse Schuld, aus der nur Hass und Feindschaft folgt. Sie ist der Humus aller menschlichen Fähigkeiten und Schwächen. Natur bietet alles an. Der Mensch muss sich entscheiden, was er kultivieren oder als schädlich zurückweisen will.

Im Bereich allmächtigen Heils ist alles vorherbestimmt, im Reich der Natur entscheiden Verstand und Wille des freien Menschen.

Die Welt müsste ein globales Sabbatjahr einlegen, um sich zu besinnen, wo sie steht und wohin sie will. Sie tut das Gegenteil, verstärkt die Geschwindigkeit und hetzt noch besinnungsloser ins Nirgendwo.

Für den christlichen Westen ist alles, was geschieht, Lohn und Strafe eines Gottes. Den Interventionen dieses Herrn der Geschichte entkommt niemand. Seit 2000 Jahren ist es dem Abendländer nicht gelungen, Gott zu beseitigen und sich selbst zum Verantwortlichen seiner Taten zu erklären. Sollte die Menschheit abtreten, wird eine unmündige Gattung ihren Platz in der Evolution verlassen.

Im SPIEGEL allerdings gibt es den Versuch, im Interview mit einem Politologen die Frage zu erörtern, warum Rechtspopulisten auf der Welt im Vormarsch sind, warum der Mainstream sich nach rechts bewegt?

„Was verbindet US-Präsident Donald Trump mit seinen Kollegen Jair Bolsonaro in Brasilien, Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei, Rodrigo Duterte auf den Philippinen, Narendra Modi in Indien, Ungarns Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński in Polen?“ (SPIEGEL.de)

„Sie alle gehören der populistischen radikalen Rechten an. Was sie verbindet, sind drei Merkmale: Erstens der Nativismus, eine Ideologie des fremdenfeindlichen Nationalismus. Zweitens der Autoritarismus, ein striktes Law-and-Order-Denken. Drittens der Populismus, die Idee, dass sich in der Gesellschaft zwei einander feindlich gesinnte Gruppen gegenüberstehen: die korrupten Eliten gegen das einfache Volk.“

Genannt wurden nur Alphamänner der rechten Bewegung (merkwürdigerweise ohne den starken Mann aus China). Doch die Bewegung ins Undemokratische hat auch die Mitte der Gesellschaften erfasst.

Die deutsche Kanzlerin schweigt nur noch: über Menschenrechtsverletzungen in der Welt wie in Russland, China und in der Türkei. Sie erklärt und rechtfertigt ihre Politik nicht mehr. Sie meidet das öffentliche Gespräch, den Diskurs auf dem Marktplatz. Ihre offiziellen Reden widerlegen regelmäßig ihre Taten, was ihr gleichgültig zu sein scheint. Sie erweckt den Eindruck, als ginge das politische Weltgeschehen sie fast nichts mehr an. In Fragen der Klimapolitik lässt sie alles schleifen. Merkel hat keine Meinungen mehr, sie ist aufgestiegen zum Hegel’schen Weltgeist, der in Berlin seinen Endpunkt erreicht hat.

Eben dies ist rechts: alles, was sich um die Zukunft unserer Kinder nicht mehr kümmert und die Autonomie des Menschen unterhöhlt.

Rechts ist alles, was sich, im Auftrag höherer Mächte, gegen die Selbstbestimmung des Menschen wendet. Rechts ist Knechtschaft im Dienst einer Heilsgeschichte. Sei es eines Gottes, materieller Verhältnisse oder sonstiger Despoten. Rechts ist, sich, wie der Ästhet Peter Handke, erhaben fühlen über den demokratischen Streit der Meinungen, im Reich der Unfehlbarkeit angekommen zu sein.

„Ich schreibe nicht mit Meinungen. Ich habe niemals eine Meinung gehabt, ich hasse Meinungen.“ (Berliner-Zeitung.de)

Der Politologe Cas Mudde definiert „rechts“ nicht, er wirft gängige Parolen in die Manege, wird schon was Passendes dabei sein.

