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Von vorne XCIII

Von vorne XCIII,

„Oh Welt, ich muss dich lassen, ich fahr dahin mein Straßen – ins ewig Vaterland.

Mein Geist will ich aufgeben, dazu mein Leib und Leben.

Mein Zeit ist nun vollendet, der Tod das Leben endet. Sterben ist mein Gewinn.

Ich bin ein unnütz Knechte, mein Tun ist viel zu schlechte.

Drauf will ich fröhlich sterben, das Himmelreich erwerben, wie ers hat bereit‘.

Damit fahr ich von hinnen, Oh Welt, tu dich besinnen.

Meins Bleibens ist jetzt hier nicht mehr.“ (Bei Bartholomäus Gesius 1605)

Pflichtchoral der Regierung. Angeordnet von der Kanzlerin, freudig begrüßt von allen Schöpfungsbewahrern der Großen Koalition. Zu singen am Beginn jeder Kabinettssitzung. Demnächst auch bei jedem Absingen der Nationalhymne.

Zur Einstimmung auf das Ende, das unwiderruflich über uns kommen wird. Nicht nur über unnütz Knechte, sondern auch über gehorsame Mägde des Herrn, der sich auf das Schlussfeuerwerk seiner Weltgeschichte für Sündenkrüppel schon jetzt unbändig freut.

Heißa, wird das ein Spektakel, wenn Sokrates, schlimmster aller Heiden, ruhmbegierigster Dämon aller Dämonen, im höllischen Feuer braten wird:

„Welches Schauspiel für uns ist demnächst die Wiederkunft des Herrn, an den man dann glauben wird, der dann erhöht ist und triumphiert! Wie werden da die Engel frohlocken, wie groß wird die Glorie der auferstehenden Heiligen sein! Wie werden von da an die Gerechten herrschen, wie wird die neue Stadt Jerusalem beschaffen sein! Aber es kommen noch ganz andere Schauspiele: Der Tag des letzten und endgültigen Gerichts, den die Heiden nicht erwarten, über den sie spotten, der Tag, wo die alt gewordene Welt und alle ihre Hervorbringungen im gemeinsamem Brande verzehrt werden. Was für ein umfassendes Schauspiel wird es da geben? Was wird 

da der Gegenstand meines Staunens, meines Lachens sein? Wo der Ort meiner Freude, meines Frohlockens? Wenn ich so viele und so mächtige Könige, von welchen es hieß, sie seien in den Himmel aufgenommen, in Gesellschaft des Jupiter und ihrer Zeugen selbst in der äußersten Finsternis seufzen sehe; wenn so viele Statthalter, die Verfolger des Namens des Herrn, in schrecklicheren Flammen, als die, womit sie höhnend gegen die Christen wüteten, zergehen; wenn außerdem jene weisen Philosophen mit ihren Schülern, welchen sie einredeten, Gott bekümmere sich um nichts, welchen sie lehrten, man habe keine Seele, oder sie werde gar nicht oder doch nicht in die früheren Körper zurückkehren – wenn sie mitsamt ihren Schülern und von ihnen beschämt im Feuer brennen, und die Poeten nicht vor dem Richterstuhl des Rhadamantus oder Minos, sondern wider Erwarten vor dem Richterstuhl Christi stehen und zittern! Dann verdienen die Tragöden aufmerksameres Gehör, da sie nämlich ärger schreien werden in ihrem eigenen Mißgeschick; dann muß man sich die Schauspieler anschauen, wie sie noch weichlicher und lockerer durch das Feuer geworden sind; dann muß man sich den Wagenlenker ansehen, wie er auf flammendem Rade erglüht; dann die Athleten betrachten, wie sie nicht wie in der Ringschule (mit Sand), sondern mit Feuer beworfen werden.“ (Tertullian, Über die Schauspiele)

Himmlische Freuden der Erlösten über Höllenqualen der Verdammten, liebevoll ausgemalt von einem Kirchenvater. Demselben empfindsamen Herrn, der den Christen verbot, an den grausamen römischen Schauspielen teilzunehmen:

