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Von vorne LXXX

Von vorne LXXX,

die deutsche Demokratie zerlegt sich nicht, sie war nie zusammengewachsen. Nur Wohlstand und die wohlwollende Rückkehr in den Kreis der Völker hatten die Konstruktion mit Nägeln und Schrauben notdürftig zusammengehalten.

Nun schwindet die Euphorie über die problemlos scheinende Rehabilitierung, es verblasst die Kontrastfolie des Weltkriegs, die führenden Vorbild-Demokratien zerlegen sich. Und sofort zeigt sich, dass die einheimische Demokratie nicht selbständig erarbeitet, sondern als Pflichtlektion eingepaukt wurde. Die Schüler wollen keine Musterschüler mehr sein, sie beginnen zu maulen und herumzupöbeln.

Alles, was der Belebung der Polis dient, wird als politisch korrekt und moralisch madig gemacht. Des Außengeleiteten wird man überdrüssig, das Autonome steht auf wackligen Beinen.

Carolin Emcke in der SZ: „All die vollmundigen Erklärungen und Maßnahmen gegen rechtsradikale, völkische Fanatiker nützen nichts, wenn gleichzeitig all jene Bürgerinnen und Bürger herablassend bespöttelt werden, für die Respekt vor anderen keine elitäre Zumutung, sondern eine soziale Selbstverständlichkeit bedeutet. Es ist trostlos, dass das Plädoyer für universale Menschenrechte, für rechtsstaatliche Institutionen und politische Vernunft mittlerweile als radikale, randständige Position gilt.“ (Sueddeutsche.de)

Der Zerfall einer Gesellschaft zeigt sich an ihren Rändern, beginnt aber stets in der Mitte der führenden Geister und Eliten. Die höheren Stände missbrauchen ihre überlegene Bildung, um ihre Urheberschaft des Missglückten zu verschleiern und die des Geglückten herauszustreichen.

Das war schon so bei der Reaktion der Weisen gegen die erste Empörungswelle der 68-er Rebellion. Ausgerechnet ein Altphilologe, Kenner der griechischen Urdemokratie, mokierte sich über den studentischen Ruf nach Demokratie – ein 

 Begriff, der für jeden etwas anderes bedeute. Die Sophistik der Gebildeten begann die Stabilität der jungen Demokratie zu zerfleddern.

Den Rebellen fehle es am nötigen Ernst beim Suchen nach „übergeordneten Prinzipien.“ Der Kampf werde nur „mit vagen Schlagworten geführt, die wie etwa das Wort Demokratie für jeden etwas anderes bedeuten würde. Daher die Richtungslosigkeit, das wild aufgeregte Hin und Her, durch das die Rebellion der „fortschrittlichen“ modernen Jugend gekennzeichnet ist.“ (Kurt von Fritz, Grundprobleme der Geschichte der antiken Wissenschaft, 1971)

Bodenloser Subjektivismus (jeder spricht seine eigene Sprache, Gemeinsames gibt es nicht) untergräbt jedes Projekt, das von vielen gemeinsam getragen wird. Wenn Demokratie nicht mehr ist als ein vages Schlagwort, in das jeder seine Wünsche eintragen kann, kann das Wort nichts beitragen zum Aufbau eines kooperativen Werks.

Demokratie lebt von Streit, Streit von gemeinsamen Methoden des Argumentierens und Überzeugens. Debattieren ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Fremd- und Selbstprüfung und zum Zweck allmählicher Verständigung.

Momentan wird gestritten, mit wem man streiten oder nicht mehr streiten darf. Darf man nur mit Gleichgesinnten streiten? Oder mit ungefähr Gleichgesinnten, die einen Konsensbereich nicht ins Extreme überschreiten? Worüber aber soll dann gestritten werden? Wäre das nicht ein Ausschluss aller Ketzer, Querdenker und scharfen Kritiker?

Früher hätten die Deutschen nicht mit Luther, heute dürften Kapitalisten nicht mit Marxisten, Etablierte nicht mit jungen Demonstranten disputieren, die eine alternative Wirtschaft fordern. Wer nur ähnlich Denkende als Gesprächspartner akzeptiert, dürfte keine Politiker mehr tadeln, die fremden Despoten das Gespräch verweigern. Wer nicht mehr redet, tendiert zur Gewalt. Auch Stummheit ist eine Waffe, um Unerreichbarkeit zu demonstrieren – wie eine deutsche Kanzlerin zeigt.

