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Von vorne LXXVIII

Von vorne LXXVIII,

„Dem türkischen Präsidenten ist es gelungen, die YPG aus dem Grenzgebiet zu verbannen. Assad wiederum bekommt weite Teile Nordostsyriens zurück, muss dafür aber mit türkischer Präsenz leben. Große Verliererin ist die YPG. Nach dem Rückzug der USA rief die Kurdenmiliz Assad zu Hilfe. Nun aber hat auch Putin die YPG zugunsten der Türkei fallen lassen.“ (SPIEGEL.de)

Verlierer sind nicht nur Kurden, sondern der gesamte Westen, der bislang unter Führung Amerikas die Welt beherrschte. Die Führung geht nun an den Osten: an Russland. Im Wettbewerb der Systeme hat die Demokratie verloren, die Autokratie der Starken Männer (Strong Men) hat die Spitze der Welt erobert.

In vorsichtiger Distanz unterstützt vom Sonderfall China, das keine Diktatur eines einzelnen Mannes sein will, sondern ein digital überwachtes, geschlossenes System, eine merkwürdige Mischung aus Sozialismus und Kapitalismus, das sich zudem auf konfuzianische Traditionen beruft. Ob diese Elemente langfristig zusammenpassen oder nur unter purer Gewaltanwendung beisammen bleiben, wird sich erweisen, wenn der Westen immer bedeutungsloser, Moskau immer einflussreicher wird.

Werden Moskau und Peking sich die Führung der Welt teilen – oder werden sie gegeneinander antreten, um die endgültige Nummer Eins zu küren?

Ob Trump abgesetzt wird oder nicht: seine Macht stürzt ab. Macht beruht nicht nur auf Waffen, sondern auf Widerspruchslosigkeit. Wer Widersprüchliches will, zersplittert seine Kräfte und führt sie widereinander, anstatt sie konzentriert einem geballten Ziel entgegenzuführen.

Trump will Widersprüchliches. Seine heilsegoistische Kampfparole „Amerika zuerst“ will sich von der Welt abgrenzen, außenpolitischen Ballast abwerfen, sich auf seinen nationalen Reichtum konzentrieren – und gleichzeitig die Führung der Welt 

 behalten und ausbauen. Beide Ziele schließen sich aus. Der Präsident wütet gegen Freunde und kokettiert mit Erzfeinden.

Die Aufweichung starrer Freund-Feind-Linien hätte die Menschheit voranbringen können, wenn … wenn die neue Flexibilität die Vorderseite eines hintergründigen Friedenswillens gewesen wäre. Doch der amerikanische Präsident ist kein langfristig denkender Friedenspolitiker, sondern ein nimmersatter Dealer – der sich beklagt, dass sein Amt ihn Milliardenverluste kosten würde.

Sein Monopoly-Pokern zeigt nun das erste Ergebnis einer Tohuwabohu-Politik, mit dem sich weitaus klügere Nachfolger noch lange herumschlagen müssen. Verlierer sind nicht nur die USA, sondern ihre nächsten Verbündeten in Nahost: Israel und Saudi-Arabien. Sodann die gesamte EU, die mit einer wirren Mixtur aus Menschenrechts- und Wirtschaftspolitik nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht.

Ab jetzt muss Europa einen Zweifrontenkampf führen: a) gegen den bisherigen Rädelsführer in Washington und b) gegen einen auftrumpfenden „Osten“, der in einstmals blockfreien Ländern – vor allem in Afrika – neue Verbündete zu gewinnen sucht.

Hätten die Auguren besser hingeschaut, wäre der Westen schon lange gewarnt gewesen. Bewusstsein bestimmt das Sein oder mit Hölderlin zu fragen:

„Aber kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt, Aus Gedanken vielleicht, geistig und reif die Tat?“

Geistig und reif nicht, sonst Ja. Aus welchen Gedanken kam die Tat?

Schon am Ende der 60er-Jahre des verflossenen Jahrhunderts wurde das bis dahin herrschende wohlwollende Nachkriegsethos der Amerikaner unterhöhlt. Am Ende des Jahrhunderts formulierte Richard Perle, führendes Mitglied der Neokonservativen, jenen Grundsatz, der zum Ende der UN-Geltung führen sollte – dessen Grundidee der Menschheit eine friedliche Zukunft verschaffen wollte.