„Der Besuch der heidnischen Schauspiele ist mit dem Christentum unverträglich. Durch die Spiele werden wütende Leidenschaften erregt. Durch das Anschauen der Schauspiele wird das sittliche Gefühl abgestumpft und erstickt. Der Anblick der Spiele macht rasend und lenkt die Gedanken von göttlichen Dingen ab. Auf die Vergnügungssucht der Heiden folgt Trauer, auf christliche Weltentsagung dagegen Freude. Die Schauspiele und Freuden der Christen sind ganz andere. Man stelle sich das größte und letzte Schauspiel der Welt vor: das Jüngste Gericht.“

Was sind läppische Sadismen auf Erden gegen Höllenqualen der Ewigkeit, über die die Seligen triumphieren und schadenfroh lachen dürfen – dass selbst Nietzsche, Lobredner der Grausamkeit, Hemmungen hatte, die Tertullian-Passagen ins Deutsche zu übersetzen.

Die Kirchen, die nichts unterlassen, um ihre Dogmen zeitgemäß nachzupolieren, indem sie ihre Originalschriften verfälschen, haben die Hölle keineswegs aus ihrem Repertoire getilgt. Obgleich sie sich abrackern, das Feuer in einen Akt liebender Begegnung mit Gott zu verzaubern.

„Die Lehre der katholischen Kirche besagt, dass es eine Hölle gibt und diese ewig dauert. Die katholische Kirche versteht den Begriff Hölle als den selbstverschuldeten endgültigen Ausschluss eines Menschen aus der Gemeinschaft mit Gott, also die Erfahrung letzter Sinnlosigkeit. Der Katechismus der Katholischen Kirche behandelt die Hölle im Artikel 12: „In Todsünde sterben, ohne diese bereut zu haben und ohne die barmherzige Liebe Gottes anzunehmen, bedeutet, durch eigenen freien Entschluß für immer von ihm getrennt zu bleiben. Diesen Zustand der endgültigen Selbstausschließung aus der Gemeinschaft mit Gott und den Seligen nennt man ‚Hölle‘.“

Wie in allen Dingen sind die Protestanten gespalten. Den einen ist Hölle ein Ort liebender Reinigung.

Andere Theologen wiederum meinen, es sei nicht vertretbar, die Existenz einer Hölle zu leugnen. Sie müsse ebenso gelehrt werden wie die Möglichkeit des Menschen, durch Hinwendung zu Jesus Christus gerettet zu werden. In dieser Tradition steht auch die Aussage des emeritierten Papstes Benedikt XVI., der 2007 in seinem stark beachteten Jesusbuch sagte, dass Jesus Christus gekommen sei, um uns zu sagen, dass er uns alle im Paradies haben wolle. Die Hölle, von der man in unserer Zeit so wenig spräche, existiere und sei ewig für jene, die ihre Augen vor Jesu Liebe verschlössen. Bereits in seinem Buch Einführung in das Christentum aus dem Jahr 1968 befasste sich Ratzinger mit der christlichen Definition des Begriffes Hölle als Ort der Einsamkeit, an den keine Liebe mehr dringen kann.“

Unverändert dominieren die Kirchen die Pathosrituale der Politik (keine staatliche Feier ohne ökumenischen Gottesdienst) und die esoterische Erbauung der Jugend durch flächendeckenden Religionsunterricht, wogegen kein Sektenbeauftragter wütet, der getreuer Diener klerikaler Großsekten ist.

Hölle und Himmel sind die beiden Zielvektoren des christlichen Westens. Telos der Geschichte ist eine Doppelspitze: Entweder ins ewige Licht Oder in ewige Finsternis.

Postmoderne Medien wüten gegen das Entweder-Oder, dessen kirchliche Herkunft sie ignorieren und das sie verwechseln mit logischem Richtig oder Falsch und moralischem Wahr oder Unwahr. Ihre unterschwelligen Animositäten gegen 2000 Jahre Theokratie schieben sie – haste nicht gesehen – dem heidnischen Denken unter.

Es gäbe eine reelle Methode, die Wahrheit übernatürlicher Religionen zu beweisen: wenn – von vielen beglaubigte – Prophetien objektiv eingetreten und von vielen gläubigen und ungläubigen Zeugen bestätigt worden wären. Das Gegenteil ist der Fall.

Jesus wollte als Herr des Universums zu Lebzeiten der Jünger zurückkehren. Bis heute hat er sich nirgends blicken lassen. Wie oft prophezeiten erleuchtete Männer die nahestehende Apokalypse! Doch weit und breit keine Bestätigung.

