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Von vorne LXXXIX

Von vorne LXXXIX,

in Deutschland gibt es keine sinnvollen Debatten. Schon gar nicht über Antisemitismus. Debatten, die lange genug andauern und so intensiv geführt werden, bis die wichtigsten Aspekte des Problems auf dem Tisch liegen. Ideal wäre, wenn die streitenden Parteien bekennen würden, die Andersdenkenden verstanden, ja, sich einander angenähert zu haben.

Verstehen ist nicht billigen, aber die Voraussetzung, den anderen nicht zu hassen, sondern zu begreifen, warum er ist, wie er ist. Ohne Begreifen keine Annäherung der Standpunkte, ohne Verständigung keine lebenswerte Polis.

Ein demokratischer Dialog ist kein Streit um des Streites willen, sondern ein Hilfsmittel des Tieres, das sprechen kann, um Differenzen in der Gemeinschaft zu klären, Spaltungen zu verhindern und das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu verstärken.

Erste Gemeinschaft aller Geborenen ist die Kleinfamilie, die sich zur Großfamilie oder Sippe ausweitet, allmählich in eine Polis mündet – die sich zur Kosmo-Polis ausdehnen kann, wenn die Menschheit nicht feindlich, sondern als globale Sippe empfunden werden kann.

Ob die Ethik der Sippe (jeder ist für jeden da) zur Ethik der Polis werden kann, ist das Problem der Demokratie, die nur zustande kommt, wenn sich keine Oberschichten oder Despoten anmaßen, das Kümmern auf gleicher Augenhöhe durch einseitige Herrschaft zu ersetzen.

Als vor Jahrzehnten das Gefühl der Völker aufkam, zu einem Weltdorf zusammenzuwachsen, schien zum ersten Mal in der Geschichte die Verwirklichung einer Kosmopolis möglich. Kaum aber sah man die Umrisse dieser bislang für

unmöglich gehaltenen Utopie, begann schon die Rückwärtsbewegung in nationale Egoismen.

Die Völker überfiel eine unerwartete Angst, für diesen Menschheitstraum nicht reif zu sein. An Hass und Zerwürfnis hatte man sich jahrtausendelang gewöhnt, auf das Gefühl des gewohnten Haders wollte man nicht verzichten.

Utopie erzeugt Lustangst. Lieber Bekanntes in regelmäßig aufflackernder Feindschaft als befremdliche Erfahrungen einer ungewohnten Nähe.

Erleichterung in Deutschland, wo man schon immer das Völkische, Nationale oder Partikulare dem Weltoffenen vorzog. Noch immer wird Fukuyamas Vision eines demokratischen Globus als lächerliches Hirngespinst eingestampft.

Hauptargument von Arnold Gehlen bis Peter Sloterdijk: die Ethik der Sippe wird durch kosmopolitische Träume überfordert, überdehnt. Die Überdehnung könnte zur Regression in eine Feindschaft führen, die noch schlimmere Folgen haben könnte, als die bekannte Mischung aus Offenheit und Ablehnung.

Die Kritiker der Überdehnung übersehen die längst vorhandene Vernetzung von allen mit allen. Eine Chance des Überlebens gib es nur in Gemeinsamkeit aller Völker. Entweder werden alle überleben – oder niemand.

Die momentane Mischung der internationalen Politik könnte man so beschreiben: soviel ökonomie-fördernde Weltoffenheit wie möglich, so viel nationaler Schutz wie fremden-allergisch nötig.

Allmächtiger Wettbewerb erzeugt ambivalente Gefühle. Fühlt man sich anderen überlegen, heißt man Wettbewerb willkommen, kommen Versagensängste auf, zieht man Mauern um die „Heimat“.

Es ist irreführende Ökonomie-Propaganda, dass weltweiter Handel automatisch zu Frieden führen würde. Frieden stellt sich nur ein, wenn der Austausch der Völker fair und gerecht ist. Begriffe wie Gerechtigkeit und Fairness sind von den Eliten in den Orkus verdammt worden.

Für Hayek ist der Begriff „soziale Gerechtigkeit“ so unsinnig wie „ein moralischer Stein“. Steine gehören zum Reich des „Ist“, dem kein „Sollen“ entlockt werden kann. Hayek reduziert menschengemachte Artefakte zu Naturfakten, die mit Menschen nichts zu tun haben, von ihnen auch nicht moralisch beeinflusst werden können.

