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Von vorne XCI

Von vorne XCI,

Politik ist die Meisterin der Realität, Romantik das Gegenteil: die Deutschen sind Romantiker.

Romantik ist Verwandlung der Realität ins Mögliche, der Vernunft ins Unbegreifliche und Dunkle, des Einfachen ins Hyperkomplexe und Phantastische.

Die Epoche der Romantik war das Ende der Aufklärung.

Die gegenwärtige Epoche ist die Wiederauferstehung der Romantik im Vernichtungskampf gegen die letzten Reste der Aufklärung.

Rationale Politik ist Verwandlung schlechter in gute Realität.

Romantische Politik ist die Kapitulation vor der schlechten durch Flucht in eine phantastische Wirklichkeit, die es dem Flüchtenden ermöglicht, die schlechte als unwirkliche zu ertragen.

Der Flüchtende betrachtet die schlechte Wirklichkeit aus der Perspektive einer phantastischen Überwelt, fühlt sich nicht mehr als Bewohner der Wirklichkeit, sondern als Geretteter im Reich einer zauberhaften Überwelt.

Die Überwelt nennt der Romantiker Natur. Doch sie ist nicht Natur, sie ist Ausblick in eine wunderbare Übernatur – oder ins Jenseits.

Romantiker sind Gläubige, die nach der religionskritischen Aufklärung in den Schoß der Offenbarungsreligion zurückgekehrten.

Ihre Übernatur durchdringt das erlösungsbedürftige Diesseits in jener geheimnisvollen Weise, in der der Christ bereits auf Erden mit dem Geist Gottes verbunden sein kann.

Es ist wie beim Abendmahl: der Ungläubige isst und trinkt nur irdisches Brot und irdischen Wein, während der Gläubige in, mit und unter ordinärem Brot und

Wein den überirdischen Leib und das Blut des Herrn zu sich nimmt – um ein neues Wesen zu werden.

Dasselbe ist nicht das Gleiche. Dem einen ist Realität nur schnöde Natur, dem anderen die Speise übernatürlicher Vollendung.

Die postmoderne Ansicht, jeder Mensch habe seine eigene Wirklichkeit, eine gemeinsam-objektive gebe es nicht, hat zwei historische Wurzeln:

A) Sophistische Wanderlehrer in der Antike dementierten bereits die Möglichkeit einer objektiven Wahrheitsfindung. Der Mensch ist das Maß aller Dinge: der Satz des Protagoras gilt als Urmanifest des Subjektivismus.

Hauptgegner des Subjektivismus war Sokrates, der von einer objektiven Wahrheitsfindung überzeugt war, die sich bei Meinungsverschiedenheiten in mäeutischen Dialogen verwirklichen ließ.

Wenn Philosophen streiten, ist das stets auch das Zeichen gesellschaftlicher Zerrissenheit. Die athenische Polis gründete auf der Voraussetzung einer – durch Debattieren herzustellenden – generellen Objektivität, ohne die eine Demokratie unmöglich war.

Leibniz hätte nie eine Demokratie entwerfen können. Seine Menschen, rundum abgeschlossene geistige Atome (Monaden), waren unfähig, miteinander Kontakt aufzunehmen. Warum kam es trotzdem nicht zur heillosen Anarchie? Weil die Monaden durch die unsichtbare Hand Gottes (die Adam Smith später benutzen würde, um die egoistischen Eigeninteressen der Individuen zu harmonisieren) gesteuert wurden.

In Zeiten des Sokrates und der Sophisten erlebte die athenische Demokratie bestimmte Grundsatzkrisen: die Starken und Reichen lehnten die Schwachen als gierigen und neidischen Pöbel ab, die Schwachen empfanden ihre Armut als Ungerechtigkeit, die durch demokratische Politik korrigiert werden sollte.

Kein Zufall, dass Schulen der Skeptiker führend wurden, als die Polis am Boden lag. Der Mensch verlor seine ursprüngliche Einheit aus Vernunft, Gefühl und Wille. Was seine Einsicht vermittelte, wurde durch seine Gefühle nicht mehr bestätigt und konnte sein Wille nicht mehr in die Tat umsetzen. Der Mensch wurde zu einem Wesen in seiner Zerrissenheit und seinem Widerspruch.

