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Von vorne LXX

Von vorne LXX,

l‘état c’est moi: das galt in Frankreich.

Gilt in Deutschland: der Staat – ist sie: die Kanzlerin, die mächtigste Frau der Welt, die das Wörtchen Ich nur benutzt, wenn es nicht zu vermeiden ist?

Aber nein, die Kanzlerin herrscht nicht, sie ist die erste Dienerin des Staates. Am liebsten spricht sie in unpersönlichem Funktionsdeutsch, als ob sie Vorgänge überwachen müsste, die am besten laufen, wenn sie ungestört laufen – oder alternativlos. Automatisch? Ja, das träfe es am besten.

Wem also dient die Unpersönliche? Einer leise schnurrenden und summenden Maschine, die nur in Hochform kommt, wenn niemand an ihr herumschraubt oder – wenn man ihr voll und ganz vertraut. Wie stolz sind ihre einheimischen Untertanen, dass sie eine Physikerin als oberste Maschinistin haben. Gottgläubig zudem – für jeden Fall. Weiß doch niemand, was noch passieren kann. Doppelt gesichert hält besser.

Zuerst die perfekte Maschine, die sich vom Menschen losreißen muss. Auch Maschinen müssen sich lösen und dürfen sich auf Helikopter-Betreuer nicht verlassen, weshalb sich Intelligenz-Robotern eine glänzende Zukunft eröffnet.

Dann die Maschine, die in Gottes Hand ruht – für alle Fälle.  

Solange Maschinen nicht perfekt sind, müssen sie nachgebessert werden. Aber bitte nicht radikal, was alles nur verschlimmern würde. Sondern mit Mut zum Scheitern. Nur wer scheitern kann, verdient die Hilfe von Oben. Nicht anders als menschliche Moral, die in Gottes Moral ruht. Ohne Böckenfördes jenseitige Rückversicherungsmoral keine irdische Würde des Menschen.

Nein, der Staat ist nicht sie, die leise schnurrende Dienerin, sondern sie: die

Ambiguität, die schillernde, nie zu domestizierende Vieldeutigkeit:

„Der Raum für Kompromissfindung ist heute oft nicht mehr leicht zu finden. Man muss ihn sich häufig erst erarbeiten, weil die Ambiguität, wie man heute so schön sagt, nicht allzu sehr geschätzt wird. Man möchte sozusagen glasklare Positionen.“ Es sei falsch, „im Kompromiss nur etwas Faules zu sehen, ihn gar als Verrat am eigentlich Richtigen zu schmähen.“ (WELT.de)

Nun hat sie ihr Betriebsgeheimnis verraten, das Rezept ihres Erfolgs. Glasklare Positionen hasst sie und sucht ihr Heil im Dunkeln und Vagen, im Vieldeutigen, das sich aller Durchsichtigkeit entzieht. Im Dunkeln verbirgt sich das Göttliche.

Nein, die Kanzlerin ist keine Aufklärerin, denn das Symbol der Aufklärung ist das Licht. Sie ist die geniale pastorale Gegenaufklärung. Denn Ambiguitätstoleranz ist die Voraussetzung des Genies.

„Ambiguitätstolerante Personen sind in der Lage, Ambiguitäten, also Widersprüchlichkeiten, kulturell bedingte Unterschiede oder mehrdeutige Informationen, die schwer verständlich oder sogar inakzeptabel erscheinen, wahrzunehmen, ohne darauf aggressiv zu reagieren oder diese einseitig negativ oder vorbehaltlos positiv zu bewerten.“ (Wiki)

Novalis‘ Hymnen an die Nacht: „Gedanken, die sich selbst spalten, ambivalent oder plurivalent sind.“ (F. Heer) Wird Mehrdeutigkeit bewusst eingesetzt, gerät sie zur romantischen Ironie, für die Hegel nur Verachtung übrig hatte. Ironie ist die „selbstbewusste Vereitelung des Objektiven. Alles, was sich als schön, edel anlässt, zerstört sich hintennach und geht aufs Gegenteil. Es ist mit ihr Ernst um nichts.“

Merkel, eine staatlich vereidigte Ironikerin? Ihre medialen Begleitkolonnen wispern, privat sei sie schlagfertig und witzig. Private Eigenschaften, die sich weigern, politisch zu werden, sind idiotisch.

