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Von vorne LXVII

Von vorne LXVII,

Bewegungen kommen und gehen, die Mächtigen bleiben bestehen.

Heute demonstrieren sie wieder, die Umerzieher, Blauäugigen, Kranken und Aggressiven. (CDU-Merz hält Greta Thunberg für meschugge.) Doch die Messer der Zensoren sind bereits gewetzt: wehe, wenn weniger kommen. Dann weiß man, wie viel Spreu bereits die Flatter gemacht hat.

Wartet, wartet noch ein Weilchen, dann gehen sie wieder brav in die Schule und büffeln für den Vorstandsposten, den sie nie erreichen werden. Die obersten Wirtschaftsregenten rekrutieren sich nur aus sich selbst. Geldadel verpflichtet.

„Die Teilnehmerzahl am vergangenen Freitag war auch deshalb so hoch, weil nicht nur die üblichen „Fridays for Future“-Demonstranten auf den Beinen waren. Viele machten vermutlich ihre erste Demo-Erfahrung. Im Fußball gibt es die Spezies des „Event-Fans“. Gemeint sind Zuschauer, die nur dann im Stadion auftauchen, wenn es gerade angesagt ist. Heute wird sich zeigen, ob es sich beim Gros der Demonstranten um „Event-Klimaschützer“ handelte – oder ob ihr Engagement nachhaltig ist.“ (SPIEGEL.de)

Markus Feldenkirchen hätte auch bangen können: hoffentlich wächst die Zahl der Weltretter. Oder ermuntern: kommt, lasst nicht nach, Bewahrer dieser Erde. Nein, Überlebensunabhängig hebt oder senkt der Zensor den Daumen, wie beim Beobachten einer blutigen Arenaschlacht, dessen Ausgang ihn nichts angeht. Hauptsache spannend und von flüchtigem Augenblickswert.

Das Neue lauert schon an der Ecke, um die Quote zu sichern. Das Neue hätte schon längst alle Preise dieser Welt kassieren müssen. Ohne Vernichten des Alten gäbe es keinen Fortschritt, kein Wirtschaftswachstum, keine Papierverschwendung überflüssiger Postillen und Gazetten, keine Handy-Total-Verkabelung wahrnehmungsloser Zeitgenossen.

Erinnert sich noch jemand an Attac, eine globalisierungskritische Bewegung, der beizutreten fast zum guten Ton gehörte? Heute sind die Schwärmer bedeutungslos

geworden, selbst die Gemeinnützigkeit wird ihnen vom Staat bestritten.

Ohnehin kommt Weltsport, da muss die Pflicht der guten Laune weichen. Und was für ein Sport – der alle Naturgesetze ignoriert und alle ökologischen Maßnahmen in der arabischen Wüstenhitze verheizt!

„Warum findet der Marathon um Mitternacht statt? Weil es sonst zu heiß ist. 38 Grad sind es in Doha noch im Herbst. Deswegen weichen die Marathonis und Geher auf die Nacht aus. Da freut sich der Biorhythmus. Alle anderen Wettkämpfe finden in einem gekühlten Stadion statt. Im Khalifa International Stadium wird es durch ein Kühlsystem nicht wärmer als 26 Grad sein, dabei steht das Dach offen. Klingt nach Gretas Albtraum.“ (ZEIT.de)

Ob die Bildungskanäle sich das Geschehen entgehen lassen werden? Was für eine Frage! Haben sie doch sonst nichts, um den Ringelspielen und Quiz-Erheiterungen ihrer 100-köpfigen Inzest-Gemeinde für einige Tage zu entkommen. Politik ist für die steuergebetteten Kanäle zur sauren Pflicht geworden. Um der Sportquote willen wird alles Politische nach Möglichkeit verschoben oder ganz gestrichen. Selbst der schneidige ZDF-Kleber muss weichen, wenn die Konkurrenz mit Fußball aufwartet.

Als die Klimaberichte hätten einschlagen müssen wie Raketensalven: gab es da fulminante Programmveränderungen? Wurde der Klamauk gestrichen, um tagelang aus allen Perspektiven die Situation der bedrohten Erde zu schildern? Weshalb unterhalten sie ein teures Netz von Auslandskorrespondenten, wenn diese nicht mal bei maximaler Gefahr „sich auf den Weg machen“, um schonungslos zu zeigen, was ist?