Für den Marxismus gehört Gerechtigkeit – wie alle Formen von Moral – zu den trügerischen Werten des Kapitalismus. Erst im Reich der Freiheit könne es echte Werte geben, wenn die gesamte Gesellschaft vollkommen wurde.

Solange Demokratien kapitalistisch sind, ist jedes Gerede über Gerechtigkeit illusionär. Marxens Gesellschaftstheorie ist augustinisch: solange die civitas diaboli (der Kapitalismus) herrscht, ist der kleinste Versuch sinnlos, das Reich des Teufels in ein Reich Gottes zu verwandeln. Erst wenn alles vollkommen ist, gelten Menschen- und Völkerrechte. Dass diese keine Luxusartikel sind, sondern die Kraft besitzen, das Unvollkommene zu humanisieren, wollten Marx & Engels nicht sehen. Das Werk der Vollendung trauten sie nur der Geschichte zu.

Heute stehen nationale Egoismen wieder im Widerspruch zu einem globalen – ja was: Altruismus? Durch Verfälschung dieser Begriffe in überweltliche Seligkeitserwerbsmethoden weiß niemand mehr, was Egoismus und Altruismus bedeuten.

Vernünftiger Egoismus der Aufklärung war wohlverstandener Ausgleich zwischen Eigen- und Fremdinteressen. Ein vernünftig-egoistischer Tausch wäre der Austausch gleich-wertiger Güter. Niemand könnte sich bereichern auf Kosten seines Tauschpartners. Was aber, wenn man zu einem Altruismus verpflichtet wäre, der die Interessen des anderen auf Kosten der eigenen befördert?

Rationaler Egoismus liegt der Goldenen Regel aller Völker zugrunde: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Das ist auch die bekannte Formel der christlichen Nächstenliebe: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

Doch der Bergprediger begnügte sich nicht mit der Übernahme heidnischer Regeln. Die Heiden müssen übertroffen, die Anforderungen so hochgetrieben werden, dass niemand sie mehr erfüllen kann. Kleriker verkaufen ihren selbstlosen Altruismus als Spitzenprodukt der Weltethik. Nur: selbstlos ist diese Selbstlosigkeit nicht, sie ist erbarmungsloser Heilsegoismus. Das Schicksal der Massen der Verdammten kümmert ihn nicht. Die Ethik des Himmels muss alle Menschen zu Sündenkrüppeln verurteilen:

„Es ist keiner gerecht, auch nicht einer, alle sind abgewichen, sie sind alle zusammen unnütz geworden.“
„Tun nicht auch die Heiden dasselbe? Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“

Der Zweck der jesuanischen Ethik ist keine Problemlösung auf Erden, sondern Erweis der moralischen Unfähigkeit aller Menschen, die nur durch himmlische Gnade erlöst werden können.

„Denn durch das Gesetz kommt nur die Erkenntnis der Sünde.“

Moral wird ihrer irdischen Problemlösungskraft beraubt, muss den Glauben an den integren Menschen widerlegen, um ihn zum Jenseitsglauben zu nötigen. Heidnische Tugenden wurden bei Augustin zu goldenen Lastern. Sokrates war einer der verruchtesten Verführer zum Glauben an die moralische Potenz der Heiden.

Die älteste Wurzel heutiger Amoralisten ist identisch mit der paulinisch-augustinisch-lutherischen Verdammnis moralischer Kompetenz der Heiden – und der Juden, die sich, als Werkgerechte, fähig fühlten, die Gebote Gottes zu erfüllen, um die Seligkeitsverheißungen des Himmels im Brustton der „Selbstgerechtigkeit“ als gerechtes Tauschgeschäft einzufordern.

Eigenartig, dass Selbstgerechtigkeit auch in der „säkularen Gegenwart“ vom Mainstream als Sünde wider den Zeitgeist verabscheut wird. Da Selbstgerechtigkeit bei den Urchristen als verdammenswerte Sünde des Judentums galt, der Hass auf Juden zudem die Urwurzel des Antisemitismus war, müsste der Abscheu gegenwärtiger Amoralisten ein Grundelement – des Antisemitismus sein.

Was bedeutet dies für Gazetten wie WELT & BILD, die ihre antimoralischen Ekelgefühle täglich erbrechen? Sie müssten – verborgene Organe des Antisemitismus sein, zugleich perfekte Heuchler, da sie auch die besten Philosemiten sein wollen.