Wer a priori zu wissen vorgibt, dass andere gesprächsunfähig sind, unterwirft sich seinen eigenen Vorurteilen. Verstockte könnten plötzlich auftauen, Schwätzer eigentlich werden. Beschimpfen oder sich mit Lautstärke überfahren lassen, muss niemand.

Generell gilt: Demokraten haben Angst vor niemandem, um die humanste Lebensweise der Welt zu verteidigen. Wer hier von Arroganz spricht, kann Überheblichkeit nicht von humaner Leidenschaft unterscheiden.

Wenn schon Schiller Männerstolz vor Fürstenthronen einfordern konnte, muss man heute von Demokraten Stolz vor allen Misanthropen und Menschenhassern verlangen. An jedem Anfang aber steht der kategorische Imperativ: prüfet die Geister.

Das Elend beginnt in den oberen Rängen, die eigentlich Vorbilder sein sollten. Sie geben nur noch Anordnungen und Befehle. Die Gabe verständlicher Rede verschmähen sie zunehmend. Merkel spricht mit niemandem mehr:

„Bundeskanzlerin Angela Merkel (65), im Wahlkampf völlig abwesend – und auch gestern abgetaucht. Im Kanzleramt. Die Regierungschefin, sagen führende CDUler, lebe längst in ihrer eigenen Welt. Vollkommen entkoppelt vom Alltag in Deutschland.“ (BILD.de)

Dem Irdischen abhold, schwebt die Erwählte bereits ihrer himmlischen Heimat entgegen. Wenn Muttern nichts mehr zu sagen hat, sind die Deutschen überzeugt: kein Grund zur Beunruhigung im irdischen Hexenkessel.

Deutsche gehen diszipliniert und schweigend dem Lusttod entgegen – wenn da nur nicht diese jungen Störenfriede wären, die es wagen, das Schweigen der Lämmer mit Trötenlärm zu übertönen. Sie soll der Teufel holen.

Gibt es nichts zu reden und die Räder drehen sich immer noch, hat die Politik bewiesen, dass sie eine machina mundi ist, eine heilige Maschine.

Das war der Traum aller Calvinisten und Mechanisten. Die Welt wird perfekt, wenn sie zur Maschine geworden ist. Die Anfänge der modernen Wissenschaft wollten beweisen, dass Gottes Schöpfung perfekt ist. Perfekt ist sie, wenn sie eine Maschine ist.

Kopernikus spricht von der göttlichen machina mundi. Gott, der Uhrmacher, hat eine perfekte Uhr hergestellt. Gelänge es den Wissenschaftlern, den Uhrencharakter der Welt nachzuweisen, wäre der kosmologische Gottesbeweis gelungen.

„Daher wird die Weltmaschine überall ihren Mittelpunkt und nirgendwo ihren Umfang haben, da ihr Umfang und ihr Zentrum Gott ist, der überall und nirgendwo ist.“ (Nikolaus von Cues)

Mit dem Argument der Kosmos-Theologie, das an die Theatermaschine zur Erzeugung des schönen Scheins zum höheren Ruhm Gottes erinnert, soll die religiöse Würde des astronomischen Unternehmens gesichert werden.

Die Idee des vollkommenen mathematischen Kosmos der Griechen wird von den Christen benutzt, um die missratene Schöpfung des biblischen Gottes nachträglich vergessen zu machen. Dass Gott seine Schöpfung als missglückt beschrieb, behagte den ersten christlichen Wissenschaftlern nicht. Es widersprach ihrer Vorstellung von einem perfekten Schöpfer, der nur perfekte Dinge schafft. Mit Hilfe des vollkommenen Kosmos der Griechen wollten sie – wider den Wortlaut der Schrift – Ordnung ins sündige Chaos bringen.

Leibniz perfektionierte die Weltenuhr zur prästabilierten Harmonie (vorherbestimmte Einheit), die nach Regeln der Infinitesimalrechnung funktioniert. Wird sie aber perfekt, tritt ein Problem auf: die Welt wird autark und braucht keinen Uhrmacher mehr. Gott wird überflüssig – oder verschmilzt mit der Natur und wir reden von Pantheismus.

