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Von vorne LXXXVII

Von vorne LXXXVII,

„“Ich bin 22 Jahre alt und das ist mein Abschiedsbrief“, sind die ersten Worte des jungen Mannes. Der Großteil seines Gesichts ist mit einem schwarzen Tuch verhüllt; nur die Augen sind zu sehen mit ihrem müden und harten Blick unter dem ungeordneten Pony. „Ich habe Angst, dass ich sterben und euch nie wiedersehen werde“, fährt er mit zitternden Händen fort. „Aber ich habe keine Wahl, als auf die Straße zu gehen.“ Der namenlose Demonstrant, einer von vielen in Hongkong, die ihren Familien und Freunden schreiben, bevor sie sich wachsender Polizeigewalt in der Stadt entgegenstellen.“ (Freitag.de)

Das ist die Grundstimmung der Jugend, die wie Buschfeuer den Planeten in Brand setzt.

Wütende Verzweiflung ist die eine Seite der Welt. Die andere ist ihr genaues Gegenteil:

„Herr Pinker, Sie haben eine wunderbare Botschaft für alle, die Ihnen zuhören wollen: Die Welt ist ein viel besserer Ort, als wir für gewöhnlich denken. Sie unterlegen das mit reichlich Zahlenmaterial: Wir werden immer älter, wir leben gesünder, wir arbeiten weniger, wir sind wohlhabender, die Welt wird demokratischer und friedlicher.“ (NZZ.ch)

Zwischen den Unvereinbarkeiten der Generationen wüten die Empörungswellen jener Völker, die ihre eigene Wut mit dem Zorn ihrer Kinder zur beginnenden Weltrevolution vereinen. Die beste aller Welten könnte das Ende der Menschheit bedeuten.

Wie reagieren die Klügsten der Deutschen, ihre Philosophen, auf die Demonstrationen der rebellierenden Jugend?

„Der Auftritt Greta Thunbergs selbst war aggressiv und hatte etwas Fanatisches. Das war abstoßend und plump. Das Ergebnis ist politischer Kitsch: einfache

Lösungen, unterkomplexe Problembetrachtung, starke kollektive Emotionalisierung, Verklärung der Natur und eine Realitätsverweigerung, die sich als Realismus ausgibt. Kitsch will starke Gefühle erzeugen, er ist einfältig, eindimensional und vor allem massenkompatibel. Bei politischem Kitsch verhält es sich ganz ähnlich. Seine Sprache oder Symbole sind überzeichnet, emotionalisierend, pathetisch, süßlich, mitunter hysterisch und zielen auf einfache Massenkommunikation. Das ist die rhetorische Funktion von Politkitsch: emotionalisieren, Denken einstellen, Widerspruch unmöglich machen. So spinnt sich der von intellektuellem Kitsch beseelte Deutsche weiter sein trübes Weltbild zusammen, eine abstoßende Melange aus Hypersensibilität, Achtsamkeit, Nabelschau, aggressiver Friedfertigkeit, naturheilkundlichem Firlefanz, Esoterik, Betulichkeit und einer Vorliebe für fade Rührseligkeit.“ (SPIEGEL.de)

Grauenhafter und bodenloser kann ein von abwehrenden Schuldgefühlen getriebener Verriss nicht sein – der die gefährdete Lage der Welt ignoriert, die psychische Verfassung der Jugend entstellt und die demokratische Vorbildlichkeit ihres Widerstands grotesk verzerrt.

Die Summa der nachkriegsdeutschen, theologisch kontaminierten, Gesamtstimmung aus zwanghafter Zustimmung zur schrecklichen Moderne – aber ach, auch sie ist von Gott –, aus preußischer Kasernenhofmentalität, Gefühle zu verabscheuen, zumal Gefühle derer, die noch grün sind hinter den Ohren und es dennoch wagen, ihre Emotionen in die Welt zu schreien – und tief vergrabenen Ressentiments wider alles einstmals Westliche und Kapitalistische, wird wie ein Exkrementenkübel über die Jugend geschüttet.