Wo liegt eine Hauptwurzel des Urhasses der Christen auf die Juden? Dass die Juden es wagten, ein selbst-bewusstes (selbstgerechtes, selbstgefälliges etc.) Tauschgeschäft von Gott zu fordern: Do ut des, ich gebe, damit du gibst.

Für Werner Sombart war dieser rationale Tausch mit Gott die Grundlage der jüdischen Religion:

„Was die jüdische Religion dem Kapitalismus gar verwandt macht, ist die vertragsmäßige Regelung – ich würde sagen: die geschäftsmäßige Regelung, wenn dem Worte nicht ein hässlicher Sinn anhaftete – aller Beziehungen zwischen Jahwe und Israel. Das ganze Religionssystem ist im Grund nichts weiter als ein Vertrag zwischen Jahwe und seinem auserwählten Volke: ein Vertrag mit allen obligatorischen Konsequenzen, die ein Vertragsverhältnis mit sich bringt. Gott verspricht und gibt etwas, die Gerechten haben ihm dafür eine Gegenleistung zu bringen.“ (Die Juden und das Wirtschaftsleben)

Diese Vermessenheit, sich als nahezu gleichwertige Vertragspartner zu betrachten, die von Gott etwas fordern können, wenn sie ihre Vertragspflichten erfüllen, war in christlichen Ohren Gotteslästerung. Ihr „Vertrag“ mit Gott war eine Unterwerfung: Wir sind Nichts, Du bist Alles.

Ganz gleichberechtigt war der Vertrag nicht, denn nur Gott durfte versprechen und bestimmte Gegenleistungen erwarten Seine Kinder Israels mussten zustimmen – wenn sie nicht zur Hölle fahren wollten. Auserwählung war an Bedingungen geknüpft.

Jüdischer Stolz (oder Selbstbewusstsein, um nicht zu sagen: Arroganz) vor Gott war das Gegenteil zur späteren Demut der Christen – die gleichwohl die Arroganz der Juden damit übertrafen, dass Demut jeden Stolz überbot: die Letzten werden die Ersten sein. Christen in Demut werden den Hochmut der Juden übertreffen.

In Urzeiten war das religiöse Selbstbewusstsein der Juden so stark, dass Jakob mit dem (anonymen) Gott einen Ringkampf kämpfen konnte:

„Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und da er sah, daß er ihn nicht übermochte, rührte er das Gelenk seiner Hüfte an; und das Gelenk der Hüfte Jakobs ward über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber er antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist obgelegen. Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst.“

Jakob, ein Mensch, hat Gott bezwungen. Für Christen ein unerhörter Vorgang. Ab jetzt darf Jakob sich Israel nennen: der Gottesstreiter. Als Jakob den Unbekannten nach seinem Namen fragt, verweigert Gott die Antwort. Vermutlich aus Angst, er könnte noch schwächer werden, wenn man seinen Namen kennt. Eine außerordentliche Entmachtung des Gottes, der erst nach vielen von Ihm verordneten Notlagen seines Volkes in den folgenden Jahrhunderten seine Macht zurückeroberte – bis er sich vom nationalen Gott aufschwingen konnte zum alleinigen Gott der Welt.

Schon hier die Kluftbildung: je schwächer das Volk, je mächtiger Gott. Allmächtig wird Er, als sein Volk, nach endlosen Niederlagen gegen ausländische Völker, ohnmächtig am Boden lag: hier wird Er zur allmächtigen Instanz, zum Schöpfer, Erlöser, Vernichter und Neuschöpfer des Universums.

Während es den Griechen in nachhomerischen Zeiten gelang, ihre Götter zugunsten der Autonomie des Menschen zu entmachten, konnte sich Jahwe, nach einer kurzen Schwächeperiode, wieder aufrappeln und sich zur Allmacht erheben – auf Kosten der moralisch vernichteten Menschen. Anstatt sich – wie die Juden – ihrer moralischen Fähigkeiten zu rühmen, rühmten sich die Christen ihrer moralischen Unfähigkeiten. Je mehr sie sich in den Staub warfen, umso mehr durften sie sich als Begnadete Gottes fühlen.

Die Rivalität zwischen Juden und Deutschen lief auf einen Endkampf um Sein oder Nichtsein hinaus. Auch die Deutschen wollten das auserwählte Volk sein, ergo musste das ursprünglich auserwählte Volk vom Erdboden verschwinden.