Das erschüttert die Glaubwürdigkeit der Frohen Botschaft. Um sie zu retten, ließen sich die Abendländer etwas einfallen. Woran sie innig glauben wollen, stellen sie selber her.

Die Inhalte ihrer Seligkeitsverheißungen und Höllendrohungen müssen sie selbst kreieren in Form technischer Macht- und Unendlichkeitsträume und wirtschaftlicher Verelendungskatastrophen.

Die beiden Hauptstränge der westlichen Heils- und Unheilsgeschichte sind verzweifelte Versuche der Abendländer, die – um ihre eigenen Zweifel zu widerlegen – selbst produzieren müssen, woran sie glauben.     

Der Glaube an die Seligkeit wird zum technischen Fortschreiten ins Unsterbliche und zur Beherrschung des Universums.

Der Glaube an die Hölle wird zur Verwandlung der Erde in eine lebensverneinende Wüste und zur finalen Gesamtvernichtung der Natur – die durch KI zur neuen Schöpfung rekreiert wird.

Auf individueller Ebene wird der Glaube an das selbstverfertigte Heil oder Unheil zum psychosomatischen Placebo – oder Nocebo. Indem er sein Heil oder Unheil selbst herstellt, verwandelt sich der gehorsame Mensch in das allein verantwortliche Subjekt seines Schicksals.

Doch seiner heimlichen Autonomie darf er sich nicht rühmen, seiner Fähigkeiten darf er sich nicht bewusst werden: er muss gehorsamer Diener höherer Mächte bleiben.

Das Doppelziel der Geschichte spaltet die Menschheit in zwei für immer getrennte Teile. In einen winzigen Teil der Seligen und eine riesige massa perditionis, die Masse der Verlorenen. Übersetzt in moderne Begriffe: in eine verschwindende Minderheit der Superreichen und technisch Fortschrittlichen – und in Milliarden der Abhängigen, Machtlosen, Armen, Verelendeten und technischen Loser.

Die Erfolgreichen sind die Gewinner des historischen Placebos, die Versager die Opfer des kollektiven Nocebos.

Die Placebo-Minderheit ist an der Errettung der Menschheit durch radikale Kurskorrektur keinen Deut interessiert. Sie fühlt sich unabhängig von der Wiederherstellung einer menschenfreundlichen Natur. Sollten die Konditionen auf Erden unerträglich werden, haben sie für sich und nur für sich allein längst eine Lösung gefunden. Sie schwirren ab ins All.

Die gigantische Nocebo-Mehrheit bleibt den Folgen des Klimawandels erbarmungslos ausgeliefert. Die auserwählte Einprozent wird sich mit aller Brutalität jene Territorien sichern, auf denen man zukünftig noch leben kann – oder sie wird sich Plätze in den ersten Mars-Raketen sichern.

Die äußerliche Einheit der Menschheit wird für immer zu Bruch gehen. Die Placebos werden sich belohnen, weil sie sich von Oben belohnt fühlen, denn sie haben sich den Geboten des Himmels gefügt:

„Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“

Die Nocebos aber werden „hinausgestoßen in die Finsternis, die draußen ist. Dort wird sein Heulen und Zähneklappern.“

Die Verheißung: die Letzten werden die Ersten sein, wird über den Haufen geworfen. Die Ersten werden die Allerersten sein, die Letzten beißen die Hunde.

Die Deutschen, viele Epochen lang hinterhertaumelnde Letzte, glaubten an die biblische Umkehr der Ränge: im Himmel werden sie die Ersten sein.

Die Amerikaner, aus europäischen Flüchtlingen zu den Ersten ihres Kontinents aufgestiegen, ignorierten das Umkehrprinzip und wählten die Matthäus-Devise: wer hat, dem wird gegeben. Die Reichen und Fortschrittlichen werden die Ersten sein.

Die Apathie der Deutschen in Umweltfragen entlarvt ihre bewusstseinslos-apokalyptische Gefühlswelt. Insgeheim glauben auch sie an das Ende der Welt, sind aber unfähig, sich zu diesem Hinterwäldlerglauben zu bekennen.

Die Arbeitsverweigerung der Kanzlerin, die ihre Macht nur behält, um ihre stumme Sehnsucht nach dem „lieben Jüngsten Tag“ nicht zu gefährden, zeigt, dass auch sie vom finalen Charakter der Weltgeschichte überzeugt ist.