Nein, das Wochenende ist geheiligt, den fidelen Pflaumes, Kerners und Dieter Bohlens vorbehalten. Wenn ihr schon Ungemach droht, will die Welt beim vergnügten Chips-Futtern nicht gestört werden.

Jede Ähnlichkeit mit dem untergehenden Rom – abwegig. Waren doch die römischen Massen im Kolosseum tapfer genug, dem gegenseitigen Abschlachten der Matadore in persönlicher Präsenz standzuhalten. Während die zartbesaitete Moderne Bilder ertrinkender Flüchtlinge, verhungerter Kinder und brennender Urwälder mit leichtem Druck des Daumens jederzeit abschalten kann. Nur keine übertriebene Empathie: das muss echter Fortschritt sein:

„Hungernde, Textilarbeiter, Flüchtlinge, Klima: Je öfter die weltweit Leidenden, meist medial vermittelt, in den Fokus der Öffentlichkeit geraten, desto wichtiger ist es, die Grenzen globaler Empathie zu kennen. Kein Einzelner kann mit jeder geschundenen Kreatur überall und jederzeit mitleiden. Das überfordert den Seelenhaushalt. Wer sich von der Not anderer vollkommen einnehmen lässt, verliert den Sinn für das Machbare – und für sich selbst. Gefühl muss sich mit Vernunft und Folgenabschätzung paaren, das Maß an Empathie muss wohldosiert verteilt werden. Wer das Mitgefühl idealisiert, gerät in Gefahr, die Welt zu verschlimmbessern.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Die große Welt verkommt, mit ihr die kleine:

„Das ist nicht mehr mein Berlin, wie ich es kenne. Wenn ich auf die Straße trete, begegnet mir oftmals eine Aggressivität, eine Respektlosigkeit und ein Tempo, vor dem ich mich verstecken will. Diese Stadt will sich jeden Tag selber überholen. Die Menschen hier atmen hektisch ein – aber kaum wieder aus. Freiheit wird im Moment häufig missverstanden: Sie wird mit Trinkspielen auf der Straße und Partys verwechselt. Die Menschen, die eben das hier suchen nehmen der Stadt mehr, als dass sie ihr geben. Dabei herrscht eine oberflächliche Weltoffenheit, die aber schnell an Wertigkeit verliert, sobald man den Bereich des Gegenübers betritt. Das ist so auf dem Wohnungsmarkt, im Straßenverkehr und im kulturellen Leben.“ (Berliner-Zeitung.de)

Nicht Geld trickelt von Oben nach Unten, das Unbehagen rauscht wie ein Wasserfall aus den Etagen des Luxus in die Verwirrnisse der Abhängigen. Sind denn die Reichen nicht glücklich? Oh, sie kennen die vorgeschriebene Bescheidenheitsformel vornehmer Klassen: Reichtum macht nicht glücklich, er beruhigt. Oder in Worten Thorstein Veblens, des amerikanischen Luxusbeobachters:

„Hat man die klassengemäße Norm erreicht, weicht die chronische Unzufriedenheit einem ruhelosen Streben. Müsste es nicht möglich sein, die wirtschaftlichen Bedürfnisse einer Gesellschaft an einem bestimmten Punkt der industriellen Entwicklung ganz zu befriedigen? Da der Kampf in einem Wettlauf um Ansehen und Ehrbarkeit besteht, die beide auf einem diskriminierenden Vergleich beruhen, kann das Ziel der Zufriedenheit nie erreicht werden.“

Da Ruhelosigkeit als Glückseinbuße auf Dauer unerträglich ist, haben die Reichen die Ruhelosigkeit zur kreativen Unruhe erhoben, ohne die kein Fortschritt denkbar wäre. Ja, ein Gefühl wechselt sein Geschlecht, verliert seine weibische Passivität und mausert sich zum virilen Sieger. Wär doch gelacht, wenn defekte Alt-Gefühle durch Besitzerweiterung nicht dialektisch umfunktioniert und auf eine höhere evolutionäre Stufe gehievt werden könnten. Auch hier bestimmt das Sein, gemessen in harter Währung, das psychische Bewusstsein. Die besten Psychologen sind die Wirtschaftsweisen.

Noch heute berufen sich flotte Schreiber auf die unsichtbare Hand von Adam Smith – und schwupps, sind alle Probleme von der Börse bis zum Klima gelöst. In der Tat dachte der englische Stoiker in finalen Harmonien. Ignorante FfF-Demonstranten sollten deshalb ökonomische Klassiker lesen – um beschämt auf die Schulbank zurückkehren.