Wie aber steht‘s mit der sokratischen Ironie? Das war eine pädagogische Hilfsmaßnahme, eine paradoxe Intervention, um Dialogpartnern die Vieldeutigkeit der Sprache zu demonstrieren, damit sie präzises Denken und Reden lernen können.

Wie immer, geht es am Anfang um die Auslegung von Gottes Wort. Der brachialen Kritik der Aufklärer musste etwas entgegengesetzt werden. Die Aufklärer wagten es, die Bibel zu zerlegen, indem sie – ganz lutherisch! – sich auf den schlichten Wortlaut beriefen.

Das war infam, Luther mit sich selbst zu widerlegen. Was war dagegen zu machen? Menschensprache musste von Gottes Sprache streng unterschieden werden. Der menschliche Sündenverstand war nicht in der Lage, die Offenbarungssprache wirklich zu verstehen. Gottes Perfektion zerstreut sich in schillernde Vieldeutigkeit, wenn sie sich verdorbener irdischer Sprachen bedienen muss.

Die Kunst der Auslegung bestand im geistbegabten Erraten des göttlichen Ursinnes. Der Theologe Schleiermacher wurde zu einem Begründer der deutschen Deutungskunst oder Hermeneutik. So steht es wörtlich in der Schrift – was aber könnte Gott damit gemeint haben?

In der theologischen Romantik wird die Eindeutigkeit der Sprache begraben. Alles muss hermeneutisch gedeutet werden. Das Kirchenvolk ist dazu nicht in der Lage. Seit der Romantik spaltet sich die Gemeinde endgültig in eine Brahmanen-Hierarchie, oben die Schriftdeuter, unten das dumpfe Volk. Die historisch-kritische Methode ist den Schäfchen bis heute ein Buch mit sieben Siegeln.

Der Bibel-Kritik der Aufklärung, die sich allmählich im Volk herumsprach, musste begegnet werden, indem der gottlosen Vernunft alle Deutungs-Kompetenz entzogen wurde. Das gelang nur, indem der Sprache alle vernünftig Eindeutigkeit und Klarheit geraubt wurde. Gott wurde – Ähnlichkeiten mit der Gegenwart sind rein zufällig – zu komplex, als dass Krethi und Plethi ihn mit ihrem simplen Alltagsverstand hätten verstehen können.

Luthers Prinzipien: sola scriptura, solo verbo, allein durch die Schrift, allein durch das Wort, waren wider Erwarten in die Hände der Gottlosen gefallen. Aus dieser babylonischen Gefangenschaft mussten sie gerettet werden. Womit? Mit Charisma, der erleuchteten Gnadengabe des Heiligen Geistes. Das Pfingstereignis, die Ausgießung des Geistes, wurde zur Voraussetzung jeder Auslegungskunst.

„Und die wurden alle mit dem heiligen Geist erfüllt und fingen an, in anderen Zungen zu reden, wie der Geist ihnen auszusprechen gab.“

Die Ausgießung des Geistes wurde in der Romantik zur hermeneutischen Methode der Deutschen – bis zum heutigen Tag. Aus der Schrift machen charismatische Deuter, was ihnen beliebt.

Was beliebt ihnen? Nachzuweisen, dass ihr veralteter, widersprüchlicher, antinomischer Inhalt mit jedem wechselnden Zeitgeist mithalten kann. Entweder man pickt passende Zitate heraus, dreht und wendet die Worte so lange, bis sie modern klingen – oder man befindet kurzerhand: veraltet, unbrauchbar, Gottes Geist ist weitergewandert und erfindet sich von Epoche zu Epoche neu.

Die theologische Zauberkunst verbreitete sich in allen weltlichen Disziplinen und wurde – zum Relativismus, Subjektivismus und zur Postmoderne. Jeder nimmt wahr, wie sein gottähnlicher Geist ihm befiehlt.