B) Der antike Subjektivismus wurde im Abendland durch die religiöse Spaltung in Erwählte und Verdammte vollends unüberwindbar. Die Gottlosen konnten die Gläubigen mit Vernunft nicht mehr überzeugen, die Gläubigen konnten die Heiden nur mit Gottes Hilfe zum Glauben bringen. Die gemeinsame Vernunft der Menschen war zerstört.

Die europäischen Aufklärungen kehrten zurück zur Objektivität der griechischen Rationalisten. Ihre Gegner dementierten die Möglichkeit einer universellen Vernunft und regredierten zur subjektiven Erleuchtung durch Gott. Die abendländische Menschheit war in zwei Teile gespalten, die nichts mehr miteinander gemein hatten.

Eben dies geschah in der Pendelbewegung von der Aufklärung in die Romantik. Und geschieht heute wieder durch Abkehr von der optimistischen Vernunftzeit der UN-Nachkriegsordnung, zurück in egoistisch-subjektive Nationalismen und Totalitarismen.

Totalitäre Systeme sind Mischsysteme aus objektiver Unfehlbarkeit und subjektiver Erleuchtung. Wer nicht zum Proletariat oder zur unfehlbaren Partei gehört, bei dem ist Hopfen und Malz verloren. Hier hilft nur noch Gewalt, rationale Verständigung ist ausgeschlossen. Weder sind Ausbeuter von der Idee einer klassenlosen Gesellschaft, noch sind neiderfüllte Versager von der Notwendigkeit ungleicher Verdiensteliten zu überzeugen.

Rechte und linke Gesellschaftsideologien sind noch immer Erben einer Aufspaltung der Gesellschaft in Gute und Böse, Erwählte und Verdammte.

Das postmoderne Feuilleton ist erfüllt von der Aversion gegen die Spaltung der Gesellschaft in Weiß und Schwarz, in Gut und Böse, weshalb sie gegen Debatten wüten, in denen man recht oder unrecht haben kann.

Doch Recht und Unrecht, Wahr und Falsch sind Alternativen der Ratio, die kein Böses und Gutes kennen. Wer sich irrt, hat aus biografisch nachvollziehbaren Gründen geirrt. Vom Teufel ist er so wenig besessen, wie sein Gegner die Wahrheit durch Gottes Stimme erfahren hat.

Wer es ablehnt, einen Andersdenkenden zu verstehen, steht noch immer in der Tradition des Inquisitoren, der seine intellektuellen Gegner in der Gewalt des Teufels sieht. Das Teuflische ist nie zu verstehen, in ihm ist nichts menschlich Nachvollziehbares mehr vorhanden. Es muss vernichtet werden.

Die Abneigung gegen das theologische Schwarz und Weiß, fälschlich gleichgestellt mit dem Richtigen und Falschen, ist grundsätzliche Abkehr von aller rationalen Wertung in Wahr und Unwahr. In diesem irrationalen Nebel ist nichts per se richtig oder unrichtig. Alles hat Vorteile und Nachteile, die „man gegeneinander abwägen muss“ – ohne zu einem klaren objektiven Ergebnis zu gelangen. Postmoderner Subjektivismus mündet in ein Laisser-faire dessen, was ohnehin geschieht. Gegen objektive Faktizität des Geschehenden ist kein Kraut gewachsen.

Postmoderne Leugnung objektiver Wahrheit mündet in unerschütterliche Akzeptanz des Faktischen. Was geschieht, geschieht in unkorrigierbarer Gewalt der herrschenden Mächte – die sich durch keinerlei Kritik berühren oder überzeugen lassen.

„Es passt einfach nicht in das Narrativ der Ungleichheits-Dämonisierer. Das ist keine Ausnahme, wenn es um die unterschiedliche Wahrnehmung von Untersuchungen geht.“ (WELT.de)

Gegner des Neoliberalismus, so Ulf Poschardt, sind durch kein rationales Argument zu überzeugen. Sie dämonisieren die Ungleichheit. Wär‘s anders, würden sie die wirtschaftsfördernde Rolle der Ungleichheit erkennen.

Was ist, was sich durchsetzt, ist richtig: das ist das Credo der Postmoderne, die nichts von argumentativer Objektivität, alles aber von faktischer Objektivität hält. Das Motto der Medien, zu schreiben, was ist, klingt demütiger, als es denkt. Untergründig denkt es: was ist, hätte sich nicht durchsetzen können, wenn es faktisch nicht überlegen gewesen wäre. Wer Macht bewiesen, sich einen Platz an der Sonne erkämpft hat, der hat seine Wahrheit bewiesen.