Smith will Leistung und soziale Koexistenz „auf friedliche Weise in Einklang bringen, ja zum Wohle des Gemeinwesens miteinander versöhnen. Es ist eine friedliche Botschaft, im schroffen Gegensatz zum inhumanen Klassenkampf bei Marx.“ (Vorwort zu „Wohlstand der Nationen“ von H. C. Recktenwald)

Nur: Ökonomen mögen rechnen können, lesen können sie nicht. Ihnen wäre aufgefallen, dass die Harmonie des Adam Smith mit der heutigen Wirtschaft nichts zu tun hat. Schon bei Malthus und Ricardo beginnt die „pessimistische Ökonomie“, wonach es sich in der Wirtschaft stets um erbarmungslosen Wettbewerb handelt. Von Warren Buffett auf die treffliche Formel gebracht: zwischen Reichen und Armen ist Krieg, wir Reichen werden ihn gewinnen.

Die wachsende Kluft zwischen Vermögenden und Unbemittelten bezieht sich nicht nur auf Diridari, sondern auf Machtgefälle und Gefühle. Die Armen leben in Sorgen und Ängsten, die Reichen glauben sich aller Sorgen entledigt, wenn sie ihre Konkurrenten in den Schatten stellen konnten.

Hätte Smith’s Harmoniegesetz sich durchgesetzt, lebten wir heute im Paradies. Der absolute Widerspruch zum englischen Aufklärer dominiert heute die Welt – und dennoch berufen sich hinterlistige Ökonomen noch immer auf dessen humanen Optimismus, um die übelsten Fakten zu beschönigen. Die Ökonomen müssen bei Theologen gelernt haben, aus kanonischen Texten zu machen, was ihnen beliebt.

Der Entweder-Oder-Wettbewerb ist es, der die modernen Nationen spaltet und zerstört. Jener Wettbewerb, der schon in der Grundschule den Kindern mit Belohnung und Strafe eingebläut wird, weshalb die Schule nie eine Bildungseinrichtung sein, schon gar nicht „faire Bildungschancen“ bieten kann. Kein Zufall, dass die allgemeine Schulpflicht entstand, als der Kapitalismus die europäischen Nationen zu überrollen begann.

Begründet wird das Lohn- und Strafprinzip per Noten mit der Behauptung, nur unter Druck würden faule und erkenntnisunwillige Kinder lernen.

Das Gegenteil ist richtig, wenn man dorthin schaut, wo das Lernen zur Leidenschaft wurde, um Probleme der Polis demokratisch zu lösen. Warum wurde Griechenland zum bedeutendsten Land in Politik, Kunst und Philosophie? Weil die Hellenen Lernen nicht mit dem Rohrstock erzwangen.

Nicht nur der Kapitalismus des Geldes, auch der primäre Kapitalismus des Lernens muss verschwinden, wenn man die multiple Krise der Gegenwart bewältigen will.

Durch hierarchisches Benoten wird die Klasse gespalten. Das divide et impera der Notengebung bereitet die emotionalen Grundlagen vor für die spätere Gentrifizierung der Gesellschaft.

„Die Liberalen haben die Anschauung der begüterten Schichten akzeptiert, dass es Unfug sei, eine Politik des Schröpfens der Reichen zu verfolgen. Alles in allem bleibt der Reiche der natürliche Widersacher des Armen. Trotz aller Bemühungen werden die Reichen stets reicher und mächtiger. Einzelne Schlachten verlieren sie, doch Kriege gewinnen sie.“ (Galbraith, Gesellschaft im Überfluss)

Heute geht es um die Frage: Unbegrenztes Wirtschaftswachstum oder rigoroser Klimaschutz? Wie viele Kluge haben sich zu diesem Thema bereits geäußert? Wie man in Deutschland Moral verachtet, so ignoriert man die Klugheit der Klugen – die vor dem Herrn Toren sind. Hier ein törichter Weltkluger:

„Eine Wirtschaftsform, die sich in einer begrenzten Welt auf grenzenlosen Expansionismus stützt, kann keinen Bestand haben. Ihre Lebenserwartung schrumpft, je erfolgreicher sie ihre expansionistischen Ziele verfolgt. Die Luxurierung und Ausweitung der Bedürfnisse ist das Gegenteil von Weisheit, Freiheit und Frieden.“ (E. F. Schumacher, Small is beautiful)