Während Amerikaner sich stolz zu ihrem Endzeitglauben bekennen, verstecken die scheinheiligen Deutschen ihren Glauben an die Endzeit hinter einem dünnen Firnis aufgeklärter Rationalität. Hier herrscht ein reaktiver Hohn auf alles Apokalyptische als krampfhafter Versuch, sich vom „Dritten oder 1000-jährigen Reich“ zu distanzieren. Beide Begriffe entstammen dem Repertoire einer untergründigen Sehnsucht nach dem Ende aller Dinge.

„Der politische Nationalismus in Deutschland ist von seiner Geburtsstunde an von apokalyptischen Vorstellungen durchsetzt und geprägt.“

Dass deutscher Nationalismus religiös geprägt war, wird weithin zugegeben. Doch kaum wird zugegeben, „dass die nationalistische Religiosität einen spezifisch apokalyptischen Charakter hat. Nicht anders als das amerikanische Nationalbewusstsein, das stark von millenaristischen (1000-jährigen) Vorstellungen bestimmt ist, die aus dem Erbe der puritanischen Sekten stammen.“ (Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland)

Fast alle nachkantischen deutschen Philosophen waren Endzeitgläubige. Selbst Nietzsche, der seinem väterlichen Erbe durch die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen mit Gewalt entkommen wollte. Oswald Spenglers „Untergang des Abendlands“ war eine Mischung aus christlichem Ende der Geschichte und einem aufgesetzten Glauben an eine endlose Geschichte. Moeller van den Bruck, Wegbereiter des NS-Regimes, nannte sein Hauptwerk „Das Dritte Reich“.

Ursprünglich die Spekulation eines mittelalterlichen italienischen Mönches namens Joachim di Fiore, war das Dritte Reich das Ende der Geschichte: das Reich des Heiligen Geistes nach den Reichen des Vaters und des Sohnes.

„Hegels Weltgeschichte ist eine Abfolge von vier Reichen, deren letztes, das germanische, dazu bestimmt ist, den Selbstverwirklichungsprozess des Geistes zum Ziel zu führen. Hier wird sich das Geistliche und das Weltliche vereinen, „sodass die wahrhafte Versöhnung objektiv geworden, welche den Staat zum Bild und zur Wirklichkeit der Vernunft entfaltet.“ (Vondung)

Hegels Geschichtsphilosophie ist nichts als eine Endzeiterzählung – aber ohne apokalyptischen Hokuspokus, woran man erkennen kann, dass er Christliches und Griechisches miteinander vermählen wollte. Hegels letzte Station des Geistes ist Berlin, hier kommt der Weltgeist zu sich. Das kann jeder sofort nachvollziehen, der die Berliner Regierung wahrnimmt. Alles ist gesagt, alles getan, was getan werden musste. Nach ihnen die Sintflut, gegen die ohnehin kein Kraut gewachsen ist.

Die deutsche Regierung ist geprägt von millenaristischem Finalismus: aus, vorbei, es gibt keine Lösungen. Was es noch gibt, muss in himmlischer Ergebenheit erduldet werden.

Marx blieb ein Schüler seines schwäbischen Lehrers, auch seine Endzeitgeschichte endet im paradiesischen Reich der Freiheit – für die auserwählten Proleten. Wo aber bleiben die Ausbeuter und Beutelschneider?

Schelling warnte die Deutschen vor der Phantasie eines vollkommenen Staates:

„Wenn man einen vollkommenen Staat in dieser Welt will, so ist das Ende (apokalyptische) Schwärmerei.“

Doch seine Warnung vor einer „falschen Theokratie“ war vergeblich. Etwa 100 Jahre nach seinem Tod wollte ein Drittes Reich den vollkommenen irdisch-göttlichen Staat auf Erden errichten – mit der Lizenz, das Böse der Welt für immer auszurotten. In allem Bösen blieben sie gut, weil sie die Inkarnation des Göttlichen waren.

Bei der gegenwärtigen Klage über anwachsenden Judenhass werden die wichtigsten Philosophien, bei denen Antisemitismus zum System gehörte, nirgendwo erwähnt – außer bei Micha Brumlik. Soviel zur ernsthaften Suche nach Antisemitismus im deutschen Geistesleben.