Positivismus nennt man die Lehre, dass Wahrheit sich nur durch faktisches oder positivistisches Durchsetzen erweisen kann. Theoretisches Gewäsch kann man sich sparen. Positivisten appellieren nicht an die Wahrheits- und Moralfähigkeit des Menschen, sondern an messbare und empirisch nachweisbare Fakten. Das autonome Denken des Menschen ist abgeschafft. Der postmodernen Leugnung theoretischer Wahrheit entspricht komplementär die unleugbare Wahrheit quantitativer Fakten.

Wovon man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen. Der Satz Wittgensteins ist unscharf. Er müsste lauten: worüber man nur reden – also schwatzen kann, da sollte man die Klappe halten. Unklare Sprachen verführen nur zu unklaren Ergebnissen, die man hinterher zu unwiderlegbaren Wahrheiten aufbauschen muss.

Kabarettist Dieter Nuhr hat mit der „Verarschung“ der Klimaaktivistin Greta Thunberg eine kontroverse Debatte eröffnet.

„Es gibt in China für uns unzumutbare Einschränkungen von Freiheit, aber es gibt auch ungeheure Errungenschaften. Die Verhältnisse lassen sich nicht einfach mit den Begriffen „gut“ oder „schlecht“ beurteilen. Aber wenn Dinge viele Seiten haben, ist man bei uns gerne überfordert. Wir werden im Ausland, nicht nur in China, als Romantiker betrachtet. Wenn man viel reist, lernt man, dass das stimmt. Und man lernt, dass einfache und selbstsicher gefällte Urteile meistens falsch sind. In Deutschland glaubt man immer noch, dass jeder Einzelne die Welt retten muss. Aber die Welt will gar nicht von uns gerettet werden. Ich konfrontiere Anspruch und Wirklichkeit. Ich widersetze mich dem Zeitgeist. Ich lasse Moral und Wirklichkeit aufeinanderprallen. In Deutschland gab es schon immer zahlreiche Menschen, die keine Haltung, sondern einen Gerichtshof im Kopf haben. Oder noch schlimmer: Sie urteilen nicht, sondern gehen gleich über zur Exekution.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Im Ausland gelten Deutsche als Romantiker, da sie die Wirklichkeit mit gut und schlecht bewerten würden. Genau das taten aber die Romantiker nicht. Sie verhöhnten das strenge Moralisieren der Aufklärer, die sich anmaßten, mit ihrem jämmerlichen Verstand direkt ins Herz des Guten und Bösen zu blicken.

In Deutschland wolle jeder Einzelne die Welt retten, obgleich die Welt es gar nicht will. In der Tat, an der Basis gibt es viele Engagierte, die andern Menschen helfen und so die Welt ein wenig verbessern wollen. Ausländer sehen das besser als Einheimische:

„Da viele Deutsche sehr selbstkritisch auf ihr Land blicken, halten sie ihre Landsleute oft für intolerant. Aber ich finde, das stimmt nicht. Denn das Prinzip der Toleranz ist tief verwurzelt in der deutschen Gesellschaft. Es gehört zu Euren Werten. Und es geht einher mit einer bemerkenswerten Hilfsbereitschaft. Heute möchte ich Euch Deutschen dafür einen großen Blumenstrauß überreichen.“ (SPIEGEL.de)

Gutes wird von bad-news-süchtigen Medien selten berichtet: sooo laaangweilig.

Deutsche Eliten in Wirtschaft und Politik hingegen denken nicht daran, die Welt zu retten. Helmut Schmidt beispielsweise, Fan Poppers, der utopisches Denken ablehnte, wollte jeden zum Doktor schicken, der utopische Visionen hatte.

Deutsche Moralhasser können nicht erkennen, dass in ihren Führungsschichten keine Moral herrscht, sondern das Lob des coolen Machiavelli. Regelmäßig verhöhnen sie die Spießermoral des Pöbels, die sie zur Eigenschaft der Nation aufbauschen – ohne zu sehen, dass die Machthaber das Gegenteil vertreten. Es macht sich doch so gut, „romantische“ Moralschwärmereien an die Wand zu klatschen.