In Deutschland gibt es ein Argument, das alle Klimahysterie niederschlägt: „Und wer denkt an die Arbeitsplätze?“ Bei Illner darf der Betriebsratsvorsitzende von Bosch in Bamberg den Applaus des Abends auf sich ziehen, als er den FfF den K.O.-Schlag versetzt:

„Die jungen Leute, die freitags auf die Straße gehen – „ich weiß nicht, wo die alle arbeiten wollen“. (SPIEGEL.de)

Ja, wo anders als im Jenseits, wenn die Hitze die Erde weggeschmolzen hat? Kann es Arbeitsplatzprobleme geben, wenn es keine Arbeitenden mehr geben kann? In einer Kultur der Selbstvernichtung bleibt schlichte Logik zuerst auf der Strecke.

Die Vorschläge der Jugend erscheinen den Politikern zu radikal, auf Deutsch: zu undurchführbar. Man müsse alle mitnehmen, erklärt die Kanzlerin – um ihr politisches Lotterleben, pardon, ihren gotttrunkenen Schlendrian zu kaschieren.

Ihre medialen Dragoner assistieren: Moralisten wollten nur Rechthaben, um andere zu blamieren und in den Schatten zu stellen. Da darf der scharfsinnige Boris Palmer nicht fehlen:

„Wenn das Pendel zu weit ausschlägt, muss sie formuliert werden, um zu einer Synthese zu gelangen. Wenn aus einer moralischen Grundhaltung ein allgegenwärtiges Moralisieren wird, wenn Menschen die eigene Moral zum Maßstab für alle machen und jede andere Moral verdammen, wenn also aus Moral Überheblichkeit, Hochmut, Arroganz und Abwertung wird, dann ist es Zeit für eine Antithese. Sie lautet: Erst die Fakten, dann die Moral!“ (WELT.de)

Herr Palmer aus der bedeutenden Universitätsstadt Tübingen: Überheblichkeit, Hochmut, Arroganz und Abwertung gibt es auch aus anderen Motiven, die sich nicht auf Moral beziehen. Sondern, man höre und staune: auch auf Amoral. Warum sollten Amoralisten sich zu Worte melden, wenn sie ihre Argumente nicht für die besten hielten? Sie sprechen von Dialektik Ihres Landsmannes Hegel, meinen aber hundsordinäre Kompromisslerei. Die gibt es in vielen Dingen, aber nicht in allen. Was wäre der Kompromiss zwischen Leben und Tod? Ewiges Koma? Zwischen Fruchtbarsein und Sterilität? Ein bisschen schwanger? Wie beschreiben Sie sich selbst?

„Mein Zugang zur Wirklichkeit ist geprägt durch mein Amt, meine ökologische Grundhaltung und mein Studium der Mathematik.“

Mathematische Logik ist das Gegenteil von Hegelscher Dialektik, die alles, wie es kommt, ins Prokrustesbett der Einheit zwingt. Würde einer behaupten: 2 + 2 = 5: kämen Sie, Herr Palmer, auf die Idee, einer Synthese von ungefähr 4,5 zuzustimmen? Lesen Sie Poppers Widerlegung der christlich-schlaumeiernden Hegel‘schen Dialektik, dann sprechen wir uns. (Das in brüderlicher Demut gesagt.)

Jede Disputation ist agonal – oder ein Fight. Wer hat Recht, wer Unrecht? Nicht immer kommt es zu einem klaren Sieg oder einer klaren Niederlage. Oft geht es aporetisch aus. Dann heißt es aufs Neue nachdenken und zum nächsten Gefecht zu rüsten.

Nicht immer hat Recht, wer gewonnen hat. Oft stellt sich heraus, dass er entweder sophistisch geblufft oder sich in aller Seriosität getäuscht hat – aber mit Argumenten, die für seinen Dialogpartner unwiderlegbar waren. In diesem Sinne kann man sagen: des Lernens ist kein Ende. Doch all dies betrifft nur theoretische Fragen.

Im Praktisch-Politischen gibt es Fragen, die schnell oder in überschaubarer Zeit gelöst werden müssen. Zu den schnellen Problemen gehören kriegerische: was tun, wenn ein Feind angreift? Zu den langfristigen: wie können soziale Spannungen gelöst, wie eine dauerhafte Friedensordnung mit Nachbarn angestrebt werden?