Die vorbildlichsten und friedlichsten Demonstrationen auf deutschem Boden, im Widerstand gegen die Gefahr aller Gefahren, die Sein oder Nichtsein der Menschheit betrifft, als aggressiven Fanatismus darzustellen, zeugt vom Fehlen jedweder Empathie und von demokratischer Impotenz.

Dass Natur im Mittelpunkt der Debatte steht und kein Gott über den Wolken, ist für religiöse Abendländer unerträglich. Es soll eine Verklärung der Natur sein, wenn sie nach tausenden Jahren religiöser Verdrängung in ihrer Unersetzbarkeit rehabilitiert wird.

Dass existentielle Gefühle sich aller bürgerlichen Verhaltensvorschriften entledigen und sich den Mächtigen der Welt zumuten, wie sie sind, können gefühls-abgeschnürte Erwachsene nicht verstehen. Zumal sie alles Verstehen fremder und eigener Gefühle als Zumutung betrachten. Dass Wahrnehmen der Realität, im Einklang mit Erkenntnissen vieler Wissenschaftler – und dies nicht erst seit gestern – Realitätsverweigerung sein soll, kann an Erkenntnisverweigerung nicht mehr überboten werden.

Dass eine Kampagne, die überprüfbare Erkenntnisse in rational begründete Gefühle übersetzt, eine verbotene Emotionalisierung sein soll, ist der helle Wahn. Hier erbricht einer seine verbotensten Gefühle, indem er die Gefühle anderer dämonisiert. Seit die Romantik Vernunft durch Gefühle ersetzte, schütten Deutsche das Kind mit dem Bade aus und reinigen ihre verkümmerte Vernunft von allen Gefühlen – mit der Schrubberbürste.

Noch nie war eine Revolte ganzheitlicher als die der Jugend. Indem sie im Namen der Vernunft spricht, emotionalisiert sie die Debatte, indem sie emotionalisiert, spricht sie im Namen der Vernunft. Romantischer Kitsch hingegen verkroch sich in die Dachkammer oder einen Zauberwald, dessen erste kapitalistische Schäden nicht wahrgenommen werden durften.

Wer hat dich, du schöner Wald,
Aufgebaut so hoch da droben?
Wohl den Meister will ich loben,
So lang noch mein Stimm erschallt.
Lebe wohl,
Lebe wohl, du schöner Wald!

Tief die Welt verworren schallt,
Oben einsam Rehe grasen,

Natur, Wald: sie waren für Romantiker nur eine Transitzone, um dem himmlischen Vater entgegenzueilen. Idyllisch grasen oben die Rehe – Sinnbild der paradiesischen civitas dei –, die verworrene Welt tief da drunten war in Schmerzen als civitas diaboli zu ertragen.

Gerade die Demonstranten regen zum Denken an und provozieren zum Widerspruch – wie der Hass der Bourgeoisie zur Genüge beweist: ausgerechnet sie sollen „das Denken einstellen und Widerspruch unmöglich machen.“?

Kann man von einfachen Lösungen sprechen, wenn radikale Forderungen gestellt werden?

Am Anfang jeder Debatte, noch im Bereich der Theorie, darf es keinerlei Kompromisse geben, damit Realitäten unverfälscht dargestellt werden können. Wenn ein Arzt Krebs diagnostiziert, hat er über Heilungschancen noch nicht gesprochen. Jede Anfangsdiagnose muss radikal klingen, denn sie enthält den unausgesprochenen Imperativ: das Schreckliche muss weg. Ob es realistische Therapiemöglichkeiten gibt, ist der zweite Schritt der Behandlung.

Wenn die FfF-Jugend eine ungeschönte Diagnose stellt, ist sie nicht verpflichtet, sofort eine angemessene Therapie anzubieten. Am Anfang muss die Lage theoretisch oder abstrakt dargestellt werden. Erst im folgenden Streit der Parteien können rivalisierende Praxisvorschläge erörtert werden, die von Parlamenten aufgenommen und entschieden werden müssen.