Naturwissenschaftler seit Francis Bacon wagen es, ihrem Schöpfer zu widersprechen, ihn zu korrigieren. Bacon wollte den Sündenfall der Welt retuschieren, Leibniz hingegen deren Abhängigkeit von einem fehlbaren Gott ausmerzen. Die mechanische Wissenschaft soll Gottes Fehl ausradieren. Zuerst soll Natur zur machina mundi werden, dann das umfassende Leben des Menschen in der Natur.

Tiere werden Maschinen, Menschen zu halben, dann zu ganzen Maschinen. Alle Gesetze des menschlichen Lebens oder seiner Geschichte werden zu berechenbaren Mechanismen: Wirtschaft, Verhalten, Gefühle, Begabungen, Fortschritt, Naturbeherrschung. Die Perfektionierbarkeit der Welt wird zum Triumph des göttlichen Maschinenführers. Eingreifen? Überflüssig. Korrigieren per Moral? Eine Blasphemie. In einer perfekten Maschine funktioniert alles bestens.

Jetzt aber tritt Unvorhersehbares ein. Die vollkommene Mechanisierung sollte zum endgültigen Gottesbeweis werden. Wider Gott ist Gott in der vollkommenen Maschine verschwunden – oder überflüssig geworden. Er kann sich aus dem Staub machen, wenn die machina mundi automatisch wurde.

Den Traum der frühen Naturwissenschaftler, die Schöpfungslehre zu übertreffen oder auszumerzen, übernimmt die moderne Wissenschaft, um Mensch und Natur vollständig zu mechanisieren oder in perfekte Automatismen zu verwandeln. Warte nur, balde, wird der Traum in Erfüllung gehen. Schon haben sie Roboter, die den Menschen überflüssig machen.

Es wiederholt sich die Geschichte vom perfekten Gott, der in der Natur verschwindet oder sich überflüssig macht. Ebenso wird der Mensch, dessen Wirken immer automatischer wird, mit einer vollkommenen Naturmaschine identisch – oder er macht sich überflüssig. Seine Gottähnlichkeit wird den Menschen aus der Natur vertreiben.

Auch Calvins Prädestinationslehre ist die Umwandlung einer misslungenen Schöpfung in eine Maschine, in der Gott alles perfekt vorprogrammiert hat. Den Menschen bleibt nichts, als der Vorherbestimmung mechanisch zu folgen.

Wir nähern uns der perfekten Maschinenwelt, in der nichts mehr gesagt und in die moralisch nicht mehr eingegriffen werden kann. Wenn Menschen vollständig zu Rädchen der machina mundi geworden sind, haben sie die Spitze ihrer Vollendung erreicht – oder mit anderen Worten: sie haben sich überflüssig gemacht.

Deutschland ist der Perfektion eines herrlich funktionierenden Automatismus schon nahe gekommen. Man spricht nicht mehr miteinander, denn Sprechen stört nur die surrenden Abläufe. Und wenn doch, hat man sich nichts mehr zu sagen. Alles liegt auf dem Tisch. Wohin die evolutionären Maschinen unterwegs sind, haben Fortschritt, Wachstum und Automatisierung längst entschieden. Die Wirklichkeit ist dabei, zum kosmischen Algorithmus zu werden.

Auch Merkel hat ihr Erbe bereits vorprogrammiert. Sie will, dass Annegret den Deutschen anverlobt wird, ob die Deutschen wollen oder nicht. Auch Annegret spricht nicht gern. Ihren Syrienplan teilte sie dem Außenminister nur flüchtig per SMS mit. Der, auch nicht faul, redete auch nicht mit ihr, sondern flog zum türkischen Außenminister, mit dem er sich besser versteht als mit seiner saarländischen Landsfrau und kritisierte sie am fernen Strand des Bosporus.

Wenn die Deutschen die Zwangsheirat mit Annegret aber ablehnen? Von Liebe auf den ersten Blick kann ohnehin keine Rede sein. Das alte Lied von Annegret wird immer populärer. Wir warten dringlich auf die Pop-Vertonung mit Helene Fischer:

Meine Frau heißt Annegret, wenn se nur der Kuckuck hätt,
wenn doch nur der Sturmwind käm und se mit nach Holland nähm.

Will i dies, dann will se das, sing i Alt , dann singt se Baß,
steh i auf, legt se sich nieder, schlag i z´ruck schlagt sie mich nieder.