Im Privaten muss man sich ohnehin auf grundlegende Regeln des Zusammenlebens geeinigt haben, wenn man seine Familie nicht sofort zerlegen will.

Habermas hielt es für richtig, seinen herrschaftsfreien Diskurs nie mit dem sokratischen Dialog zu konfrontieren – der längst aus dem abendländischen Gedächtnis gewichen ist. Das ist nicht nur eine Bildungsschande, das rächt sich. Kein Wunder, dass Hegel und Marx zu den größten Verwirrdenkern des Abendlands gehören. Hegel mit falscher Dialektik obrigkeitlich-erzwungener Versöhnung, Marx mit falscher Dialektik einer scheinrevolutionären Passivität.

In einer Demokratie aber gehe es doch nicht ohne Kompromisse?! Gewiss, so wenig wie ohne kompromisslose Erkenntnisarbeit.

Wer eine gerechte Gesellschaft will, muss über Gerechtigkeit nachdenken. Stoßen konträre Meinungen aufeinander, müssen sie a) debattiert werden. Kommt es nicht zur Einigung durch Einsicht, muss der Konflikt b) in die Volksversammlung. Dort müssen praktische Kompromisse gefunden werden, die es den Kontrahenten erlauben, ohne Gesichtsverlust „nachzugeben“. Da jeder dem anderen in gleicher Weise entgegenkommen muss, um sich in der Mitte der Grenzbrücke zu treffen, gibt es weder Sieger noch Verlierer.

Ein Kompromiss bedient sich faktischer Zugeständnisse, um das Gefühl einer gemeinsamen Lösung zu erzeugen. Im Vergleich mit radikalen Theorien sind Kompromisse der Versuch, hypothetische Lösungen anzupeilen, die in limitierter Zeit erprobt werden sollen. Jeder theoretische Rechthaber muss sich sagen: zwar glaube ich Recht zu haben, doch sicher bin ich meiner Sache nicht. Der Andere ist schließlich auch kein Dummkopf und hat sich bei seiner konträren Haltung etwas gedacht.

Also brauchen wir Bedenkzeit. Die verschaffen wir uns durch das gemeinsame Entgegenkommen. Nach einer gewissen Zeit des Erprobens haben wir viele Erfahrungen gesammelt, um die ursprüngliche Theorie entweder für richtig zu halten – oder dem Andersdenkenden zu signalisieren: könnte sein, dass du recht hast. Oder: wir beide müssen neu nachdenken, jeder hatte recht und unrecht.

Eine lebendige Demokratie ist ein dreitaktiger kollektiver Lernvorgang: Grundlage von allem ist die Suche nach der Wahrheit und nichts als der Wahrheit. Dann die Überprüfung der gefundenen Wahrheit im methodischen Streit. Das ist ein dem Sport nachempfundener Wettbewerb der Geister, der mit Argumenten arbeitet, um den Andersdenkenden zu überzeugen.

Gelingt die Einigung, hat die strenge Erkenntnis gesiegt. Gelingt sie nicht, muss der theoretische Streit sich durch praktischen Kompromiss Luft verschaffen, um den Erkenntnisprozess, bereichert durch die Argumente des Andersdenkenden, von vorne zu beginnen. Zu gegebener Zeit tritt wieder die Volksversammlung zusammen, um die Bilanz aller Erfahrungen zu ziehen. Ein Kompromiss ist die letzte Notlösung einer Einigung, um sich bei unauflösbaren Differenzen nicht gegenseitig den Schädel einzuschlagen.

Je besser sich das Volk kennt, je intensiver es debattiert, je eher wird es sich einigen oder Kompromisse schließen können, die allen Beteiligten das Gefühl geben, gedanklich und praktisch vorangekommen zu sein.

Radikale Theorien waren die Grundlage gemeinsamen Erprobens und Experimentierens. Theorie und Praxis müssen sich die Hand geben, um das kooperativ-streitige Lernen zu neuen Ufern zu führen. Gäbe es kein radikales Denken, hingen alle Kompromisse in der Luft. Sind sie doch nur definierbar als – zu hypothetisch-praktischen Zwecken vorgesehenen – Abweichungen von der radikalen Wahrheit auf Zeit. In einer Polis, in der diese Prozesse nicht möglich sind, sei es durch sozialen Hass oder unerbittliches Siegenwollen über die anderen, ist die Demokratie zum Untergang bestimmt.