Zu allererst: Populus, das „einfache Volk“, ist an allem schuld. Bösartigerweise projiziert es seine Schuld auf die unschuldigen Eliten. Das hat eine über 100-jährige Tradition. Seit Le Bons Massenpsychologie ist der Pöbel:

„grundsätzlich impulsiv, beweglich, irritierbar, suggestibel, leichtgläubig, besessen von schlichten Ideen, intolerant und diktatorisch. Die Masse ist nur wenig kreativ und vermindert intelligent. Sie denkt einseitig grob und undifferenziert im Guten wie im Bösen. Es existiert eine allen Massenbestandteilen eigene Massenseele, die wiederum aus einer Rassenseele – als dem gemeinsamen, ererbten kulturellen Substrat hervorgeht. Die Mitglieder einer hochemotionalisierten Masse büßen ihre Kritikfähigkeit ein, die sie als Individuen im Zustand der seelischen Ruhe haben. Die individuelle Persönlichkeit schwindet in der Masse und macht einer gemeinschaftlichen Persönlichkeit Platz: Der Einzelne empfindet und denkt nun als Teil eines Ganzen, nicht mehr als Individuum.“

Die Massenseele des Populus, identisch mit einer Rassenseele, kann nicht weit entfernt sein vom „Nativismus“ des befragten Politologen. Selbstredend alles im Kontrast zum ökonomischen Globalismus der Eliten, die überall zu Hause sind, wo sie ihre Geschäfte tätigen und unterlegenen Völkern ihren wirtschaftlichen Willen aufzwingen können. Ortega y Gasset sprach gar vom Aufstand der Massen, Karl Jaspers hatte eine Psychologie der Massen entworfen, Sigmund Freud die Massenpsychologie erforscht.

Die Eliten des frühen 20. Jahrhunderts witterten im Volk eine grundsätzliche Gefahr – die Gefahr aufkommender Demokratien – gegen die sie sich wappnen mussten. Ein Führer, der die Massen zu einem Volk zusammenpfercht, um es an der Leine hinter sich her zu ziehen, war nicht das schlechteste Therapeutikum gegen gärende Massen.

Man prügelte die Massen und meinte die Demokratie. Eliten waren bekanntlich nicht in der Gefahr, an eine Rassenseele zu glauben, sie waren alle gebildete Kosmopoliten, die sich in zwei Weltkriegen die Köpfe einschlugen.

Nur Julian Benda eiferte nicht gegen die Massen, sondern sezierte die Intellektuellen, die eigentlichen Führer und Verführer des Volkes. Sein Ergebnis war niederschmetternd:

„In dem berühmten Essay Der Verrat der Intellektuellen beklagte er einen Trend der Intelligentsia, die ihnen eigentlich zustehende Position des Universalismus, ihren Schlüsselwert der Gerechtigkeit und ihre Organisationsform der Demokratie zu verraten und sich zunehmend „politischen Leidenschaften“ wie dem Klassenkampf, dem Nationalismus oder dem Rassismus hinzugeben.“

Intellektuelle Eliten verraten nicht nur die Gerechtigkeit, sondern auch die Wahrheit, die für sie heute gänzlich anders sein kann als gestern oder morgen. Wie man sie braucht, so legt man sie sich zurecht. Heute sprechen wir von postmoderner Beliebigkeit:

„Sie machen sich eine Ideologie zu eigen, die selbst die Wahrheit von jeweiligen Umständen abhängig macht, die sich nicht an eine tags zuvor für wahr ausgegebene Behauptung gebunden fühlt, sollten veränderte Verhältnisse inzwischen eine andere erfordern.“ (Der Verrat der Intellektuellen)

Das Volk hat viele Facetten, unschuldig ist es nicht. Doch wie hätte es seine Fähigkeiten entwickeln können, wenn es seine Machthaber auf den Schultern tragen musste? Welche Chancen haben Unterschichten in jahrtausendealten Klassengesellschaften und Hochkulturen, in denen Könige, Priester, Adlige und Brahmanen dem Volk im Nacken sitzen?  

Law und Order heißt Recht und Ordnung: was soll an dieser Formel autoritär sein? Autoritär ist Gewaltanwendung außerhalb demokratischer Regeln. Auch jene Polizei ist autoritär, wenn auch im defizienten Modus, die gesetzloses Treiben tatenlos ignoriert und vernachlässigt, was ihre Pflicht wäre: die Menschen vor krimineller Aktivität zu schützen.