Die Moderne hat den „gesunden Menschenverstand“ des Lesens und Verstehens aufgegeben und ist zur Erbin der Romantik, zur wissenschaftlichen Schwärmerei geworden. Schleiermacher, Novalis & Co hätten ihre helle Freude, wenn sie die schillernden Deutungsmethoden der heutigen Intelligenz erleben dürften.

Wenn man sich nicht mehr versteht, sich nicht verstehen darf, wenn Wörter und Begriffe ihre Bedeutungen schneller ändern als Vettel seine Runden dreht: dann ist Matthäi am letzten mit jeder Gesellschaft.

Warum können die Deutschen nicht streiten? Weil sie ihre Sprache verkommen ließen. Wie soll man sich verständigen, wenn jeder seine Begriffe anders versteht als sein Gesprächspartner? Hat man in Talkshows jemals die Frage gehört: Was verstehen Sie unter Markt, Liberalismus, links, rechts, modern?

Die Sprache muss wieder zum verlässlichen Instrument der Verständigung werden, anders gibt es keine Möglichkeit, das Zerbröckelnde und Zerfließende der gegenwärtigen Selbstauflösung zu stoppen.

Es wäre auch die Aufgabe der Politikerkaste, sich an diesem kathartischen Geschäft zu beteiligen. Doch sie machen das Gegenteil. Je schneller sie schwatzen, je fluider schwimmen sie dem Verhängnis entgegen.

Merkel immer dabei mit einer harmlos klingenden Mütterchen- und Küchensprache. Explosive Begriffe wie Kapitalismus, Neoliberalismus, Marxismus nimmt sie nicht in den Mund. Dabei müsste sie ununterbrochen zu klären versuchen, was die Begriffe bedeuten, die gerade in aller Munde sind. Stattdessen bevorzugt sie eine Art kindlicher Kitasprache, die vom unreinen Geist des Intellekts noch nicht befleckt ist. Dass sie in ihrer Festrede den ungewöhnlichen Begriff Ambiguität verwendete, war nur dem hohen nationalen Feiertag zu verdanken.

An dieser Stelle wäre es nicht unangebracht, über mögliche Ursachen der anti-aufklärerischen Romantik nachzudenken. Wie die Postmoderne ins Unberechenbare floh, um dem Ungeist des Berechenbaren in den Naturwissenschaften zu entkommen, so war die Romantik, der Mutterboden der Postmoderne, eine Reaktion auf die coole Ratio und den mechanischen Charakter der Aufklärung, die in hohem Maße vom Erfolg der Newton‘schen Physik inspiriert war.

„Schleiermachers Berufung auf das lebendige Gefühl gegen den kalten Rationalismus der Aufklärung, Schillers Aufruf zur ästhetischen Freiheit gegen den Mechanismus der Gesellschaft waren Vorklänge eines Protests gegen die moderne Industriegesellschaft. Henri Bergson, F. Nietzsche waren Abwehrbewegungen gegen die Mechanisierung des Lebens im Massendasein der Gegenwart.“ (Gadamer, Wahrheit und Methode)

Die Animosität des Bismarckreiches gegen die englischen Krämer waren Widerstandsbewegungen gegen den Vorrang des mechanischen und quantitativen Kapitalismus. Gleichzeitig hatte das zweite deutsche Reich in rasender Aufholbewegung seine wirtschaftliche, technische und wissenschaftliche Zurückgebliebenheit überwunden und war – parallel mit den USA – an die Weltspitze vorgerückt. Die Aversion der Helden gegen alles „Moderne“ war eine Aversion gegen sich selbst, die sie nicht wahrnehmen wollten und als abgespaltenen Hass gegen die westlichen Demokratien ausagieren mussten.