Die Idee eines Völkerparlaments war – wie schon nach dem Ersten Weltkrieg – aus Amerika gekommen. Es war Eleanor Roosevelt, Gattin des New-Deal-Präsidenten, die wesentlich dazu beitrug, das Grundkonzept der UNO zu formulieren:

„Als Vorsitzende der UN-Menschenrechtskommission war Eleanor Roosevelt die treibende Kraft bei der Schaffung der Charta von 1948, die für immer ihr Vermächtnis bleiben wird: die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.“

Die UN-Charta war die Basis der Nachkriegsordnung, mit der die kriegsbeschädigten Völker einen Neuanfang starten wollten. Das gelang auf bisher nicht gekannte Weise. Doch je mehr Frieden und Wohlstand das internationale Klima durchdrangen, umso langweiliger wurde es diversen Alphamännern, die gefährliche Risiken als Salz der Erde betrachten. Ohne Risiko kein Fortschritt.

Reagan und Thatcher begruben die letzten Reste des New-Deal, das soziale Abfedern des Kapitalismus, und bestiegen den feurigen Hengst des frei galoppierenden Neoliberalismus, um das öde gewordene Weltspektakel neu aufzumischen. Als es gar gelang, den Kalten Krieg zu beenden, die Mauer zwischen Ost und West zum Einsturz zu bringen, als Gorbatschow von einer friedlich geeinten Welt zu träumen begann, die ihre ökologischen Probleme gemeinsam lösen würde, entschieden sich die – im Geiste Carl Schmitts geschulten – Neokonservativen zum Gegenangriff.

Zwar schien es, als könnte die siegreiche Demokratie die Kriegsepochen der Völker für immer ad acta legen. Doch der Visionär des Weltfriedens, Francis Fukuyama, wurde von unbeugsamen Spielern der wölfischen Unheilsgeschichte à la Hobbes – unter ihnen alle deutschen Chefredakteure – erbarmungslos aus dem Weg geräumt. Es triumphierte Samuel P. Huntingtons Zusammenprall der Kulturen, der nur mit militanten Methoden gelöst werden konnte.

Klar, dass die neue Militanz korrekte Vorwände benötigte: die ganze Welt sollte demokratisch beglückt werden. Was aber, wenn sie nicht will? Dann gilt der Erlkönig:

„Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“

Die Neokonservativen, in ihrer Jugend nicht selten links, maskierten ihren aggressiven Rechtsruck mit hehren demokratischen Zielen. Doch bald erlahmten die guten Absichten, die Militanz stieg.

„Der Neokonservatismus gewann in der Person führender Politiker wie Paul Wolfowitz oder Richard Perle prägenden Einfluss auf die Grundzüge der amerikanischen Außenpolitik unter George W. Bush 2001 bis 2009. Diese Politiker und Intellektuellen gelten wegen ihrer Befürwortung militärischer Konfliktregulierung oftmals als Hardliner („Falken“) und werden als Architekten eines interventionistischen Unilateralismus der USA angesehen. Vielfach wird auch ein „imperiales Projekt“ dieser Kreise ausgemacht.“

Im Jahre 2003 befürwortete Richard Perle das imperiale Ende der Saddam-Hussein-Diktatur.

„Saddam Husseins Terrorherrschaft, so Perle damals, stehe vor einem schnellen Ende. Er werde aber nicht allein fallen, sondern – in einer Ironie des Abschieds – auch die Vereinten Nationen mit zu Fall bringen. Es werde nicht die gesamte UNO, aber die Vorstellung der UN als das Fundament der „Neuen Weltordnung“ sterben. In den Ruinen des Iraks seien auch die intellektuellen Trümmer der liberalen Einbildung zu besichtigen, es gäbe Sicherheit durch internationales Recht, administriert von internationalen Organisationen. Es sei eine „gefährlich falsche“ Idee, nur der UN-Sicherheitsrat könne die Anwendung von Gewalt legitimieren.“