Populisten sind die Allerletzten. Sie verführen das Volk, versprechen das Blaue vom Himmel, halten ihre Versprechen nicht – doch nur, wenn sie es wagen, die herrschenden Populisten zu attackieren. Wenn gewählte Populisten das Gleiche tun, ist es gegen jede Kritik gefeit. Grenzenloses Wirtschaftswachstum, endloser Fortschritt, unbegrenzte Macht über die Natur, Wohlstand bis zum Erbrechen – was hat die neoliberale Wirtschaft noch nicht versprochen?

Wer wagt es, von der Populistin Merkel zu reden, wenn sie das Volk ins digitale Wunderland führen will? Verknüpft mit der Forderung: bringt eure Kinder so früh wie möglich in die Kita, lernt eure Lektionen in der Schule, konsumiert tapfer um des Wohlergehens der Industrie willen – dann wird alles gut. Wie viele Versprechen hat Merkel schon gebrochen? Sie redet nur noch für das Geschichtsbuch, die Realität lässt sie verlottern.

Die Medien sind immer eifrig dabei, dem Pöbel Neid und niedere Instinkte gegen die Eliten zu unterstellen, wenn er sich erlaubt, die Gebildeten und Vornehmen an die Wand zu klatschen. Gehören sie doch selbst zur tätigen Elite – die sich immer mehr echauffiert, wenn sie unter ihrem Niveau regiert wird. Dann ist sie so frei, die unbefugten Pöbeleindringlinge in die Machtetagen gegen den Strich zu bürsten: Ich halte Sie für untauglich. Sie haben nicht die geringste Führungserfahrung. Sie sind drittklassig.

Bei dieser Gelegenheit kann man auch noch die Beschimpfung „Lügenpresse“ abkanzeln. Die Attackierten wollen nicht wahrhaben, dass es bei der Beschimpfung weniger um Lügen geht denn um verleugnete Nähe zu den Mächtigen, die automatisch zu einer kritiklosen Schonungshaltung verführt. Da muss niemand absichtlich lügen oder korrumpieren. Es genügt, dass man die Mächtigen aus der Nähe so menschlich, geradezu verletzlich erlebt. Was bildet sich der Pöbel ein, über diese pflichtbewussten Amtsträger so roh herzuziehen!

Warum rückt der Mainstream der Welt nach rechts? Dem Politologen fallen in dieser Menschheitsfrage nur die abgeschmacktesten Plattitüden ein. Vergleicht man das Vokabular dieses Geisteswissenschaftlers mit dem reichen Vokabular eines Julien Benda, kann man der Schlussfolgerung nicht mehr ausweichen: was sie nicht messen und berechnen können, dafür haben sie keine Worte und Begriffe.

Die Geisteswissenschaften haben den Geist vergessen, sie sind dabei, den Menschen zur zweibeinigen Maschine zu reduzieren. Die Geisteswissenschaft ist dabei, sich selbst abzuschaffen.

In dem Interview gibt es weder Kapitalismus noch Sozialismus, weder Gerechtigkeit noch Ungerechtigkeit, weder Wahrheit noch Moral, weder Humanität noch Verlust der Menschlichkeit, weder Hybris noch falsche Demut, weder Religion noch riskanter Fortschritt, um die Lage der Gegenwart zu analysieren.

Cas Mudde verteidigt eine ominöse Mitte, indem er die Rechten – vermutlich auch die Linken, die sich wie Rechte benehmen – mit Windbeutelbegriffen zur Minna macht. Wer als Experte die Möglichkeit einer öffentlichen Analyse erhält, gehört automatisch zur Gruppe der Mitte, über die es nichts zu reden gibt außer: sie ist gesund, intakt und vernünftig. Die objektive Analyse der Gesellschaft wird zur heimlichen Selbstverteidigung der eigenen Standpunkte, der integren Mitte.

„Das 21. Jahrhundert wird – nicht nur von den Rechten – als eine Ära der Krisen wahrgenommen. Es begann mit dem 11. September 2001, damals entstand das Feindbild Islam. 2008 brach die Finanzkrise über Europa und die USA herein. Sie zerstörte den Konsens darüber, dass Europa vereint und die Märkte weltweit offen sein sollten. Und dann kam noch die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 hinzu. Diese Krisen haben ein tiefes Gefühl von Unsicherheit hinterlassen. In den Augen der Rechten hat sich gezeigt, dass der politische Mainstream nicht handlungsfähig ist, dass die alten Parteien die Kontrolle verloren haben.“

Das Jahrhundert wird wahrgenommen. Ist es wirklich so, wie es wahrgenommen wird? Was nur oberflächlich wahrgenommen, nicht begriffen wird – das wissen doch alle –, ist trügerisch und subjektiv. In dieser Beschreibung schwingt der Verdacht mit: dieser Pöbel macht aus jeder Mücke einen Elefanten. Krisen gibt es immer wieder. Da muss man sich doch nicht aufblasen, um sie als bedrohlich zu empfinden.