Es gab Ähnlichkeiten zwischen Juden und Deutschen. Beide Völker hatten eine desolate politische Situation, beide suchten ihr Heil in einem Jenseits, die Juden im Himmel oder in paradiesischer Zukunft, die Deutschen in einem Gedankenreich der Dichter und Denker – derohalben sie von Mme de Stael verspottet wurden.

Auch die Deutschen hatten einen Gotteskämpfer wie Jakob. Er hieß Martin Luther, der seinen Gott gegen Papst, Kaiser und Adel verteidigte. Nach vielen Pogromen, Demütigungen und Verfolgungen der Juden seitens der Deutschen kam es am Ende des 19.Jahrhunderts, fast 100 Jahre nach der Emanzipation durch Napoleon, zu einer Art deutsch-jüdischer Symbiose. Es war der Neukantianer Hermann Cohen, der beweisen wollte, dass „das Eigentümliche des deutschen Geistes zutiefst mit dem Geist des Griechentums und des Judentums harmoniert.“ (Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung)

Hier zeigen sich die geheimen Sehnsüchte gelehrter Juden und Deutschen: mit den Griechen wollten sie eine beispiellose geistige Trinität bilden. Heute sind diese Einheitsträume mit den Griechen verschwunden. Die wiederkehrende Religion ächtet alles Heidnische und Vernünftige.

Viele Juden fühlten sich als Deutsche, kämpften im Ersten Weltkrieg gegen die Franzosen. Zudem waren sie Bewunderer der deutschen Kultur, kannten ihren Schiller fast auswendig. Die Freundschaft zwischen Moses Mendelssohn und Lessing und Kant, die zahlreichen jüdischen Aufklärer, die sich kraftvoll von der jüdischen Religion befreiten, war ihnen Beweis genug, dass die beiden Völker durch viele Gemeinsamkeiten verbunden waren.

Als die ersten Zionisten – zumeist aus dem Osten Europas – für Einwanderung nach Palästina trommelten, waren die meisten Deutschen eher abgeneigt. Wussten sie doch, wo sie zu Hause waren. Selbst, als die Häscher schon im ganzen Land unterwegs waren, um ihre Opfer zu sammeln und abzutransportieren, wollten es viele Juden nicht glauben – und blieben, bis es zu spät war.

Dann die entsetzliche Katastrophe. Nach dem Holocaust dementierte Gerschom Scholem: eine echte deutsch-jüdische Symbiose hat es nie gegeben. Sie war nichts als Illusion und Selbsttäuschung.

Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Nach vielen historischen Demütigungen war es den Deutschen gelungen, sich zur Weltmacht zu entwickeln. Für sie war es wie ein Rausch: ihre Selbstauszeichnung als Gottes Reich auf Erden mit missionarischer Sendung schien in Erfüllung gegangen zu sein.

Dann der Sturz in zwei Etappen: der Erste Weltkrieg, der für sie nicht mit einer Niederlage, sondern mit einem Waffenstillstand geendet hatte, wurde erst durch den Versailler Vertrag zur Demütigung.

Daraufhin die explosive Reaktion des Dritten Reichs, es der ganzen Welt erst recht zu zeigen, wo der Sohn der Vorsehung auf Erden niedergekommen war, um sein geschändetes Volk mit Glanz und Gloria, und mit ungeheuren Verbrechen, zu rehabilitieren. Aus Angst, ihr eschatologisches Werk erneut in den Sand zu setzen, mussten sie prophylaktisch ihre schärfsten Rivalen vernichten. Es konnte nur ein auserwähltes Volk geben.

Wenn es mit den Deutschen abwärts ging, suchten sie stets die Schuld bei den Juden. Unfähig zur Selbstkritik und ohne Schuldbewusstsein, mussten sie die Schuld ihres Versagens stets bei anderen suchen. Als die erste Wirtschaftsflaute im Kaiserreich eintrat, begann rein zufällig die moderne Antisemitismus-Bewegung mit dem kaiserlichen Prediger Stöcker und dem Journalisten Wilhelm Marr.

Viele Deutsche fühlten sich der intellektuellen Brillanz und der kapitalistischen Tüchtigkeit der Juden unterlegen. Diese Minderwertigkeitsgefühle vertrugen sich nicht mit den Überlegenheitsgefühlen einer singulären Nation.

Wie steht es heute? Einen deutsch-jüdischen Dialog gibt es nicht in Ansätzen. Vor einem erneuten Aufflammen des Antisemitismus wird von allen Seiten gewarnt: Gesetze sollen verschärft, Polizei und Justiz verstärkt werden. Von Aufklärung redet niemand.