Das war das angesagte Ende der UNO-Weltbedeutung, deren quälendes Dahinsiechen wir täglich erleben. Die Neocons hatten sich mit amerikanischen Biblizisten verbündet, die sie aus langem apolitischem Dämmerschlaf wachgeküsst hatten. Für beide Gruppen war die UNO die Repräsentanz heidnischer Welt mitten in Amerika und ein Verrat an den calvinistischen Uranfängen von Gods own country:

„Wirtschaftsethik sei in jeder Zivilisation richtigerweise „durch moralische und religiöse Tradition definiert, und es ist ein Eingeständnis moralischen Bankrotts zu behaupten, dass das, was das Gesetz nicht ausdrücklich verbietet, deshalb schon moralisch erlaubt ist“, schreibt Kristol in den 1980er Jahren. „Die Menschen brauchen Religion. Sie ist ein Bindemittel moralischer Tradition. Sie spielt eine entscheidende Rolle. Nichts kann ihre Stelle einnehmen.“

Gottlob war Hayek ein frommer Mann. Also konnte das Zurückpendeln der religionskritischen Aufklärungsatmosphäre in der Nachkriegszeit zur frömmelnden Gegenaufklärung beginnen. Das war der Beginn der Zeitenwende, deren Früchte wir gegenwärtig dankbar genießen dürfen.

„Ich glaube nicht, dass über Sittlichkeit auf der privaten Ebene entschieden werden kann. Ich denke, man braucht öffentliche Führung und öffentliche Unterstützung für einen moralischen Konsens. Die durchschnittliche Person hat instinktiv zu wissen, ohne darüber zu viel nachzudenken, wie sie ihre Kinder großzieht. […] Wenn man Maßstäbe hat, moralische Maßstäbe, dann muss man wollen, dass sie sich durchsetzen, und man hat letztlich zumindest für sie einzutreten.“ (Kristol 1983)

Hier sieht man eine Hauptquelle der gegenwärtigen Moralfeindschaft der Eliten. Moral hat sich im Privaten von selbst zu verstehen. Da darf es nichts zu klügeln geben. Instinktiv hat man zu wissen, was „sich gehört.“ Wer aber Politik moralisch gestalten will, kann nicht umhin, moralische Debatten anzuregen. Dieses nervende Pro und Kontra kann nur wegführen von selbstverständlichen Normen der Religion.

Beim Export der Demokratie in despotische Regimes wurden die GIs von der jeweiligen Bevölkerung mit Dankbarkeit und Bewunderung empfangen. Als die Befreiten allmählich die Kehrseiten der Befreier erlebten, begann ihr Jubeln ins Gegenteil zu kippen.

Ähnlich erging es allen Oststaaten nach dem Ende der sowjetischen Besetzung. Die Hochstimmung wich schnell einer lähmenden Enttäuschung, als sie mit den Tücken des Kapitalismus konfrontiert wurden: wir hofften auf Freiheit und erhielten Kapitalismus, „wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“. (Bärbel Bohley)

„Die amerikanische Weltordnung ist zu wohlwollend, besonders im Vergleich zu Alternativen wie der islamischen Theokratie oder dem chinesischen Kommunismus. Der amerikanische Imperialismus kann neue Hoffnungen auf Freiheit, Sicherheit und Wohlstand mit sich bringen.“ (Thomas Dollelly)

Der Kalte Krieg schien beendet, doch ein neuer wurde in vielen Etappen ausgebrütet.

Die vorbildlichste Demokratie der Welt hatte den nationalsozialistischen Totalitarismus besiegt, aber nicht die geringste Ahnung, was er bedeutete. Seit Popper ist Zwangsbeglückung der Kern des Faschismus. Weder in Amerika noch in Deutschland wurde seine Analyse zur Kenntnis genommen. Was zur Folge hatte, dass Amerika in törichter Einfalt seine Außenpolitik in faschistische Beglückungsmanie verwandelte. Platons Politeia blieb streng auf sich beschränkt. Amerikas Krakenpolitik sonnte sich in demokratischer Makellosigkeit:

Kam Widerstand aus Europa gegen den wohlwollenden Imperialismus Washingtons?