Kurz und gut, mit einem Wort, wär se nur scho mausetot,
wollt i dann a andre nehme, aber g´wiß kei Grete mehr, kei Grete mehr, kei Grete mehr.

Wird alles automatisiert und mechanisiert, muss Störendes entfernt werden. Störend ist alles Subjektive, Privatgeschwätzige, Philosophische, Moralische und Individuelle. Das ist die Tragik der liberalen Individualität, dass sie sich in Luft auflöst, wenn sie sich dem Zustand der Vollkommenheit nähert.

Das gesamte Privatleben wird dem mechanischen Kommerz untertan gemacht. Die Reichsten der Welt unterscheiden sich nur noch in der quantitativen Höhe ihrer Milliarden. Politisch-philosophische Qualitätsunterschiede kann man mit der Lupe suchen. Geld und Reichtum bestimmen den Charakter.

Die führenden Medien haben sich aller moralischen Gemeinheiten entledigt. Sie berichten nur, was ist: wie die Rädchen sich drehen. Sie werden sich hüten, ins Räderwerk einzugreifen. Das wäre ein Eingriff in die wunderbare machina mundi.

Nicht nur Edelschreiber, auch Lehrer und Pfarrer sollen sich aller unberechenbar-subjektiven Meinungen enthalten.

„Natürlich genießen Dienstleister wie Pfarrer, Ärzte, Lehrer und Journalisten ebenfalls das Recht auf freie Meinungsäußerung. Bei ihrer professionellen Tätigkeit darf dieses Recht aber nicht im Vordergrund stehen. Sie werden von ihren Klienten nicht für ihre private Meinung bezahlt, sondern dafür, dass sie ihnen in einer bestimmten Sache helfen.“ (Berliner-Zeitung.de)

Aus diesem Grunde ist auch die FFF-Bewegung abzulehnen. Um das Klima zu retten, setzt sie nicht auf perfekte Maschinen, sondern auf Askese und Verzicht. Die Jungen brüsten sich, die Angebote der Natur zu verschmähen. Sollen die Räder der Natur denn umsonst zur Höchstform auflaufen? Glauben die jungen Menschen, besser zu sein als andere Menschen, wenn sie das perfekte System der Natur als überforderte Müllmaschine beschimpfen?

„Verzicht widerspricht der menschlichen Natur. Von der Fridays-for-Future-Bewegung höre ich zu all diesen technologischen Möglichkeiten wenig bis nichts. Greta hat sich in ihrer emotionalen Rede beim UN-Klimagipfel sogar abfällig über die geäußert, die auf technische Lösungen setzen. Sie predigt stattdessen wacker den Verzicht. Das Konzept ist aber nicht neu, bereits der freudlose Calvinismus setzte auf die innerweltliche Askese. So richtig durchgesetzt hat er sich damit aber nicht. Weil unsere Welt und das, was die Menschen aus ihren Möglichkeiten gemacht haben, viel zu reich und einladend ist, um darauf zu verzichten.“ (WELT.de)

Nicht nur das. Indem die verwöhnte Wohlstandsjugend weniger Konsum anmahnt – sie kann es sich leisten, denn sie hat genug –, verwehrt sie es vielen armen Jugendlichen der Welt, auch zu Wohlstand und Reichtum zu gelangen. Es ist aber der Ehrgeiz der Naturmaschine, alles zu geben, was sie kann. Auch in Wirtschaftswachstum will sie perfekt sein – und aus allen Poren Reichtum und Wohlstand emittieren. Doch nein, diese Jugendlichen wollen sie dreist daran hindern:

„Bei aller Sympathie und Empathie für die jungen Demonstranten auf unseren Straßen: Man darf sie daran erinnern, dass ihre Kompromisslosigkeit nicht die Antwort auf unseren Wohlstand ist. Unser Wohlstand macht sie erst möglich. Er gibt ihnen die Freiheit, das Absolute zu fordern. Deshalb, liebe junge Klimaschützer auf den Straßen, ein Angebot. Unsere Verantwortung ist es, dass ihr bleibt, was ihr seid: Kinder des Wohlstands und der Freiheit. Und eure Verantwortung ist es, zwischendurch mal zu sagen: Wir haben auf dieser Welt viele Altersgenossen, die noch darauf warten, auch zu Kindern des Wohlstands und der Freiheit zu werden. Nur dann wird der Klimaschutz gelingen.“ (WELT.de)