Alles verschärft sich von Tag zu Tag, die Berliner Christenregierung liegt in apokalyptischer Lähmung. Gegen den himmlischen Willen der Heils- und Unheilsgeschichte sollen wir ankommen? Lasst den Hochmut fahren, wir ergeben uns durch Flucht in die Routine. Alles muss aussehen, als ob. Als ob wir uns Tag und Nacht fetzen würden um die Rettung der Welt, haha, natürlich, was denn sonst? Mit Geringerem werden wir uns nicht begnügen.

Alles verschärft sich. Neun von zehn Waldbäumen in Berlin zeigen schon Schäden? Das wäre noch das Geringste.

„Die Folgen der globalen Erderwärmung werden in Deutschland schon heute immer spürbarer. Demnach hat sich die mittlere Lufttemperatur in Deutschland von 1881 bis 2018 um 1,5 Grad erhöht. Die Uno warnt indes, dass die aktuellen weltweiten Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawandel nicht ausreichten. Die Länder müssten ihre Anstrengungen immens verstärken, wenn sie gemeinschaftlich das 1,5-Grad-Ziel erreichen wollen. Wenn die Weltbevölkerung so weiterlebe wie aktuell, droht die Temperatur bis zum Ende des Jahrhunderts um bis zu 3,9 Grad statt wie angestrebt um nur 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu steigen.“ (SPIEGEL.de)

Wie sind die Reaktionen im Lande? Kein Mucks aus Berlin. Staatstragende Medien attackieren alle Versuche der Kurskorrektur als moralinsaure Gefühlsduselei oder Hysterie.

„Der Sound der Weltrettung changiert zwischen Margarinenreklame und aufgeklärtem Yogatum. Wer wissen will, wie das verspießerte, nationalmoralistische Bürgertum so lebt und denkt, darf den Tausenden Likern und Retweetern nachspüren und lernt ein Bürgertum kennen, dessen moralische Doppelstandards ebenso unreflektiert sind wie die eigene Rolle als Mittelschichtsagenten.“ (WELT.de)

Dieser moralisch überlegene, passiv wahrnehmende Amoralismus begnügt sich mit hoheitlichen Gesten und angewiderten Platzverweisen. Eigene Analysen und alternative Lösungsvorschläge sucht man vergeblich.

Rettungsversuche kann man auch als Hysterie bezeichnen, denen man in Vollmacht des Geistes widersteht:

„Es wäre schön, würden die Hysteriker auf beiden Seiten abrüsten. Nein, wir sterben nicht aus, und weder SUV-Fahrer noch Flugpassagiere sind Verbrecher. Nein, es gibt kein Komplott zur Errichtung einer Ökodiktatur und zur Umsetzung eines „zweiten Morgenthau-Plans“. Deutschland schafft sich nicht ab, weder durch den steigenden Meeresspiegel noch durch steigende Strompreise.“ (WELT.de)

Alan Posener bevorzugt die Pose des Propheten, der eingeweiht ist in die Pläne der Evolution. Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind, in dürren Blättern säuselt der Wind. WELT-Propheten dulden es nicht, dass die unbeschwerte Zeit ihres medialen Mitregierens für immer vorbei sein soll.

Was immer aus Berlin zu hören ist, es ist nichts als Blockade, Destruktion und folgenlose Versprechen. Beispiele:

Das Bundesverfassungsgericht hat endlich entschieden, dass Hartz4-Demütigungen eine gewisse Grenze nicht überschreiten dürfen. Nicht mit Berlin:

„Das Bundesarbeitsministerium will offenbar weiterhin Hartz-IV-Empfänger mit Sanktionen von mehr als 30 Prozent des Regelsatzes belegen, wenn sie wiederholt gegen Regeln verstoßen.“ (SPIEGEL.de)

Blanker Rechtsbruch, vom Verstoß gegen Artikel 1 des GG nicht zu reden. Die SPD lässt nicht von ihrer biblischen Drohung ab: wer nicht arbeiten will (ob es Arbeit gibt oder nicht, ist belanglos), soll seines Lebens nie mehr froh werden. Der zuständige Minister trägt den Namen Heil.