Selten kam es zu Gefolgschaftsverweigerungen, prinzipielle Kritik aus der platon-verehrenden BRD war ausgeschlossen. Nie hat sich Deutschland mit Amerika ernsthaft auseinandergesetzt. Bis vor kurzem verharrte es in verbissener Amerikaidolisierung. Erst Trump könnte es gelingen, die blinde Dankbarkeit zu beenden.

Die Neocons schlossen einen möglichen Konflikt mit Europa nicht aus:

„Allerdings sei bei dem weltweit angestrebten und von Vertretern des Neokonservatismus postulierten „Übergang zum demokratischen Kapitalismus“ die Frage der Vorherrschaft im „westlichen Lager“ selbst zu klären, weil es hier europäisch-amerikanische Gegensätze gebe.“

Das war eine glatte Überschätzung des europäischen Selbstbewusstseins. Nicht mal heute wagt es Merkel, ihrem Washingtoner Bruder im Herrn Paroli zu bieten. Sie zieht Gesichter, wenn sie neben ihm sitzen muss – als Beweis ihrer Zivilcourage gegen Freunde.

Fukuyama hingegen hatte sich von der Realpolitik der Neokonservativen klar distanziert.

„Er kritisierte z. B. den Irakkrieg der neokonservativ geprägten Bush-Regierung und nannte ihn «leninistisch».

Philosophischer Kopf der Neocons war der Carl Schmitt-Schüler Leo Strauss.

„Vielfach wird Strauss’ Einfluss dafür verantwortlich gemacht, dass der Neokonservatismus sehr ausgeprägte Züge des Machiavellismus aufweist. Insbesondere geht auf Strauss die Idee des „Mythos“ zurück. Dieses Konzept ist eng verbunden mit Strauss’ Ansatz, dass das Volk von der Elite belogen werden müsse. Dies ergibt sich aus Strauss’ tiefem Misstrauen gegen bzw. seinem Entsetzen über die liberale Gesellschaft. Der politische Mythos sei zwar nicht wahr, aber eine „notwendige Illusion“. Notwendig sei dies, weil die individuelle Freiheit die (einfachen) Menschen dazu verleite, „alles“ in Frage zu stellen, was dann die Gesellschaft insgesamt zerstören würde. Die Elite müsse diese Lügen öffentlich vertreten und leben, privat müssten sie diese natürlich nicht glauben.“

In seinem Buch „Naturrecht und Geschichte“ hatte Strauss die Erlaubnis zum Lügen theologisch korrekt hergeleitet.

„In dem Maße, in dem die Ordnung der göttlichen Vorsehung mehr und mehr für den Menschen verständlich, daher das Übel als notwendig oder nützlich angesehen wurde, verlor das Verbot, Böses zu tun, seine Evidenz. Deshalb konnten verschiedene Handlungsweisen, die zuvor als böse verdammt waren, jetzt als gut angesehen werden. Tatsächlich ist es nicht völlig falsch, Gerechtigkeit als eine Art wohlwollenden Zwang zu bezeichnen.“

Als das Buch von Strauss veröffentlicht wurde, war Poppers Kritik an Platons faschistischer Zwangsbeglückung längst erschienen. Mit Popper setzt sich Strauss nicht auseinander. Seine Meinung ist identisch mit dem christlichen Dogma, dass Gott sowohl mit dem Guten wie mit dem Bösen regiert. Das Böse ist ein unabdingbares Mittel göttlicher Gerechtigkeit.

Hier trafen sich der Fundamentalismus der neu erwachten amerikanischen Biblizisten mit der Antinomie der Neocons. Seitdem es der christlich-jüdischen Koalition gelang, Amerika in seine biblischen Urgründe zurückzustoßen und Europa in Schlepptau zu nehmen, begann der rapide Abbau der UN-Charta: Menschen- und Völkerrechte wurden als Moralismus geächtet, einer militant-rechtlosen Politik wurden Tür und Tor geöffnet.

Seitdem unterliegt die Politik der Völker nicht mehr der Bewertung durch einen strengen Menschenrechtskanon, stattdessen herrscht machiavellistische Bedenkenlosigkeit. Recht hat, wer Macht hat.