Die deutsche Demokratie hat die strenge Theorie ersatzlos gestrichen. Jeder Satz, der nichts als wahr sein will, wird als dogmatische Rechthaberei abqualifiziert. Von wem? Von jenen, die das politische Geschehen, wie es ist, aufrechterhalten wollen, weil sie selbst am meisten davon profitieren. Da alles, was ist, als selbstverständlich hingenommen wird, kann ihre Theorie im Dunkeln bleiben. Die konservativen Verteidiger des Bestehenden können sich einbilden, auf radikale Theorien verzichten zu können. Das, was ist, was sie beherrschen und von dem sie profitieren, ist ihre unterschwellige Ideologie, die sie durch Gegentheorien nicht in Frage stellen lassen wollen.

Dem Scheine nach steht eine radikale Angreifertheorie der täglichen Praxis gegenüber, die ihre frühere Gründungstheorie längst verdrängt hat, um sich den Anschein praktischer Unwiderlegbarkeit zu geben. Die bestehende Praxis ist nicht weniger radikal als die konträre Kritik.

Die konservative CDU glaubt, ihre Praxis gründe im Geist ihrer unfehlbaren Religion. Da es niemanden gibt, der diese Ideologie in Frage stellt – weil die anderen Parteien sich ebenfalls für christlich halten –, sind sie nie genötigt, den Beweis zu erbringen, ob ihr diffuser Glauben überhaupt recht hat. Sei es als Rechtfertigung des Glaubens im Licht der Vernunft, sei es als folgerechte Ableitung ihrer Praxis aus dem Geist dieses Glaubens.

Wo ist die Moral abgeblieben? Palmer, der Mathematiker, behauptet, seine Gegner würden mit Moral die Fakten verfälschen. Er glaubt, begriffen zu haben, dass „der nüchternen Betrachtung der Fakten nicht nur Fake-News und Rechtspopulismus im Wege stehen, sondern auch der Versuch, eine Art moralischen Filter über die Wirklichkeit zu legen.“

Nicht anders als die Medien behauptet er, die Wirklichkeit bestehe aus Fakten, Fakten, Fakten. Die Medien wollen sie protokollieren, die Mathematiker sie quantifizieren und berechnen. Auch das ist eine radikale Theorie, die am Anfang der Neuzeit bei den Begründern der Naturwissenschaft aufgetaucht ist.

Natur besteht vor allem aus berechenbaren Gesetzen. Was nicht berechnet werden kann – wie alle sinnlichen Eindrücke des Sehens, Hörens und Riechens –, kann vernachlässigt werden. Zu den irrelevanten Dingen gehört auch die Moral, die weder quantifiziert noch berechnet werden kann.

Eindeutige Ergebnisse aber gibt es nur im Bereich des Berechenbaren. Wer richtig zählen und rechnen kann, den kann man mühelos überzeugen. Ist man unterschiedlicher Meinung, muss einer sich verrechnet haben. Methodische Sicherheit, zu einem Ergebnis zu kommen – unabhängig von politischen oder religiösen Differenzen –, gibt es im Bereich der Moral nicht. Also muss sie aus dem Bereich der sicheren Wissenschaften ausgeschlossen werden.

Die Ent-moralisierung der Geisteswissenschaften muss behoben werden. Eine Wissenschaft, die objektiv sein will, muss quantitativ und berechenbar sein. Alles andere ist subjektives Klügeln und Tappen im Nebel.

Deshalb entschlossen sich immer mehr Geisteswissenschaften, die sich bislang auf die Qualität ihres Denkens und Argumentierens verließen, ins quantitative Lager überzulaufen.

„Mit seiner „Theorie der Indifferenz“ wollte Locke die strenge Unterscheidung zwischen rechtmäßigem und unrechtmäßigem Handeln aufgeben. Mit der Zuordnung des Gewinnstrebens als Antrieb ökonomischen Handelns zum Bereich des moralisch neutralen Verhaltens verlor die traditionelle Verklammerung von Ethik und Wirtschaft ihre grundlegende Bedeutung.“ (Karl Pribram, Geschichte des ökonomischen Denkens)

Ein Wirtschaftslexikon bestätigt, dass „Wertfreiheit“ – die Negation jeder Moral – notwendig sei, weil es „in pluralistischen Gesellschaften“ immer Unstimmigkeiten gebe.“ Deshalb müsse man Moral vergessen – und zum ökonomischen Nutzen übergehen. (Gabler Wirtschaftslexikon)

Naturwissenschaften kennen keine moral-infizierten Gesetze. Daraus folgerten Geisteswissenschaften, die sie imitieren wollten, auch sie könnten auf Moral verzichten und reine quantitative Fakten berücksichtigen. Ein verhängnisvoller Trugschluss.