Nicht alle Kritik der Romantiker an Naturverschmutzung und kapitalistischer Ausbeutung war unberechtigt. Ihr großer Fehler bestand in der Identifizierung politisch-moralischer Vernunft mit der „instrumentellen Vernunft“ der Naturwissenschaften und deren Bemühen, das ganze Leben in einen berechenbaren Mechanismus zu verwandeln. Wissenschaften verkörpern nur eine untergeordnete Form der Ratio. Diese müsste ergänzt werden von einer prüfenden autonomen Vernunft.

Ist Natur nur ein berechenbarer Mechanismus? Ist der Mensch nur eine Maschine? Ist sein Geist nur eine unsterbliche Seele oder eine sentimentale Schwärmerei? Wenn sie in Bedrängnis kommen, vergessen die Deutschen all ihre dialektischen Künste. Entweder versöhnen sie alles, was nicht versöhnbar ist – oder sie werfen missgelaunt auf den Müll, was noch brauchbar und notwendig gewesen wäre.

Allgemeine Vernunft als Prüf- und Orientierungsmittel selbstbewusster Demokraten: unbedingt ja. Berechenbarkeit der Realität zu bloßen Herrschafts- und Ausbeutungszwecken von Mensch und Natur: niemals.

Die Romantiker ahnten und spürten, dass etwas faul sei im Staate Dänemark. Anstatt aber genau hinzuschauen, schütteten sie das Kind mit dem Bade aus. Die notwendige Rebellion gegen den natur- und menschenfeindlichen Fortschritt wurde zum Aufstand gegen die Vernunft selbst, der einzigen Leuchte des Menschen auf seinem Weg ins Freudige und Freie. 

Merkels Aufstand gegen „glasklare Positionen“ ist ein Aufstand gegen die Vernunft, die einzige Instanz, die uns zeigen könnte, wohin wir uns wenden müssten, um immer menschlicher zu werden.

Warum muss alles hyperkomplex und unübersichtlich sein? Weil es keine Lösungen geben darf. Warum darf es keine Lösungen geben? Weil das Schicksals des Menschen in Gottes Hand zu ruhen hat. Merkels Verachtung der Vernunft ist ein Gelöbnis an ihren Gott: nichts wird mich davon abbringen, deine Allmacht einen einzigen Augenblick in Frage stellen zu lassen.

Merkels Rede am höchsten deutschen Politfeiertag vor geladenen Gästen, eingerahmt von einem ökumenischen Gottesdienst, war die prunkvolle Kulisse, um es Greta und der rebellischen Jugend heimzuzahlen. „… dass es manchmal bequem sei, die Ursache eigener Fehler, eigener Unzulänglichkeiten bei den Umständen, beim Staat, bei der Politik zu suchen.“ Niemand könne sich darauf berufen, „dass der Staat hier und dort nicht perfekt funktioniert hat und dass deshalb das eigene Leben nicht gelungen ist und nicht gelebt werden kann und das der Kinder und Enkel auch nicht.“

„Manchmal“ – die unauffälligen Relativierungsbegriffe! Damit niemand nörgeln kann, Merkel bügele alles in Gut-Böse-Manier nieder. Der aufbegehrenden Jugend wird – ohne dass sie bei Namen genannt wird – bescheinigt: macht nicht die ganze Welt für eure verpfuschte Zukunft verantwortlich.

Hayek hätte gejubelt über die These: jeder ist selbst verantwortlich für sein Versagen. Dass die Schwachen und Abgehängten von der Gewalt einer übermächtigen Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, dieses ABC jeder Soziologie ist bei der Tochter eines sozialismus-affinen Pastors nicht angekommen.

Ausgerechnet jetzt, wo die bislang passiv scheinende Jugend mit erstaunlicher Energie sich zu tummeln beginnt, um ihre Zukunft nicht zu gefährden, ausgerechnet jetzt wird ihr von Oben bescheinigt: zurück auf euren Platz. Kümmert euch um euren eigenen Kram und belästigt uns nicht mit euren Panikattacken.