An der Analyse des Professors ist kein Satz richtig. Das Feindbild Islam ist jahrhundertealt, muss man an heilige Kreuzzüge erinnern? Unfehlbare Religionen hassen andere unfehlbare Religionen. Religiöse Faktoren als Giftkerne der Gesellschaft aber sind Cas Mudde unbekannt.

Die Krisen haben auch keinen Konsens über Märkte und Kapitalismus zerstört, den Dissens in diesen Fragen gibt es seit der ersten Kapitalismuskritik vor 200 Jahren. Alles, was den Mainstream für handlungsunfähig hält, muss rechts sein? Dann wäre jede Kritik rechte Stimmungsmache. Vor den Krisen war offenbar alles in Ordnung, plötzlich erkennen die Rechten ihre Chance, anhand läppischer Krisen die Verhältnisse gründlich in Verruf zu bringen.

„Die modernen Rechten sind nicht unbedingt undemokratisch. Sie glauben aber, dass sich alles, was sie als Problem ansehen, durch dirigistische Maßnahmen eines starken Staates lösen lässt – ob das nun Drogensucht, Prostitution oder Homosexualität ist. Es ist gerade der Populismus, der sie dazu treibt, etwa die Freiheit der Medien oder der Gerichte zu beschneiden. Sie meinen damit die Hochburgen der feindlichen Eliten zu schleifen, die sich in ihren Augen gegen den wahren Willen des Volkes auflehnen. Unter Rechten ist die Überzeugung verbreitet, die Demokratie sei defekt.“

Was nicht undemokratisch ist, ist demokratisch. Dann wären die Rechten gar keine Feinde der Demokratie? Hoppladi Hopplada. Woher dann die Aufregung? Nur: sind dirigistische Maßnahmen nicht eo ipso demokratie-schädigend, weil sie befehlen und nicht überzeugen wollen? Dann wären Orban und Erdogan die besten Demokraten, weil sie die Freiheit der Medien und Gerichte nur beschneiden – um die Demokratie zu retten?

Wenn einer sagt: der Staat bin ich, entlarvt er sich als Absolutist. Wenn einer sagt: die Demokratie bin ich – was ist der? Kein Diktator im Gewande des Demokraten? Rechte glauben weniger, dass die Demokratie defekt sei, vielmehr glauben sie, die ganze Welt liege im Argen. Sie schreien in die Welt, weil sie glauben, sie würden ersticken, wenn sie nicht alles hinausbrüllen würden.

Trumps Anhängern ist es gleichgültig, ob ihr Matador die Demokratie retten will oder nicht. Wichtiger als Staatenmodelle ist ihnen die ecclesia dei, deren Ruhm ihnen wichtiger ist als alle menschlichen Gebilde zusammen. Ihr Held kann gegen alle Regeln dieser Welt verstoßen, dadurch zeigt endlich einer, dass diese Welt dem Verfall übergeben wurde, um der neuen Welt des wiederkehrenden Messias Platz zu schaffen.

Es herrsche der Eindruck, die EU kümmere sich nicht um die einfachen Menschen? Papperlapapp.

„Das ist natürlich umso verwunderlicher, weil die EU Milliarden an Strukturhilfen ausgibt, vor allem in Osteuropa. Aber darum geht es nicht, es ist eine kulturelle Auseinandersetzung. Viele Menschen nehmen Anstoß an den Werten, für die Brüssel sich einsetzt, etwa den Rechten von Schwulen und Lesben. Im Osten werden diese Werte oft als fremd angesehen, als von außen aufgezwungen. Die Menschen in Osteuropa wollten vor allem in die EU, um reich zu werden und nicht, um toleranter zu werden.“

Die Osteuropäer wollten doch nur in die EU, um abzukassieren. Nicht um tolerant und demokratisch zu werden. Dann tun sie, als ob man ihnen die Werte des Westens aufgezwungen hätte.