In Wahrheit ist der viertmächtigste Staat der Welt eine erstaunlich kalte Bestie – trotz eines besseren sozialen Netzes. Gerade, weil nominell manches besser ist, ist der demütigende und abfällige Ton staatlicher Behörden und führender Eliten umso auffälliger.

Obwohl „wir“ viel Geld ausgeben für die Faulen und Bequemen, klagen die Loser immer lauter und unverschämter. Anstatt den großzügigen Spendern die Füße zu küssen, die die „immensen und ständig steigenden Kosten erarbeiten“ mussten, haben sie nichts Besseres zu tun, als ihren Wohltätern lästig zu werden.

In einem christlichen Staat sind soziale Ausgaben nur Almosen, kein verbrieftes Recht auf Würde und Gerechtigkeit. Wenn Poschardt das hohe Lied auf Ungleichheit singt, vergisst er, dass schreiende Ungleichheiten die rechtliche Gleichheit zunichte machen. Normen und Fakten könnten nicht weiter auseinanderklaffen.

Warum ermahnen sich Politiker, die Gesellschaft nun endlich „mitzunehmen“, den Menschen zuzuhören, ihre Meinung ernst zu nehmen, wenn die Wirklichkeit nicht total anders wäre? Über das Volk weiß man höhern Ort nichts. Wirtschaftseliten sind in Arroganz nicht zu übertreffen. Dass Artikel 1 des Grundgesetzes immer weniger mit der Realität der kapitalistischen Gesellschaft zu vereinbaren ist, entlarvt die Ignoranz der Oberen, was die Würde eines Hartz4-Kindes, einer depressiven alleinstehenden Mutter betrifft.

Gerade Kinder werden immer mehr zur Beute eines Staates, der einerseits ihre Zukunft auf Erden gefährdet, andererseits sie immer selbstherrlicher zu Nachwuchsmarionetten seiner Wirtschaft abrichtet. Kinder werden in ihrer freien Entwicklung zunehmend eingeschränkt. Sie werden an Normen gemessen, die dem Wettbewerb der Völker dienen, aber nicht dem Wohl der Heranwachsenden.

Mütter, die die autonome Entfaltung ihrer Kinder unterstützen, indem sie „zu Hause“ bleiben und sich der kapitalistischen Unterwerfung entziehen, werden als Heimchen am Herd diffamiert. Wer ihr Anliegen unterstützt, gilt als rechts. Als ob die AfD Interesse an selbstbewussten Müttern und Kindern hätte. Rechte Parteien wollen lediglich zurück zur alten Familie, in der Patriarchen das Sagen hatten.

Würden die ach so progressiven Parteien wirklich gleichberechtigte Mütter und Kinder haben wollen, müssten sie den Skandal beenden, dass Kindererziehen, im Vergleich mit abhängiger Arbeit, nichts wert ist.

In der Tat, Mütter dürfen nicht abhängig sein von den Finanzen unzuverlässiger Väter, die ihr Einkommen als Erpressung benutzen, um ihre Forderungen durchzusetzen.

Entweder müssten Mütter a) für ihre Kinderarbeit so entlohnt werden, dass sie im Zweifelsfall alleine leben können oder b) das Gehalt der Männer müsste ihnen zu 50 % gehören oder c) ein allgemeines BGE müsste eingeführt werden, das alle Menschen von unwürdigen Jobs unabhängig macht.

Der Staat hasst seine Kinder, auf die er als zukünftige Arbeitsplatzbesitzer angewiesen ist. Aus obrigkeitlichem Misstrauen unterwirft er sie immer früher seinen Normen.

In allen Debatten um Kita und Schule spielt der Wille der Kinder keine Rolle. Die gesamte Zeit kindlichen Heranwachsens wird durch eine Diktatur willkürlicher Bewertungen verwüstet. Dann wundern sich die Autoritäten, dass Kinder immer unglücklicher werden:

„18 Prozent der Kinder und jeder fünfte Jugendliche (19 Prozent) in Deutschland leiden unter deutlich hohem Stress. Noch schlimmer: Fast zwei Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland haben nach einer Studie der DAK-Krankenkasse eine diagnostizierte Depression. Eine Folge von zu viel Druck auf den Nachwuchs.“ (Berliner-Zeitung.de)

Glauben die Mächtigen wirklich, dass Kinder das Debakel ihrer Politik, die Ängste ihrer Eltern nicht mitkriegen? Kinder seien zu dick, könnten nicht mehr schwimmen, bewegten sich zu wenig, klebten an ihren Handys: was sind denn die Ursachen der wachsenden Isolierung, der mangelnden Bewegung und der steigenden Abhängigkeit von Maschinen?