Wen machte Schröder für den Niedergang der deutschen Wirtschaft verantwortlich? Die Ohnmächtigsten und Schwächsten, die gefedert und geteert – pardon, gefordert und gefördert – werden mussten, um den Bankrotteuren wieder den gewohnten Profit zu verschaffen. Gott gebührt alles Lob für seine Verdienste, dem Menschen alle Höllenstrafen für seine Schuld. Dieselbe Straf- und Schuldverteilung wie im Kapitalismus. Eliten sind immer Akteure des Kulturaufstiegs, der Pöbel immer schuld an dessen Krisen.

Noch vor wenigen Tagen erhielt Greta von Angela ein vergiftetes Lobsprüchlein, damit der Kanzlerin niemand Schwarz-Weiß-Denken vorwerfen kann. Jetzt wird Greta von Angela gnadenlos ausgebuht. Zuerst mit der absurden Wundererwartung, die Technik werde die Menschheit schon nicht im Stiche lassen. Wozu entstünde eine geniale, menschheits-übertreffende KI-Generation, wenn nicht, um CO2 mit gigantischen Staubsaugern aus der Atmosphäre zu saugen?

Eine lebendigere, demokratischere Jugend als die FfF ist nicht denkbar. Gerade sie wird von Merkel an die Wand gestellt: kehrt vor der eigenen Tür und lasst mich in Ruhe mit euren nervigen Forderungen. Politik ist die Kunst des Möglichen.

Das war das Motto des Reichsgründers Bismarck, dem der Historiker Theodor Mommsen bescheinigte, Bismarck habe den Deutschen das Rückgrat gebrochen. Bismarck mit kalter Rücksichtslosigkeit, Merkel mit perfektem Christengesäusel. Während Trump immer mehr die Hosen runterlässt, um einen enthemmten Veitstanz hinzulegen, hüllt Merkel sich immer mehr in den Talar mit dem lutherischen Beffchen.

Sie lässt nicht nach, Demokratie in eine Kompromissorgie zu verschandeln. Wer zum Buch „Die athenische Demokratie“ von J. Bleicken greift, wird im Register das Stichwort „Kompromiss“ vergeblich suchen. Kunststück, wird man sagen, Athen war eine direkte Face-to-Face-Polis. Heute hätten wir‘s mit einer repräsentativen Millionenveranstaltung zu tun. Unsinn.

Der wahre Grund liegt in der Feigheit der Parteien, grade zu stehen für ihre Überzeugungen – die sie längst in die Tonne geworfen haben. Anstatt klare Wahlkampf-Parolen zu verkünden und sie, bei Erfolg möglichst unverfälscht zu realisieren, verstecken sie sich hinter endlosen Koalitionsballungen. Hier kann in unendlichen Wiederholungen das Spiel gespielt werden: ist ihre Politik erfolgreich, reklamieren sie alle das Verdienst, geht sie baden, waren die Anderen die Sündenböcke.

Das Verhältniswahlrecht zwinge zu Koalitionen und Kompromissen? Dann wäre zu überlegen, ob eine Mehrheitswahl nicht ehrlicher, weil falsifizierbarer oder verifizierbarer wäre. Dass es keine klaren Mehrheiten für eine Partei gibt, liegt auch an den Kompromissformeln des Wahlkampfes. Kompromisse aber sind nur möglich auf der Grundlage scharfer Alternativen. Woher aber nehmen, wenn jeder Politiker nur Kompromissformeln wälzt? Kommt ein Kevin Kühnert mit einem nicht ganz so vagen Vorschlag, wird ihm bescheinigt: schlag dir das aus dem Kopf. Bringt nichts.

Vorauseilende Gedankenzensur unter dem Blickwinkel des Erfolgs hat jedes Grundsatzdenken gelöscht. Kompromisse ohne basale Radikalforderung sind als Kompromisse nicht mehr zu erkennen.

Wovon sollen Abstriche gemacht werden, wenn nichts mehr da ist, von dem abgestrichen werden kann? Kompromisse sind zeitlich limitierte praktische Zugeständnisse, die nach der Wahlperiode auf ihre Tauglichkeit überprüft werden müssten. Die nächste Wahlperiode begönne erneut mit kompromisslosen Parolen, die sich aus der Überprüfung der vergangenen Kompromisse ergeben haben.