Diese Sätze sind an Überheblichkeit kaum zu überbieten. Kann es sein, dass auch der Westen ein wenig an der EU-Mitgliedschaft des Ostens interessiert war? Natürlich werden alle mit Sanktionen bestraft, wenn sie gegen die Regeln der EU verstoßen. Das geht auch gar nicht anders. Bei vielen führte das zur störrischen Reaktion: Nur wenn wir kuschen und unsere traditionelle Moral verraten, werden wir vom Westen akzeptiert.

Das gilt nicht für die ganze Bevölkerung. Viele Jugendliche waren von der neuen Freiheit überwältigt. Demokratie lässt sich in einer Generation nicht vollständig lernen. War das in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg anders? Cas Mudde bestätigt mit seinen Thesen die verächtliche Arroganz des Westens, auf die der Osten so allergisch reagiert.

Regelmäßig wird die Analyse der Rechten benutzt, um Kritik am Kapitalismus oder an der Politik in einem Aufwasch wegzuspülen:

„Viele Wähler der Rechten sind grundsätzlich der Auffassung, dass alle Politiker korrupt sind. Sie erwarten nichts anderes. Rechtspopulisten an der Macht verfolgen oft eine altmodische Sozialpolitik, erhöhen die Renten und Mindestlöhne, subventionieren Energie. So sagen sich die Leute: Verdorben sind sie alle, aber diese hier tun wenigstens etwas für mich.“

Wer sich für gerechte Sozialpolitik einsetzt, verfolgt eine „altmodische“ Politik!   Gerechtigkeitsfanatiker sind von gestern. Die haben noch nicht mitgekriegt, dass der Mainstream weitergewandert ist und sich den Forderungen der avantgardistischen Ausbeuter angepasst hat.

Verdorben sind sie alle: diese Meinung ist tatsächlich weit verbreitet. Man nennt sie auch christliche Lehre von der Erbsünde. Doch solche Begriffe nimmt kein Zeitanalytiker in den Mund, der nur an harten Fakten interessiert ist.

Fazit: die westlichen Eliten haben sich abgerackert, um den habgierigen und hinterwäldlerischen Massen von Unten und aus dem Osten Arbeit und Wohlstand zu bieten. Doch Undank ist der Welt Lohn. Wenn sich ihre paradiesischen Erwartungen nicht in allen Dingen erfüllen, laufen sie Populisten hinterher, die ihnen alles versprechen und nichts halten. Der Populus ist das Verhängnis der Demokratie.

Was aber bleibt zu tun, damit sich die Dinge verändern?

„Die einzige Lösung ist es, die liberale Demokratie zu stärken. Es geht nicht um die Herrschaft der Mehrheit, sondern um den Schutz der Minderheit. Und jeder gehört in irgendeiner Hinsicht einer Minderheit an. Man braucht zudem eine positive Geschichte: Man sollte Migration als Gewinn für die Wirtschaft diskutieren, statt sich darauf einzulassen, sie vor allem als Bedrohung und Belastung zu verstehen. Migranten sind Arbeitskräfte und Steuerzahler. Die Liberalen sollten vom Umweltschutz, über eine bessere Infrastruktur oder die Reform des Gesundheits- und des Bildungssystems reden. Auf diesen Gebieten haben die Rechten keine Vorschläge.“

Die Stärkung der Demokratie besteht nicht in gerechteren Verhältnissen, im Verstehen und Kümmern um die Abgehängten, im demokratischen Einsatz der Einzelnen, im Abbau autoritärer Strukturen, im Beendigen übermäßiger Macht der geistigen und industriellen Eliten. Sondern im Erzählen einer Geschichte. Die Massen wollen eine Geschichte hören, die ihnen schmeichelt und ihrem niedrigen Niveau angemessen ist. Wie man Kindern Märchen erzählt, so soll man den Empörten zurufen: die Flüchtlinge beuten euch nicht aus, sie sind gute Arbeitskräfte und erhöhen die Wirtschaftskraft der Nation.

Das sind unschlagbare Argumente im Kampf gegen Fremdenhass. Die Eingewanderten sind keine Menschen mit menschlichen Problemen, sondern Wirtschaftsfaktoren. In der Tat: unschlagbare Argumente im Kampf gegen rechts.

Mit Rechten sollte man gar nicht erst debattieren wollen. Das bringt nichts. Sie sind vernagelt. Man sollte ihren Lieblingsthemen aus dem Weg gehen und sich auf Gebiete begeben, von denen sie keine Ahnung haben.