Demokratie ist in Gefahr, sie soll gestärkt werden? Nicht mit Berlin:

„2019 wurden nach SZ-Informationen noch 325 Modellprojekte gefördert – für die nächste Förderperiode kommen nur 93 Träger zum Zuge. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) wird in einem Offenen Brief von fast 140 Organisationen kritisiert, da die Förderregeln des Programms „Demokratie leben“ geändert wurden.“ (Sueddeutsche.de)

Wie viele Kinder leben in Armut? Haben keine Chancen, sich ein selbstbestimmtes Leben zu erarbeiten? Müssten die Rechte dieser Kinder nicht durch Grundgesetz-Änderung verstärkt und verbrieft werden?

Nicht mit Berlin. Selbst wenn die Kinderrechte ins Grundgesetz kämen: was folgte daraus?

„Auch nach einer Reform muss jedem und jeder klar sein, dass man mit einem frischen Absatz im Grundgesetz auf dem Weg zum wirksamen Schutz oder zur altersgemäßen Förderung junger Menschen noch keinen Meter Boden gut gemacht hat. Der Effekt der Grundgesetzänderung ist in dieser Hinsicht eher ernüchternd. Dort heißt es: „Der Entwurf löst keinen Erfüllungsaufwand aus.““ (Sueddeutsche.de)

„Der Entwurf löst keinen Erfüllungsaufwand aus“: so könnte das Gesamtmotto der Berliner Regierung lauten. Wie ihr himmlischer Herr viel verheißen und nichts erfüllt hat, so seine frommen Schafe. Lasst uns in stummer Hektik weitermachen, damit wir nicht aufwachen und wahrnehmen müssen, was wir tun.

Und schließlich: gab es da neulich keinen Aufruf, mit vereinten Kräften gegen wachsende Judenfeindschaft vorzugehen? Der VVN ist eine Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Sollte man gemeinnützige Vereine nicht unterstützen, anstatt sie zu schwächen?

„Die Entscheidung der Berliner Finanzverwaltung, einem antifaschistischen Verein die Gemeinnützigkeit abzuerkennen, ist auf viel Kritik gestoßen. Der Beschluss betrifft die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes.“

Noch geistesabwesender ist die Reaktion des Finanzministers Scholz auf heftige Kritik aus der Öffentlichkeit:

„Unterdessen wies das Bundesfinanzministerium Kritik an der geplanten Neuregelungen zur Gemeinnützigkeit von Vereinen zurück. Zielrichtung sei nicht eine „Bestrafung“, sondern der Schutz von Vereinen, die sich auch politisch engagierten, sagte ein Sprecher.“ (SPIEGEL.de)

Hat seit Bekanntwerden der drohenden Apokalypse sich irgendetwas am Verhalten der Gesellschaft geändert? Zum Vorteil verändert? Ach wo: Reisen nehmen zu, Konsum nimmt zu, SUVs nehmen zu, alles, was kaputt macht, nimmt exponentiell zu. Wie der Herr, so‘s Gscherr, wie die Kanzlerin, so ihr ergebenes Volk. Der Herr hat‘s gegeben, der Herr hat‘s genommen: der Name des Herrn sei gepriesen.

Jede Apokalypse hat zwei konträre Ausgänge und zwei dazugehörige konträre Gemütsstimmungen. Gehören wir zu den Erwählten, ist alle Hektik überflüssig. Der gütige Herr des Schicksals wird uns nicht im Stich lassen. Gehören wir jedoch zu den Verdammten, wäre jeder Rettungsversuch ein blasphemischer Akt. Da die Deutschen schon einmal an ein paradiesisches Endreich glaubten und von der neidischen Welt schwer dafür bestraft wurden, ergeben sie sich diesmal demütig in ihr Schicksal. Et kütt wie et kütt. Et hät noch immer jot jejange.

Kein Grund zur Panik, wir schaffen es. Im Zweifelsfall machen wir‘s wie russische Kühe:

„Forscher wollen Milchkühen vorgaukeln, sie stünden auf einer grünen Weide statt in einem russischen Stall. Virtual-Reality-Brillen (VR) sollen Kühen in Russland weismachen, sie grasten selbst im Winter auf einer sattgrünen Wiese. Erste Tests zeigten bereits Erfolge. Die Kühe spürten weniger Angst, und die Herde sei insgesamt friedlicher.“ (SPIEGEL.de)

Was Illusionsbrillen für Kühe, ist der illusionäre Totstellreflex für Deutsche. Wer mitten im Leben sich dem Tod ergibt – und sich noch immer für quicklebendig hält –, der muss nichts mehr verändern.

 

Fortsetzung folgt.