Für Alan Mittleman (vom American Jewish Committee) sind Neocons orthodoxe Juden. In seinem Aufsatz „Eine Stellungnahme aus jüdischer Sicht“ im Sammelband „Gott und Politik in USA, herausgegeben von K-M. Kodalle, schreibt er:

„Kristol zufolge hängen die neue positive Einstellung der Juden zu ihrer partikularen Identität und das erstarkte Selbstbewusstsein im Gemeinwesen mit einer Abwendung vom „universalistischen säkularen Humanismus“ zusammen. Die Juden werden jüdischer, aber sie scheinen merkwürdigerweise zu wünschen, dass die Christen „christlicher“ werden. Die Wende zu einer höheren Wertschätzung religiöser Identität sei im Rahmen eines weltweiten Trends zu verstehen, als Reaktion auf „eine tiefgreifende moralische und spirituelle Krise“, die die gesamte westlich-säkulare Mentalität erfasst hat.“

Die UN-Menschenrechtscharta ist geprägt vom universellen Humanismus der Stoa. Eine Gleichwertigkeit der Menschen kann es in Erlöserreligionen, die Erwählte und Verworfene kennt, nicht geben. Die jüdischen Aufklärer in Deutschland hatten ihre Augen vor dieser Menschheitsspaltung nicht verschlossen und Abschied von aller Offenbarungsweisheit genommen.

Religionskritik wird heute nicht selten (neben Kapitalismuskritik) als sekundärer Antisemitismus bezeichnet. Da er sich zumeist auf die universelle Menschenliebe des Sokrates und der Stoa bezieht, die in der UN-Charta zur weltpolitischen Bedeutung gelangte, würde das bedeuten: auch die UN-Charta müsste des Antisemitismus verdächtigt werden. Denn sie schließt alle partikularen Erwähltheits-Ideologien aus.

„Die Neokonservativen bestehen darauf, dass Politik und Recht abgestützt werden müssten durch die Geltung transzendenter Werte. Die Autorität religiöser Symbole sollte das öffentliche Leben stärken und strukturieren. Rein säkulare Legitimationen für Identität und Orientierung des Gemeinwesens sind unzulänglich, wenn es um das Überleben der Demokratie geht.“ (Mittelman)

Wer hier nicht die Böckenförde-Doktrin des deutschen Rechtskatholizismus wittert (ohne Verankerung im Religiösen keine stabilen demokratische Werte), hat nichts verstanden. Einer Koalition orthodoxer Christen und Juden ist es gelungen, den Aufklärungs- und Menschenrechtspfad der unmittelbaren Nachkriegszeit zu stoppen und in die Gegenrichtung zu lenken.

Die Rückwendung der Fundamentalisten zu ihren unfehlbaren Schriften ist eine Verleugnung der jüdischen Aufklärung – die nach der Definition rechtgläubiger Rabbiner gar nicht jüdisch sein konnte. So wenig, wie biblizistische Christen frei denkende Aufklärer sein können.

„Indem sich Juden auf die Seite der Aufklärung und des säkularen Humanismus schlagen, entscheiden sie sich gegen die Werte ihrer eigenen Tradition.“ (Mittelman)

Hier sehen wir den Grund, warum die Dominanz der Ultraorthodoxen die junge israelische Demokratie systematisch beschädigt. Und warum die Dominanz amerikanischer Biblizisten unvermeidlich zu Trump führen musste.

In Deutschland gerieren sich die Kirchen modern und demokratie-kompatibel. Die Rolle der Gegenaufklärung, die jede universelle Moral bekämpft, bleibt der intellektuellen und medialen Rechten überlassen, deren ordinäre Ausläufer die AfD bestimmen.

In Amerika geht es um die Frage: welche Tradition begründete unsere Demokratie: das Evangelium der ersten Calvinisten – oder die Aufklärung, die aus französischen und englischen Quellen stammt?