Da fehlt doch noch was? Ja natürlich: der gewaltige Angriff eines „kritischen Feminismus“ gegen das esoterische Mutter-Natur-Gedöns einer apokalyptisch auftretenden Jugend:

„Die Rebellion gegen das Artensterben mag ehrenhaft sein. Sie gleitet allerdings mitunter ins Esoterische ab. Bei den Blockaden in Berlin gibt es die Möglichkeit, für die Erde zu meditieren. Alte Mutter-Erde-Metaphern treten an die Stelle eines kritischen Feminismus, der uns vor allem eines gelehrt hat: Was Natur ist, ist menschliche Kons­truk­tion. Welche Natur will XR schützen? Rebellion gegen das Artensterben um ihrer selbst willen? Oder Rebellion gegen das Artensterben, weil die Lebensgrundlage des Menschen vernichtet wird? Dass der Mensch die Natur in Ansätzen beherrschen gelernt hat, ist ein Fortschritt, hinter den eine progressive Bewegung nicht zurückfallen sollte. Und ohne technischen Fortschritt ist die gerechte, klimafreundliche und ausbeutungsfreie Gesellschaft auch nicht zu denken. Wer das infrage stellt, sehnt einen Steinzeitkommunismus herbei, in dem wir uns wieder selbstversorgend vom Schweiß des Ackers ernähren und eine Lebenserwartung von knapp vierzig Jahren haben, Säuglingssterblichkeit inklusive. XR inszeniert sich unparteiisch, quasi religiös der ablaufenden Sanduhr verpflichtet. Wer gegen den Klimawandel ankämpft, muss aber zwingend parteiisch sein: Der Klimawandel trifft die Ärmeren zuerst und am härtesten. Im Zen­trum einer solchen Erzählung von Gerechtigkeit kann aber nur einer stehen: der Mensch, der diese Welt schafft.(TAZ.de)

Das kommt aus der Marx‘schen Übermenschen-Ecke und will feministisch sein. Eine Mutter Erde ist für welt-schaffende Naturherrscher eine Versündigung an den prometheischen Fähigkeiten der Wissenschaftler und Techniker. Natur darf nicht aus eigener Vollmacht, sondern muss eine menschliche Konstruktion, eine Erschaffung des Menschen sein.

Maskuliner und gottähnlicher kann eine Ideologie nicht sein. Die gesamte Hybris der Moderne, die einem männlichen Gott ähnlich werden will, ist hier zu besichtigen. Weil Gaia, die Mutter Erde, aus vorwissenschaftlichen Urkulturen stammt, muss sie eine illusionäre Fata Morgana sein. Aus dem Motto: nicht alles, was früher war, muss besser gewesen sein, wurde das diametral entgegengesetzte: alles Zukünftige wird besser sein.

Mutter Erde aber ist nicht von gestern, sondern die Naturreligion existierender Völker, die am vorbildlichsten mit ihr auskommen. Da diese „primitiv am Busen der Natur“ hausen, müssen sie von Futuristen und Progressisten (säkularen Messianisten) ad acta gelegt werden.

Wenn Religionen esoterisch genannt werden können (nur für Erwählte und Eingeweihte), dann sind es die biblischen Erlöserreligionen. Zu ihnen gehört die marxistische Erlösung des Bewusstseins durch das Sein. Auch der Marxismus ist esoterisch: nur das erwählte Proletariat wird eines fernen Tages erlöst und darf ins Reich der Freiheit eintreten.

Der marxistische Nebenwiderspruchs-Feminismus hat den ökologischen Feminismus aus Amerika noch nicht zur Kenntnis genommen. Der ist ja erst 40 Jahre alt. In Carolyn Merchants Buch „Der Tod der Natur, Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft“ könnte er Sätze lesen wie:

„Durch die alte Gleichsetzung der Natur mit einer Nahrung spendenden Mutter berührt sich die Geschichte der Frauen mit der Geschichte der Umwelt und des ökologischen Wandels. Die weibliche Erde bildet den Mittelpunkt jener organischen Kosmologie, die im frühzeitlichen Europa der mechanischen Wissenschaft und dem Markt zum Opfer gefallen sind.“

Warum wollten die Männer wie besessen die weibliche Natur verdrängen? Um sie unter mechanische Kontrolle zu kriegen.