Hätte die Dichterin Ingeborg Bachmann die Rechten von heute gekannt, hätte sie ihren Satz gar nicht erst erfunden: Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Das wäre Perlen vor die Säue geworfen.

Die technokratische Sprache des Interviewten verbirgt die emotionale Verachtung des Gelehrten gegenüber dem Volk, das vor allem aus Rechten besteht. Oder aus solchen, die sich insgeheim mit Rechten identifizieren. Wahrlich, die Tüchtigen und Gebildeten, sie mühen und rackern sich ab, um dem Lumpenproletariat eine warme Suppe pro Tag zu verschaffen. Doch Undank ist der Welt Lohn.

Eliten traktieren das Volk wie Karriere-Eltern ihre Kinder. Nur keine falschen Emotionen. Nur niemanden in Watte packen. Das Leben ist hart, und also müssen die Kinder in prophylaktischer Härte auf das Leben trainiert werden.

Gymnasialdirektor Josef Kraus „wählt heute noch deutlichere Begriffe, er spricht von „Drohneneltern“ im Kontrollwahn oder gar von „Kampfhubschrauber-Eltern“, die sich permanent in den schulischen Alltag einmischten. Kinder könnten jedoch nicht lernen, Eigeninitiative zu entwickeln, wenn sie frühzeitig daran gewöhnt würden, dass sämtliche Hindernisse aus ihrem Weg geräumt würden.
„Hirnforscher Ralph Dawirs erläutert bei ZDF Neo, welche Folgen es für die Kinder an der Kletterwand hat, wenn Eltern die Botschaft „Das schaff’ ich allein!“ ignorieren: Die Kleinen werteten dies als mangelnde Vertrauenskompetenz. Kinderpsychologin Silvia Schneider spricht in diesem Zusammenhang von „Selbstwirksamkeit“, die Kinder nur dann lernten, wenn sie Herausforderungen allein bewältigten. Dawirs weist zudem darauf hin, wie wichtig es sei, dass Kinder frühzeitig „die Kunst des erfolgreichen Scheiterns“ lernten; der Neurobiologe plädiert daher für eine „kultivierte Vernachlässigung“.“ (Frankfurter-Rundschau.de)

Oh doch, man kann Kindern schaden, wenn man ihnen nichts zutraut. Man schadet ihnen aber noch mehr, wenn man sie „erfolgreiches Scheitern“ lehrt oder sie auf „kultivierte“ Art „vernachlässigt“.

Erfolgreiches Scheitern ist ein Begriff aus der neoliberalen Risiko-Ideologie. Nur nicht unterkriegen lassen und wenn wir die ganze Welt verlören. Die nächste wartet bereits auf uns. Der Wettkampf ist unendlich, das Leben eine unbegrenzte Rivalität. Wer einmal aufgibt, hat für immer verloren. Hier waltet kein humanes Leben mehr, hier waltet darwinistischer Überlebenskampf.

Ist Hirnforschern und Gymnasialdirektoren schon mal aufgefallen, dass die meisten Kinder unter zu wenig Teilnahme ihrer Eltern leiden? Dass sie das Gefühl haben, von ihnen nicht wahrgenommen, nicht verstanden worden zu sein?

Sich um Kinder kümmern, heißt nicht, dass man ihnen nichts zutraut.

Die gesamte Gesellschaft zwingt die Familien, sich voneinander zu lösen, zu separieren, keine authentischen Gefühle aufkommen zu lassen. Dann wundert sich die BIP-Gesellschaft, dass es so viele alleinstehende Mütter gibt, zu viele Hartz4-Kinder, dass die Alten vereinsamen und die Pflegebedürftigen vor sich hindarben.

Auch helikopter-allergische Gesellschaften sind abhängig von emotionalen Netzwerken. Warum hängen die Einzelnen den ganzen Tag voll verkabelt an ihren Smartphones? Weil sie zu viele wahre Freunde haben – oder sie im anonymen Netz ständig suchen müssen?

Die Welt in Schieflage – und niemand fragt warum. Sie wird schon allein zurechtkommen, die Welt. Ohne Sorge, seid ohne Sorge. Und lasst eure sentimentale Überfürsorglichkeit aus dem Spiel.

Fordern ist wahres Fördern. Oder auf abendländisch: wen die Regierung liebt, den züchtigt sie.

 

Fortsetzung folgt.