Stattdessen geschieht was? Die Parteien machen Versprechungen, von denen sie genau wissen, dass sie sie niemals einhalten werden – weil das nächste Kompromiss-Tohuwabohu bereits vor der Türe steht. Mit anderen Worten: die Parteien betrügen offiziell, wie die Gesellschaft betrogen werden will.

Wenn unbekannte Demagogen aufsteigen und dem Volk Versprechungen machen, die sie nie einlösen können, werden sie Populisten gescholten. Wenn Parteien dasselbe tun – werden sie von den Medien gerühmt, wie rational, pragmatisch und versöhnlich sie seien. Nichts davon sind sie, sich und die Öffentlichkeit betrügen sie vor laufenden Kameras.

Was Merkel völlig übersieht: solange es um Peanuts ging, waren traditionelle Kompromisse möglich. Jetzt geht es um Sein oder Nichtsein. Was ist ein vertretbarer Kompromiss zwischen Leben und Tod?

Bislang waren die meisten Kompromisse faule Kompromisse. Dieser kritische Begriff ist heute verschwunden. Was unterscheidet faule von vertretbaren Kompromissen?

Der Werdegang der letzteren wird der Öffentlichkeit offen mitgeteilt. Wer forderte was? Wer war wessen Lobbygruppe? Wie liefen die Phasen der Verhandlung? Transparenz im Rangeln um eine faire Verständigung gibt dem Publikum die Möglichkeit, die Lauterkeit der Verhandlungspartner kennen zu lernen.

Faule Kompromisse werden in nächtlicher Wichtigtuerei geschlossen. Wer für welche Ergebnisse eintrat, bleibt Staatsgeheimnis. Wie Jesus mit Nikodemus nächtens sprach, um dessen Seelenheil zu retten, so agieren seine abendländischen Politfrommen, um ihr Werk in die rechte Aura zu rücken.

In Athen wurden Meinungsverschiedenheiten durch Streiten, Debattieren und Nachdenken über die Probleme der Welt zu lösen versucht. Danach erst Abstimmungen in der Volksversammlung. Die Methode des Dialogs als Mittel der Verständigung wird von Merkel mit keiner Silbe erwähnt.

Dass die Kanzlerin keine dialogischen Fähigkeiten zeigen muss, liegt am Publikum, das diese Fähigkeiten nicht einfordert. Keine Anne Will stellt wirkliche Fragen oder drängt auf begriffliche Klarheit. In Gesprächsrunden mit dem Volk dürfen nur Fragen gestellt werden, die von der Kanzlerin mit Floskeln abgefertigt werden. Der Kanzlerin ist die Kunst des heidnischen Dialogs nicht beschieden. Wie ihr Herr sich nie auf eine Debatte einließ, sondern mit göttlicher Vollmacht sprach – so auch sie. Nachhaken und Streiten nicht erlaubt. Ein mündiges Volk würde dieses unwürdige Schauspiel mit Verachtung bestrafen.

Merkel hat ihrer Feiertagsrede das passende Framing verschafft. Katholische und evangelische Priester sorgen für das notwendige Tremendum und Faszinosum, um das Publikum sakramental einzustimmen. Andersgläubige und Andersdenkende gucken in die Röhre.

Dann die garantiert störungsfreie Zuhörerschaft aus sorgsam ausgesuchten Stützen der Gesellschaft. Wurde eine Delegation der Jugend eingeladen, um ihre Gegenrede zu halten? Wir seien nicht in der Schwatzbude? Verpflichtet denn eine politische Feier zur heuchelnden Harmonie?

Die Feier sollte im Zeichen der Einheit stehen. „Nein zu Intoleranz, Ausgrenzung, Antisemitismus, Leben auf Kosten der Schwachen und Minderheiten.“ Die Kanzlerin plädiert für hochmoralische Werte, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass ein Großteil ihrer Eliten jeden Moralismus von der Platte fegt.