Mittelman zitiert aus der Abschiedsrede Washingtons, in der er emphatisch behauptet:

„Welch großen Einfluss man auch immer einer verbesserten Erziehung einräumen mag, so sprechen doch Vernunft und Offenbarung gegen die Annahme, die Moralität in der Nation könne unter Ausschluss religiöser Prinzipien gedeihen.“

Apart, dass ausgerechnet Vernunft für religiöse Erziehung plädieren soll. Nimmt man die Geschichte der Glaubenskriege, Inquisition, Ketzerverbrennungen und Hexenprozesse, so spricht Erfahrung mit dem Heiligen ganz und gar nicht für religiöse Prinzipien.

Auch die Unabhängigkeitserklärung ist eine eigenartige Mischung aus Vernunft und Glauben:

„Wir halten diese Wahrheiten für selbst-evident, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“

Schöpfer kommen in Vernunftsystemen nicht vor. Selbstevidente Wahrheiten kann es in Offenbarungsreligionen, in denen der natürliche Verstand der Menschen hopsgenommen wird, niemals geben.

Das Streben nach Glückseligkeit per Moral ist sokratisch, nicht neutestamentlich. Nicht Glückseligkeit auf Erden, sondern Seligkeit im Jenseits unter Aufopfern irdischen Glücks, ist das von Jesus befohlene Ziel des Menschen.

Wie stark war die Überzeugungskraft der Aufklärung in Deutschland?

A) Stark genug, um die „einfachen Menschen auf der Straße“ den biblisch-totalitären Sinn der Schrift zu vergällen und ihnen – aber erst nach Kriegsende – einen gewissen Sinn für Humanität zu verschaffen. Der einen Seite aus Shitstorm und Menschenhass (inklusive Antisemitismus) steht die andere Seite der Deutschen gegenüber, die zu spontanen Willkommensäußerungen und solidarischem Engagement fähig ist. Noch ist Hass gegen Menschen die (viel zu große) Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Doch das muss nicht so bleiben, wir müssen alles tun, damit es so bleibt. Der Amoralismus deutscher Eliten ist eine untergründige Rückwendung zu einem Glauben, für den Vernunft und autonome Moral Beleidigungen seines Gottes sind.

B) Aber zu schwach, um die Deutschen zur Erkenntnis zu führen, dass ihre moralische Grundhaltung mit nomineller Religionszugehörigkeit nichts zu tun hat. Das untergründige Gespür für diese Zusammenhänge aber scheint sich auszubreiten, sonst würden die Massen nicht zunehmend die Kirchen verlassen.

Die internationale Politik besteht heute nur aus Gewalt und wirtschaftlich-technischem Wettbewerb. Politik als Gestaltung des Humanen geht gegen Null. Überall Stillstand und Blockade. Hier substanzlose Brexitspielchen, dort endlose Beleidigungen und Impeachment-Drohungen, hier eine gelähmte Groko, die die Republik an allen Ecken und Enden verlottern lässt, dort ewig-erfolglose Regierungsbildungen, die eine Wahl nach der anderen fordern. Was bedeutet: Regierungen sind gar nicht mehr nötig. Die Politräder drehen sich von selbst.

Die Straßen sind erfüllt von Zorn und Empörung, die Regierenden kümmert es nicht. Bürgerkriegsähnliche Szenen nehmen zu. Anstatt die Wirtschaft gründlich zu verändern, damit das Klima sich erholen kann, setzen Regierungen in pathologischer Geistesabwesenheit auf unendliches Wirtschaftswachstum und Wundermaschinen, die uns das Heil bringen sollen. Humane Visionen darf es keine geben, Visionen von Marsflügen und Quantencomputern hingegen sind patriotische Pflicht.

Die Regression der Menschheit ins Abgrenzende und Gehässige ist eine Abwendung von der mühsam erkämpften Aufklärung und eine Rückkehr in Furcht und Zittern zu den Fundamenten der Erlöserreligion. Erlöser verheißen dem Menschen die Lösung aller Probleme in einem imaginären Jenseits.

Natur, Erde und Leben müssen für eine jenseitige Erlösung geopfert werden. Der Patient wird gerettet, indem er getötet wird. Die wahnsinnige Epoche der Religion muss beendet werden. Eine Lösung menschlicher Probleme kann es mit ihr nicht geben.

 

Fortsetzung folgt.