Wo hat die Jugend sich geweigert, zu debattieren? Überaus selten, dass sie überhaupt in Talkshows elitärer Cliquen eingeladen werden. Wer sie dort argumentieren sah, erlebte ihre überlegene Kompetenz.

Kein einziger Begriff wird von dem rasanten Philosophen definiert. Wörter werden in die Luft gepfeffert, dass Gott erbarm. Massenkompatible Kollektivgefühle werden, zusammen mit esoterischer Rührseligkeit, angegriffen und am Boden zerstört.

Nur: Esoterik ist nie massenkompatibel, sie wendet sich an Eingeweihte. Esoterisch ist jene Religion, die der Philosoph selbst propagiert. In der Tat sollen Massen angesprochen werden, denn Demokratien sind Veranstaltungen der Massen.

Was ist eine „Nabelschau“, wo es doch um Weltschau geht? Oder steht deutscher Nabel noch immer im Mittelpunkt der Welt?

Was ist „aggressive Friedfertigkeit“? Aggressiv oder friedfertig? Offensichtlich fühlt ein echter Deutscher sich noch immer von Friedfertigkeit bedroht.

Was schließen wir daraus? Dass Militanz noch immer die deutsche Art sein muss, Siegfrieden in der Welt herzustellen.

Ein deutscher Philosoph versteht weder etwas von Jugendlichen, noch von Gefühlen, von Vernunft, von demokratischen Gepflogenheiten, von der Einheit des Menschen, vom verwüsteten Zustand der Welt, von öffentlichen Debatten, von Radikalität, von Sein und Sollen, von Einfachheit und Komplexheit.

Radikale Forderungen sind einfach. Das Einfache nämlich ist das Schwierigste. Theoretisch ist das Einfache zumeist das Ergebnis komplizierter Überlegungen, die sich erst am Ende als überraschend einfach erweisen.

Naturwissenschaftler reden von der Schönheit ihrer Erkenntnisse. Das Einfache ist das Schöne, das jeden überrascht und überzeugt. Das Einfache ist nicht das Gegenteil des Komplizierten, sondern dessen finale Auflösung. Das gilt für den Bereich der Theorie.

Sollen der Feststellung des Seins praktische Folgerungen entlockt werden, muss jede Praxis mit der Behauptung beginnen: Das Problem ist lösbar. Was der Mensch verursacht hat, muss er auch lösen können.

Bei Problemen mit der Natur können nur wenige Versuche unternommen werden – etwa den Zusammenprall eines Meteoriten mit der Erde verhindern. Erfolgschancen ungewiss.

Bei menschlich verursachten Problemen hingegen ist der Mensch zuständig: was soll unlösbar sein, was er sich selbst eingebrockt hat?

Nur christliche, neoliberale und marxistische Geschichtsideologen müssen es ausschließen, dem Gott der Geschichte ins Handwerk zu pfuschen. Wozu bräuchten sie eine Erlösergeschichte, wenn sie ihre Probleme selbst lösen könnten? Lösen und Er-lösen schließen sich aus.

Die deutsche Philosophie wird vom Klimadebakel bis auf die Knochen blamiert. Wo stecken sie denn, die Tiefdenker, wenn die Jugendlichen, auf der Grundlage einer sicheren Empirie, die einfachsten Folgerungen ziehen?

Inzwischen haben die Naturwissenschaftler kapiert, dass sie nicht nur für abstrakte Erkenntnisse zuständig sind, sondern auch für politische Konsequenzen eintreten müssen.

Von deutschen Philosophen ist – außer Variationen obiger Schwurbeleien – in der heutigen Klimadebatte nichts zu hören.

Nach Kants Entwurf zum ewigen Frieden kam der politische Absturz der Philosophenzunft bis zum heutigen Tag. Ab Fichte, Hegel, Marx, den Romantikern, über Nietzsche bis zu den Professoren des Wilhelminismus im Ersten Weltkrieg und zur völkischen Geschlossenheit im Dritten Reich gab es nur bombastische Kriegsanbeter. Für sie war Frieden nur ein Sumpfgelände aus Trägheit, Faulheit, routinierter Langeweile und sittlicher Verkommenheit.