Zudem scheint sie vergessen zu haben, dass sie eine dogmatische Vertreterin der kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft ist, in der Schwache und Diskriminierte mit Vorsatz erzeugt werden – damit die Sieger des Wettbewerbs sich als Champions empfinden dürfen. Bigotter geht es nicht, als im Rahmen einer Scheinharmonie alles zu verleugnen, was die Wirklichkeit des Merkel‘schen Staates unrühmlich auszeichnet. 

Merkel hat keine Demokratie im Blut. Sie zelebriert ein fremdes Schauspiel, das sie in der Jugend verachten musste, in der Pose einer demütigen Klassenbesten. Ihr Scheinhandeln entspricht der Sehnsucht der Deutschen nach einer Mutter, die ihnen die Illusion des Immerweiterso nie nehmen wird.

Von Merkel reden heißt, von den Deutschen reden. Doch über das Volk darf nicht gesprochen werden. Es wird sowohl verachtet wie tabuisiert. Man traut ihm nichts zu, hält es für dumm und träge – dennoch darf es nicht attackiert werden. Denn alle Gewalt geht vom Volke aus.

Als unberührbare letzte Instanz muss das Volk von allen Scharmützeln verschont werden. Mit anderen Worten: das Volk wird nicht ernst genommen. Man traut ihm nicht zu, ehrliche Kritik zu verkraften und auf Attacken überlegt zu reagieren. Weckt den schlafenden Leu nicht, er könnte aufwachen und bemerken, was Sache ist. Dann wehe uns, wenn er seine hasserfüllten Schlüsse zöge.

„Freiheit sei Verantwortung, die eigenen Grenzen zu erleben, ohne dann die Schuld bei anderen abzuladen.“

Welch erschreckender demokratievernichtender Satz. Wer Verantwortung trägt, sucht alle Schuld bei sich?

Das ist eine Einladung, den Erlöser zu imitieren, der alle Schuld der Welt auf seine Schultern lud. Zu welchem Zweck? Um alle, die nicht an ihn glauben, der Verdammnis zu übergeben.

Verantwortlich ist es, die verschiedenen Verantwortungen aufzuspüren und allesamt zur Verantwortung zu ziehen. Wer am meisten Macht hatte, wer vom Volk gewählt war, ist am schuldigsten.

Sein eigenes Versagen sollte man nicht vergessen. Doch es wäre verlogene Christusähnlichkeit, alle Entscheidungsträger und Mächtigen nicht zur Rechenschaft zu ziehen.

Merkel will zur unantastbaren Führerin aufsteigen, die für ihr Versagen nicht einstehen will. Ihre Rede war der jammerbare Versuch, die Bevölkerung zu nötigen, sie endlich in Ruhe die Rolle der unantastbaren Gottesdienerin spielen zu lassen.

Ihre Demokratieblindheit geht so weit, dass sie ihren vergötterten Richard Wagner zitieren muss, bekanntlich das Vorbild eines charismatischen Führers: „Verachtet mir die Meister nicht.“ Wäre Kritik also gleichbedeutend mit Verachtung? Mit Demokratie haben solche Sätze nichts mehr zu tun.

Was meinte Wagner mit den Meistern?

„Was deutsch und echt, wüsst‘ keiner mehr,
lebt’s nicht in deutscher Meister Ehr‘.
Drum sag‘ ich euch:
ehrt eure deutschen Meister!“

Eben noch plädierte Merkel für übernationale Kooperation, um die Probleme der Welt gemeinsam zu lösen. Eben noch warnte sie vor steigendem Antisemitismus. Jetzt badet sie in eitlem Nationalismus und beruft sich auf einen der einflussreichsten Antisemiten der jüngsten deutschen Geschichte.

Das Zitat entlarvt den wahren Sinn ihrer Meisterverehrung: am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Und wie reagieren deutsche Öffentlichkeit und Medien? Schweigen im Lande.

Wahrhaft, unsere Vergangenheit haben wir bewältigt, unsere Zukunft werden wir auch noch klein kriegen.

 

Fortsetzung folgt.