Sind es nicht kinderfeindliche Städte, autobeherrschte Straßen, die zunehmende Isolierung ihrer Familien, der Zwang, sich frühzeitig zu lösen und sich dem technischen Fortschritt zu ergeben – wie Eltern es ihren Kindern vormachen?

Der Kapitalismus hat die Großfamilien zerstört, in denen die Kinder bei vielen aufgehoben waren. Die Kleinfamilie ist Pein für Kinder und Eltern. Remo Largo „kritisiert das Modell der klassischen Kleinfamilie, das häufig eine Überforderung für die Eltern darstelle.“ (ZEIT.de)

Kinder sollen an all ihren Defiziten selber schuldig sein. So, wie die Schwächsten an ihrem sozialen Elend selber schuld sein und durch staatliche Demütigungen bestraft werden müssten. Das Grundgesetz des Kapitalismus ist so alt wie er selbst: Erfolgreiche haben ihren Erfolg zu Recht verdient, Verlierer sind an ihrem Elend selber schuld.

Dieter Nuhr beschwert sich, die Deutschen hätten keine Haltung, sondern einen Gerichtshof im Kopf. Wer hier nicht weint, weint nimmermehr. Dann muss Kant auch keine Haltung gehabt haben, als er in allen moralischen Dingen an den inneren Gerichtshof des aufgeklärten Menschen appellierte.

Der mündige Mensch hat sich ein Urteil zu bilden über alle Dinge der Welt. Wie soll das anders gehen als durch moralisches Urteilen? Freie Urteilsfähigkeit war der Kern des aufgeklärten Verstandes.

Dabei lässt Nuhr selbst „Moral und Wirklichkeit“ aufeinanderprallen. Auch er urteilt, indem er die Wirklichkeit vor seinen inneren Gerichtshof lädt.

In Wirklichkeit urteilt er als Mitläufer des Zeitgeistes: alles habe seine Vor- und Hinterseite, alles seine Berechtigung, Vorteile gebe es nicht ohne Nachteile. Wer Fortschritt will, muss in den sauren Apfel beißen.

Nuhrs „differenziertes“ Fazit: anything goes, alles ist erlaubt, grünes Dauerlicht für den Fortschritt, der uns atemberaubende Visionen ermöglicht. Tja, die vollständige Überwachung des chinesischen Volkes ist bedauerlich, aber seien wir ehrlich: ohne sie hätte es den unerhörten Run der Chinesen an die Weltspitze nie gegeben. Nuhr ist ein treuer Paladin der Kanzlerin, die zu allem Unrecht in der Welt aus ökonomischer Staatsraison schweigt. Wo gehobelt wird

Das ist die Selbstentleibung des mündigen Menschen. Der endgültige Abgesang an die letzten vagen Erinnerungen an einen Königsberger Selbstdenker, Fürsprecher der Mündigkeit des Einzelnen und Befreiers von Autoritäten, die für uns denken und entscheiden wollen.

Nuhr ist Kabarettist. Er wollte die Ikone der Klimademonstranten entmystifizieren. Doch wer hat sie zur Ikone erhoben? Sie selbst? Nicht die Medien, die nichts lieber tun als in den Himmel zu heben und in die Hölle fahren zu lassen? Gretas einsame Demonstration in Schweden war eine wunderbar mutige Tat. Nie hätte sie an einen solchen Erfolg denken können. Den Rest besorgten die reißenden Schlagzeilen der Medien.

Nuhr will Worte mit Wirklichkeit konfrontieren. Das ist sinnvoll. Welche Erfolge aber sollte Greta in der kurzen Zeit ihrer Revolte vorweisen? Sollte sie die Welt bereits erlöst haben? Nuhr weiß nicht, dass die Richtigkeit einer selbstbestimmten Moral unabhängig ist von jedem Erfolg.

Wär‘s anders, müssten wir Sokrates als Schwätzer vom Dienst in der Versenkung verschwinden lassen. Erfolg ist kein Kriterium des kategorischen Imperativs und kein Kriterium der Wahrheit. Wer den Mars erobert, ist nicht Inbegriff des Humanen. Eher im Gegenteil, sein Erfolg wurde auf dem Rücken vieler Leidtragender durchgepeitscht.