Nur das Schwert des Krieges konnte für reine Gesinnung, Eigentlichkeit und asketische Zurückhaltung sorgen. Im Dritten Reich waren die letzten pazifistischen Außenseiter untergetaucht, geflohen oder ins KZ gesperrt worden.

Seit 150 Jahren war bei deutschen Philosophen der Frieden keinen Heller wert. Um die messianische Mission des deutschen Denkens zu demonstrieren, waren heilige Kriege unerlässlich.

„Die Deutschen fühlten sich als Vertreter „des auserwählten Volkes in der Philosophie, als Verkörperer des Weltgeistes und der Weltseele.“ Ihr doktrinäres Selbstbewusstsein ließ sie keinen Augenblick an ihrer inneren und äußeren Überlegenheit zweifeln. In den großen runden Flaschen ihrer Köpfe trugen sie den Spiritus ihrer absoluten Idee. Ihre Rechthaberei machte sie zu unerfreulichen Räsonneuren, und wo sie von ihrer Gottähnlichkeit nicht zu überzeugen vermochten, beschimpften sie ihre Gegner als „Spießer und Utopisten“. Machiavellisten waren sie alle. Friedrich II. war Machiavellist, Fichte „legte sich auf das Studium Machiavells“. Hegel wollte „gleichsam der Machiavell Deutschlands werden“. Treitschke und Bismarck haben den Machiavellismus „erweitert“. Nietzsche war Machiavellist und Machiavellist heute Herr Rathenau. Oberster Grundsatz ist der individuelle und staatliche Vorteil als Direktive der Moral. Der Wille zur Macht bedient sich der Lüge, der Hinterlist, und jeder Methode der Treulosigkeit, um zu Erfolg und zum Ziel zu gelangen. Das ist die machiavellistische Konspiration der preußisch-deutschen Philosophie von Fichte bis Nietzsche.“ (Hugo Ball, Zur Kritik der deutschen Intelligenz)

Denken gilt heute nichts mehr, Dichten gibt’s nicht mehr – und das Wort sie sollen lassen stahn? Die Begriffe sollen im postmodernen Wirbelwind zerstäubt werden zur allseitigen Verwendbarkeit und beliebigen Nutzbarkeit. 

Zwanghafte Kompromisslerei und Gedankenschändung haben jedes radikale, sprich: klare Denken aus der Arena geworfen. Sie wagen es nicht mal, im stillen Kämmerchen strenge Gedanken zu haben, weil sie immerfort die Maische der Kompromisse umrühren müssen. Ihre Kompromisse können sie nicht rechtfertigen, weil sie sich radikale Anfangsforderungen verboten haben. Ihre Mauscheleien finden stets in verschlossenen Hinterzimmern statt, damit das Volk ihr Treiben nicht kontrollieren kann.

Es gilt allein die Praxis, in der die Macher tonangebend sind. Das Motto „unmöglich“ gilt bei ihnen nicht. Alles ist möglich für sie, wenn am Ende der richtige Profit winkt. Winkt er nicht, gilt umgekehrt: alles zu komplex, alles nicht einfach. Merke: Probleme des Pöbels sind immer unlösbar, weil zu komplex. Probleme der Reichen, immer mehr Milliarden zu scheffeln, müssen jederzeit mach- und lösbar sein.

Echte deutsche Aufsteiger und Karrieristen denken so:

„Es ist immer einfach, sich eine Meinung zu bilden. Es ist einfacher, als etwas zu gestalten, umzusetzen, zu implementieren und durchzuhalten.“ (Berliner-Zeitung.de)

Denken, sich eine Meinung bilden, sind Kinderspiele. Endlich ist die unbegreiflich-komplexe Philosophenkunst entzaubert. Da stehen die Kaiser der Gedanken: ohne Kleider.

Nicht Wirklichkeit durchschauen, sich selbst erkennen, das Gewebe der abendländischen Verwirrdialektik durchdringen, das Jonglieren mit dunklen Begriffen entmystifizieren, ist notwendig zur persönlichen und politischen Lebensgestaltung: nur machtgesteuerte Praxis soll das Wichtigste im Leben sein. Niemand soll klar und deutlich wissen, was er will, jeder aber drauflos werkeln, als ob er’s wüsste.