Aufklärung ist Anamnese, Erinnerung der Geschichte, Durcharbeiten der religiösen Gründe des Antisemitismus. Nichts davon geschieht. Merkel schweigt, hat sie nichts zu sagen, will sie nichts sagen? Die meisten wissen nichts, in den Schulen werden vor allem Daten und Zahlen vermittelt. Die Schuld der Kirchen wird mit keinem Wort erwähnt. Heute eine kleine Ausnahme im TAGESSPIEGEL:

„1933 bedeutete nicht allein eine politische Zäsur, sondern für viele Zeitgenossen zugleich ein religiöses Erlebnis: endlich Abkehr von der Weimarer Republik, die als „Gottlosenrepublik“ wahrgenommen wurde; endlich Beginn einer verheißungsvollen Zeitenkehre mit mehr Glauben, Religion und „Volksgemeinschaft“. Von einem geschlossenen Block „christlichen Widerstands“ oder auch nur Resistenz der Katholiken gegenüber dem Nationalsozialismus kann jedoch keine Rede sein. Auch für die meisten deutschen Katholiken war ihr christlicher Glaube durchaus mit dem Nationalsozialismus vereinbar, wie die funktionierende NS-Herrschaft in rein katholischen Regionen erweist.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Antisemitismus wird heute nur noch als Kritik an Israels völkerrechtswidriger Besatzungspolitik verstanden. Selbst das Urteil des EuGH, Produkte aus besetzten Gebieten dürften nicht als „Made in Israel“ verkauft werden, wird in wütendem Ingrimm als Antisemitismus verurteilt. Die UN wird angegriffen, weil sie Israel zu Recht verurteilt. Dass sie andere Unrechtsstaaten nicht verurteilt, ist scharf zu kritisieren. Weshalb es aber auf keinen Fall falsch ist, Israel an den Pranger zu stellen. Wenn andere Staaten sündigen, wird Israel nicht unschuldig, wenn es dieselbe Sünde begeht. Dies als doppelten Standard zu diskriminieren, ist ein Schlag gegen prinzipielles Recht.

Wenn Prinzipien der UN-Menschen- und Völkerrechte eliminiert werden, sind die Grundlagen des Westens zerstört. Trumps Vernichtungsfeldzug gegen die Demokratie hat sich durchgesetzt.

Blindwütiges Reinwaschen Israels wird erkauft mit komplementärem Hass auf die Palästinenser.

Dass Israel schärfer angeklagt wird als andere Staaten, denen Ähnliches vorzuwerfen wäre, beweist nur, dass Israel ein befreundeter Staat ist – und bleiben muss. Freunde sind schärfer zu kritisieren als Weitentfernte, zu denen man keine Gefühle hat. Netanjahus Unfriedenspolitik im anschwellenden Sog ultraorthodoxer Rachegeister, die das ganze ursprüngliche Heilige Land für sich reklamieren, ist in Deutschland zum Credo der Regierung und der meisten Medien geworden.

Eine Schande für Deutschland, aber auch für Israel. Beide Länder haben aus dem Holocaust die Lehre gezogen: Menschenrechtsverletzungen sind erlaubt, wenn auserwählte Nationen es für notwendig erachten. Religion feiert ihren endgültigen Sieg über den Geist der Vernunft und die Würde des Menschen. Der Westen begräbt sich selbst.

An Klärungen ist niemand interessiert. Keine einzige Talkshow in den letzten Jahren über dieses „heiße Eisen“, an dem sich keiner die Finger verbrennen will. Deutschland darf sich rühmen, die bigotteste Nation des Westens zu sein.

Henryk M. Broders WELT-Artikel ist kein Beitrag zur Aufklärung. Im Gegenteil:

„Alle Versuche, Judenfeindlichkeit mit den Mitteln der Psychologie, der Soziologie, der Ökonomie und der Geschichtswissenschaft zu erklären, sind gescheitert. Der Antisemitismus ist ein Weltkulturerbe.“ (WELT.de)

Dass Broder die Deutschen verhöhnt und jeden Versuch, die Ursachen des Antisemitismus zu ergründen, mit ätzendem Zynismus überschüttet, ist sein gutes Recht. Ein Beitrag zum deutsch-jüdischen Dialog ist es nicht.