Hat irgendjemand gelacht, als Nuhr sein Späßchen über Greta machte? Ironisches Lachen ist ein Akt der Erkenntnis. Eines Vergleichs zwischen verdächtigem Pathos und einer jämmerlichen Wirklichkeit. Welcher Heuchelei sollte Greta überführt werden?

Ist es nicht so, dass das deutsche Kabarett immer mehr an Glaubwürdigkeit verliert? Weil maue Späßchen nicht mehr in der Lage sind, die absurde Wirklichkeit auch nur annähernd widerzuspiegeln und zu konfrontieren mit politischen Parolen?

Verhält es sich so nicht mit der gesamten politischen Kunst, die ihr Publikum mit begrenzten Methoden aufrütteln will, derweil die Wirklichkeit täglich unfassbar monströs wird?

Nuhr will ironisch sein. Sokratische Ironie kann er nicht meinen. Denn die ist Bestandteil eines Dialogs, der auf ein Aha-Erlebnis, auf Wahrheitsfindung und moralische Empathie zielt. Gerade dies will Nuhr vermeiden: er trällert fröhlich das Loblied auf den endlosen Fortschritt.

Schlegel war der große Theoretiker der romantischen Ironie. Diese Ironie ging davon aus, dass keine Mitteilung wirklich imstande sei, sich vollständig verständlich zu machen. Denn dann wäre das Geheimnis verschwunden. „Der Mensch hat unendlichen Sinn für andere Menschen, eben deshalb werden sie ihm immer unverständlich bleiben, weil er mit dem Verständnis nie zu Ende kommen kann. Ironie ist: verständlich Sätze zu produzieren, die ins Unverständliche hinüberspielen, wenn man sie genauer anschaut. Ironie ist klares Bewusstsein der ewigen Agilität, des unendlich vollen Chaos.“ (Rüdiger Safranski. Romantik)

Ironie ist Abkehr von der „Objektivitätswut“ der Aufklärung und will nichts als freie unendliche Subjektivität, die aus den Dingen der Welt machen kann, was sie will. Sie ist „Allmacht des Subjekts“, die Kompetenz des Ichs zum „steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung in der Form des Irrationellen und Inkommensurablen.“ (Rudolf Haym, Die Romantische Schule)

Selbstschöpfung und -vernichtung sind Eigenschaften des allmächtigen Gottes. Romantische Ironie will die Wirklichkeit nicht humanisieren, sondern ihre Lächerlichkeit durch phantastische Zauberkunst unter sich verrotten lassen.

Philosophische Grundlage der romantischen Ironie war Fichtes „trotzig männliche Gesinnung, aus der heraus er erklärte, dass er „der Dinge nicht bedürfe und sie nicht brauche, weil sie seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit von allem, was außer ihm ist, aufheben und in leeren Schein verwandeln würde.“ (zit. bei Haym)

Fichte war der gottähnlichste unter den deutschen Denkern, dessen Ich sich aller Welt überlegen fand, weil es alles nach Belieben aus dem Nichts schaffen und wieder vernichten konnte. Aus Fichtes Philosophie schlussfolgerten die Romantiker ihre zynische Ironie, die die Welt nicht mehr ernst nahm. Die Welt konnten sie schaffen und vernichten, wie es ihnen ihr unvergleichliches Genie eingab. 

„Ironie ist die Form des Paradoxen, der Schwung unsterblicher Wonne, die den Menschen von der Erde wegreißt und unter die Götter versetzt. Das war die neue Dichtungsart, die Schlegel das Entzückende nannnte.“ (Ricarda Huch, Die Romantik)

Überlassen wir Hegel das letzte Wort:

„Ironie soll darin bestehen, dass alles, was sich als schön, edel, anlässt, hintennach sich zerstöre und aufs Gegenteil ausgehe. Es ist ihr Ernst mit nichts, es ist Spiel mit alle Formen.“

Dieter Nuhr will der bessere Moralist sein, indem er alles Moralische hinter sich zertrümmert, die Gottähnlichkeit des Fortschritts bewundert und vor dem rücksichtslosen Erfolg des Menschen über alles, was da kreucht und fleucht, kritiklos auf dem Bauche liegt.

In den Händen der Romantiker wurde die denkanregende Ironie des Sokrates zur religiösen Vernichtung der Vernunft.

 

Fortsetzung folgt.