„Das Bild von der Natur in früher Neuzeit war das eines gesetzlosen chaotischen Reichs, das der Zähmung und Kontrolle bedurfte. Die wilde unkontrollierbare Natur wurde mit dem Weiblichen identifiziert. Die Hexe, Symbol für die gewalttätige Natur, entfachte Stürme, verursachte Krankheiten, vernichtete die Ernte, vereitelte die Zeugung und tötete Säuglinge. Das gesetzlose Weib musste, wie die chaotische Natur, unter Kontrolle gebracht werden.“ (Merchant)

Bei Evelyn Fox Keller kann man lesen, dass objektive Wissenschaft eine androzentrische (männlich gesteuerte) Angelegenheit sein soll. Weshalb das weiblich Unbeherrschbare durch Mechanisierung herausoperiert werden muss.

„Einige Autoren kamen zum Schluss, dass Wissenschaft vielleicht doch vor allem ein männlicher Entwurf ist. Nach meiner Vorstellung von Wissenschaft aber sollte nicht die Zähmung der Natur angestrebt werden, sondern die Zähmung der Herrschaft.“ (Liebe, Macht und Erkenntnis, Männliche oder weibliche Wissenschaft?)

Es geht nicht darum, dogmatisch in die Vergangenheit zurückzukehren, sondern eine Epoche anzupeilen, in der der Mensch im Einklang mit der Natur stand. Menschliche Erfindungen sind nicht verboten, sie müssen aber im Einklang mit der Natur stehen. Wirtschaft ist nicht verboten, sie muss aber im Einklang mit der Natur stehen.

Marx & Engels waren glühende Bewunderer der abendländischen Machokultur. Alles Außereuropäische und Primitive verachteten sie und hielten es nicht für existenzwürdig:

„Nach dem Vorbild der Jakobiner müsse man die Slawen mit Feuer und Schwert austilgen. Marx und Engels meinten nicht unbedingt die physische Ausrottung, sondern „nur“ die terroristische Unterdrückung der Nationalbewegungen und des Panslawismus. Sie unterscheiden zwischen fortschrittlichen Nationen, die ein Lebensrecht haben, und „geschichtslosen“ Völkern, die nur die Knute verdienen. Inwieweit sie damit der Legitimation der Ausrottung ganzer Nationalitäten in kommunistischen Diktaturen vorgearbeitet haben, ist eine interessante Frage. Die Tschechen sind „Hunde“ und die Kroaten „Abschaum“. Engels kann selbst an den demokratischen Kräften unter den Tschechen nur „Schurken oder Phantasten“ erkennen. Die Kräfte des Marktes sehen sie als Waffen, mit denen überständige Verhältnisse wie Festungsmauern zerschossen werden. Die Herstellung neuer „Produktionsverhältnisse“ verstehen sie als gigantischen Akt der Mobilmachung.“ (ZEIT.de)

Das „apokalyptische Getue“ der XR ist keine Prophetie des Weltuntergangs, sondern im Gegenteil: die Warnung vor Armageddon. Biblische Sprache soll auf die Herkunft des Untergangsmythos verweisen. Die christlichen Ursachen der technischen Gefährdung sollen erkannt und bekämpft werden.

„In Verbindung des theologischen Überschwangs mit dem Fortschrittsdenken der Aufklärung und dem Geniekult des Hellenismus entsteht das Bild eines Übermenschen, der schon die Züge der Allmacht durch Herrschaft über die Elemente und das Naturgesetz trägt.“ (Friedrich Wagner)

Nicht alle seien am Debakel schuldig, schreibt Daphne Weber in der TAZ. Die Kleinen und Schwachen sollen schuldlos sein, ihr Beitrag zur industriellen Naturzerstörung sei gering oder nicht vorhanden.

Gewiss, nicht alle sind in gleichem Maße schuldig. Die Mächtigen haben große Entscheidungen getroffen und sind schuldiger als die Kleinen, die abhängig und passiv waren. Und dennoch müssen wir sagen: wir alle haben zugesehen und gebilligt, dass Mächtige die Natur destruierten – auch zu unserem vermeintlichen Nutzen.

Indem wir den Angriff gegen die Natur guthießen und bewunderten, uns den Wohlstand gefallen und die Eliten gewähren ließen sind wir allesamt schuldig geworden.

 

Fortsetzung folgt.