WELT-Herausgeber Döpfner bekennt:

„Ich wünschte, wir hätten gelernt. Ich wünschte, ich könnte sagen, die Menschlichkeit habe gesiegt. Es tut mir leid, ich kann es nicht. Bis dahin müssen wir unseren Weg gehen, es ist der Weg der universalen Werte: Freiheit, Rechtsstaat, Menschenrechte. Der Einsatz gegen den Antisemitismus ist ein Einsatz für die Menschenwürde.“ (WELT.de)

Universale Menschenrechte anzumahnen, ohne die Rechte der Palästinenser zu erwähnen, Menschenwürde zu fordern, ohne die Entwürdigung eines besetzten Landes zu kritisieren: dieses Pathos in Negierung seiner Substanz erfordert deutschen Mut – zur Unverfrorenheit.

Ein Verdacht genügt, die leiseste Kritik an Israel genügt, um die glühenden Zangen auszupacken: Antisemitismus. Belege überflüssig. Was nicht beweisbar ist, gilt erst recht als Beweis.

Die Hauptströmungen des deutschen Zeitgeistes triefen von Antisemitismus, dennoch bleiben sie im Verborgenen.

Die Negierung der Vergangenheit, die Flucht nach vorne – sind Antisemitismus. Sie verleugnen jene vergangene Zeit, in der die Verbrechen begangen wurden.

Die postmoderne Negierung der Wahrheit – ist Antisemitismus. Sie verleugnet die Wahrheit des Antisemitismus.

Die Historisierung der Geschichte ist – Antisemitismus. Sie leugnet die zeitlich-universelle Gültigkeit der Menschenrechte.

Unbedingte Loyalität zu Israel – ist Antisemitismus. Sie beruht auf der Nichtbeachtung aller Völkerrechte.

Die immer heftigere Kritik an der UN, weil sie Israel kritisiert – ist Antisemitismus. Die UN hat viele Mängel. Viele Mitgliedsstaaten hassen Israel, etliche wollen das Land vernichten. Das muss kategorisch verurteilt werden. Dennoch bleibt die Kritik an jeder Rechtsverletzung in der Welt, auch in Israel, die Pflicht der UN. Wer das Völkerparlament umstandslos verurteilt, will es vernichten. Das wäre der Untergang der westlichen Welt.

In seinem bewegenden Buch „Mein gelobtes Land“ schrieb der israelische Journalist Ari Shavit:

„Im neugeborenen Land mangelte es an der Fähigkeit zur Einfühlung in andere Menschen. Der palästinensischen Minderheit wurde keine Gleichberechtigung gewährt, den palästinensischen Flüchtlingen brachte man kein Mitleid entgegen. Man empfand wenig Achtung vor der jüdischen Diaspora und wenig Empathie für die Überlebenden des Holocaust. Und bei der Geschäftemacherei mit der internationalen Gemeinschaft wird aus pragmatisch-taktischen Gründen immer wieder an die Tragödie des europäischen Judentums erinnert, man bedient sich ihrer. Doch innerhalb von Israel gibt man dem Holocaust keinen Raum. Man erwartet von den Überlebenden, dass sie ihre Geschichte für sich behalten.“

Vermutlich wird diese Selbstkritik eines Israelis von deutschen Netanjahu-Apologeten als jüdischer Selbsthass verfemt.

Was ist Antisemitismus? Den Kampf Israels um seine demokratische Integrität durch notwendige Kritik nicht zu unterstützen. Ari Shavit:

„Die Mehrheit achtete die Menschenrechte und verschrieb sich der liberalen Demokratie. In den letzten Jahren aber wächst der Druck auf den innersten Kern der israelischen Demokratie. Die Besetzung fordert ihren moralischen Tribut.“

Deutsche Moralfeinde sind unfähig, den Kampf Israels um seine moralische Integrität zu unterstützen. Wer Juden für unfähig hält, universelle Grundwerte in ihrer jungen Demokratie zu verankern, kann kein Philosemit sein.

 

Fortsetzung folgt.

Nachtrag: Heute Nacht ist der befürchtete Dammbruch eingetreten. Um der Blamage einer drohenden Amtsenthebung zu entkommen, zerschlägt Trump mit einem Faustschlag das UN-Völkerrecht. Israelfreundlich ist dieser Akt nicht. Er verurteilt das Land endgültig zu einem Unrechtsstaat. Sollte die EU den verhängnisvollen Fehler begehen, sich der amerikanisch-israelischen Demontage des internationalen Rechts anzunähern, wird das die Selbstauslöschung des demokratischen Westens. (Sueddeutsche.de)