Betrachten wir das erstaunliche Spätwerk des führenden deutschen Philosophen. Arno Widmann ist hin und weg nach der Lektüre des neuesten Monumentalwerks von Habermas:

„Es ist eine Sensation. Am 18. Juni wurde Jürgen Habermas neunzig Jahre alt. Es gibt keinen Autor, der in diesem Alter etwas Vergleichbares vorgelegt hätte. Auf diesen vielen Seiten nirgends auch nur ein klitzekleines Anzeichen von Müdigkeit. Der systematisierende Zugriff hat dieselbe Kraft wie in den Werken der vergangenen Jahrzehnte. Man steht sprachlos vor einer solchen Lebenskraft.“ (Berliner-Zeitung.de)

Bewundernswert die Lebenskraft des Verfassers, erstaunlich seine stupende Gelehrsamkeit, doch was ist die Botschaft des Werkes? Was will uns der Denker sagen?

„“Die säkulare Moderne hat sich aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern.“ Das ist eine aus der klassischen Kritischen Theorie vertraute Volte. Sie steht da als ein Warnschild. Die Vernunft, die glaubt, sie wäre ganz und gar vernünftig, ist keine. Die Spannung von Glauben und Wissen besteht immer.“

„Auch im ambivalent erfahrenen schöpferischen Prozess der Zerstörung und Erneuerung von Identitäten stellt die Gesellschaft an der Schwelle des Untergangs einer alten Identität die rettende Wiedergeburt nur in der Gestalt einer neuen, aber noch unbestimmten Identität in Aussicht.“

Volte? Ist ein „Zaubertrick“. Hat die Kritische Theorie gezaubert und getrickst?

Da ist sie wieder, die dialektische Besessenheit vom Widerspruch, der eine höhere Weisheit sein soll als die ordinäre Widerspruchslosigkeit. Vernunft als Abwendung vom Transzendenten – unbedingt, und dennoch darf das „Transzendente nicht verkümmern“?

Was, bitte, würde uns fehlen, wenn das Transzendente verloren ginge? Warum muss die „Spannung von Glauben und Wissen“ erhalten bleiben? Von welchem Glauben? Vage, inhaltslose Sätze, mystische Andeutungen. Oder sollen wir von Alters-Esoterik sprechen?

Was spricht gegen eine Vernunft, die sich ganz und gar für vernünftig hält? Ja doch, keine Vernunft ist perfekt. Doch was sie lebenslang dazulernen kann, muss immer Vernunft sein. Ein Abflug ins Übervernünftige und Jenseitige ist ausgeschlossen. Es sei, da will jemand die Menschenvernunft als Torheit madig machen, um zur Weisheit Gottes abzuheben.

Und was bedeuten die rätselhaften Worte von einer rettenden Wiedergeburt in Gestalt einer neuen unbestimmten Identität? Klingen bei dem Enkel eines Dekans nicht die Worte des Paulus durch?

„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem rätselhaften Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht.“

Nur durch Zerstörung kann die Menschheit zur Erneuerung kommen: das scheint die Schlussbotschaft von Habermas zu sein. Versteckt am Ende seines Werkes, dass niemand sie entdecken und untersuchen kann. Die deutsche Tradition der Dunkelmänner und Andeuter hat sich durchgesetzt. Man könnte auch vom Sieg der Gegenaufklärung über die Autonomie der Vernunft sprechen.

Mehr Licht, soll der sterbende Goethe als Vermächtnis gesagt haben. Habermas‘ bislang letztes Wort heißt: mehr Dunkelheit. Niemand soll erfahren, dass die Kritische Theorie vom Licht der Erleuchtung lebt. Habermas bleibt, trotz vieler Befreiungsversuche, im Banne Adornos:

„Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint“.

Wo bleibt das Wort des Buches zur Gegenwart? Das Wort zur drohenden Apokalypse? Noch immer hält es die deutsche Philosophie für richtig, den schnöden Alltag zu ignorieren und abzuheben ins Reich des apolitischen schönen Scheins.

Wie lange dauerte es, bis deutsche Heideggerianer die Verstrickungen ihres Schwarzwälder Idols mit den NS-Schergen zugestanden? Da mussten persönliche Geständnisse des Hitlerfans in schwarzen Heften auftauchen, bis seine gläubige Gemeinde sich endlich auflöste.

Deutsche Philosophie hat es nie weiter gebracht als zur Ausgießung des Heiligen Geistes in schwindelerregende Begriffsverfälschungen aus dem antiken Griechenland. Philosophie wurde zum Religionsersatz für Edelchristen, die den sonntäglichen Kirchenbesuch mit ihrem Mütterchen scheuten.

Heute bewundern sie eine mächtige Pastorentochter, die in hemmungsloser Demut ihre Mitläuferpolitik durchmauschelt.

Philosophen gelten heute nichts mehr. Wer Philosophie studiert, hat keine Chance auf einen Job, wo er seine Gedanken einbringen kann. An die Stelle der Gedankenarbeit ist was getreten? Die Bewunderung des eindressierten, atomisierten Wissens oder des Intelligenzquotienten, einer besonders trügerischen Chimäre sogenannter objektiver Geisteswissenschaften. Niemand weiß, was Intelligenz ist? Egal: sie wird gemessen. Intelligenz ist, was ein IQ-Test misst. Basta.

Deutsche Schulkinder werden immer dümmer. Sie blamieren das Vaterland und ruinieren die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit der Deutschen. Das wird sich auch nicht ändern. Sinnloses Wissen, prahlende Gelehrsamkeit: das sind die einzigen Fähigkeiten, die heute bewundert werden. Was bewundert Arno Widmann an Habermas am meisten?

„Der Autor verlangt solide Kenntnisse in den Fachsprachen verschiedener philosophischer Disziplinen der Vergangenheit und Gegenwart.“ Elitäre Philosophie selektiert. Sie verschmäht den unintelligenten Pöbel. Wer ein gewichtiges Werk liest, dem sollen die Knie schlottern: Bin ich prädestiniert, den Tempel der Weisheit zu betreten? 

Mit buntscheckigem Wissen kann man im deutschen TV Gewinne einheimsen. Mit Denken aber hat Vielwissen nichts zu tun:

„Vielwisserei verleiht nicht Geist. Sonst hätte sie dem Hesiod und Pythagoras solchen verliehen und ebenso dem Xenophanes und Hekataios.“ (Heraklit)

Denken ist, wesentliches Wissen zu beurteilen, um die Wirklichkeit zu verstehen und zur humanen Gestaltung des Lebens zu nutzen. Realitätsvergessenes Wissen ist Tandaradei.

Der greise Philosoph und ein blutjunges IQ-Genie sind zufälligerweise die Helden des heutigen Tages.

„Mit acht hatte er Abitur, nun steht Laurent Simons kurz vor seiner Bachelor-Prüfung – mit neun. Wie geht es dem Jungen, der von vielen als Genie bezeichnet wird?“ (SPIEGEL.de)

Wohin die Reise der deutschen Schul- und Karrierebildung nun gehen wird, müsste jedem, der einen IQ über 100 hat, klar geworden sein:

Kinder und Jugendliche dieser Welt: werdet intelligent. Dann werdet ihr alle Öko-Probleme lösen, das Wirtschaftswachstum eures Landes fördern und den Fortschritt ins Unendliche realisieren.

Wer intelligent ist, muss keine Konkurrenz der Maschinen fürchten. Er beendet die Geschichte der Philosophie und macht eigenes Denken überflüssig.

NB: heute Abend wird Günther Jauch bei Sandra Maischberger die Frage beantworten:

„Was muss man wissen? Was sollte man lernen: Griechisch, Geschichte oder Googeln?“

Jauch wird unwirsch antworten: Wissen sollte man, womit man in meiner Quizsendung Millionen verdienen kann.    

 

Fortsetzung folgt.