Zwar können Naturwissenschaftler bei der Erforschung der Natur primär auf Moral verzichten – aber nicht auf eine endgültige moralische Bewertung ihrer Erfindungen. Eben deshalb haben sie bis heute Schwierigkeiten, ihre wissenschaftlichen Früchte politisch und moralisch zu bewerten. Sie fühlen sich nur zuständig für den Bereich ihres Labors und ihrer Rechenmaschinen, was die bornierte Öffentlichkeit mit ihren Resultaten praktisch anstellt, ging sie die ganze Zeit nichts an.

Eben dies war der Grund, warum die Klimaforscher nur zaghaft und politisch tölpelhaft ihre Ergebnisse öffentlich lancierten. Erst heute bemerken sie mit Schrecken ihre politische Unfähigkeit und gehen, zusammen mit der FfF, an die Öffentlichkeit.

Anders die erste Generation der Naturwissenschaftler vor 50 Jahren, die in aufrüttelnden Büchern auf den Ernst der Weltlage aufmerksam machten. Diese Bücher wurden von bedenkenlosen Think-Tank-Lobbyisten aus dem Licht der Öffentlichkeit gejagt – mit freundlicher Unterstützung der Medien.

Im Bereich des Menschlichen gibt es keine nackten Tatsachen. Fakten besitzen stets eine Bedeutung, die von Menschen bewertet wird. Bereits die Auswahl der Fakten und ihre unterschiedliche Gewichtung erfordert die Offenlegung der moralischen Bedeutsamkeit für den Menschen.

Ökologie ist die Wissenschaft von der Natur in ihrer Bedeutung für den Menschen. Demnach muss das Menschliche transparent werden, damit es von allen mitgedacht werden kann.

Im Kalten Krieg konnten sich Atomwissenschaftler aus Ost und West auf subtilste Kleinigkeiten der naturwissenschaftlichen Prozesse rund um die Atombombe verständigen. Was sie aber nicht konnten war die Verständigung in politisch-weltanschaulicher Hinsicht.

Heute ist durch die Klimafrage allen Völkern klar geworden, dass sämtliche Naturprozesse für das Leben der Menschen von Bedeutung sind: in bedrohlicher oder nützlicher Hinsicht. Alle müssen deshalb moralisch bewertet werden, denn Moral ist die einzige Disziplin, die zu erkennen und zu bestimmen hat, was gut oder schlecht ist für den Menschen. Moral wird nicht beliebig über Fakten gelegt, wie Palmer behauptet. Schon gar nicht so, dass man auf sie am besten verzichten könnte. Moral muss von allen durchdacht, durchstritten und in demokratischer Abstimmung in Politik verwandelt werden.

Objektives Erkennen der Natur ist subjektives Erkennen der Wichtigkeit der Natur für den Menschen. Nichts gibt es in der Welt, das keine moralische Bedeutung hätte.

Gehe ich unbedarft mit einem unbekannten Tier um, kann es mich entweder angreifen, töten – oder ignorieren – oder mich kennenlernen wollen. Wie ich mich verhalten soll, weiß ich nur, wenn ich das Tier erforscht und seine moralische Relevanz für mich erkannt habe.

Wenn Palmer die Moral der Demonstranten für falsch hält, muss er mit einer konträren Moral dagegen halten. Er muss streiten. Alles andere ist Nonsens. Seine eigene Argumentation ist nicht weniger moralisch als die der Jugend, wenn auch nach anderen Kriterien. Den Jugendlichen Übermoralisieren als Vernachlässigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse vorzuwerfen, ist Unsinn. Will er denn die Jugendlichen moralisch diskreditieren?

Das Schlusswort gebührt Jeremy Rifkin, der im Jahre 1985 schrieb, eine radikale Änderung unseres Weltbildes müsse über Nacht geleistet werden. Es bliebe keine Zeit mehr für spitzfindige Kompromisse und Ausflüchte. „Die Aufgabe verlangt militante Entschlossenheit.“ (Entropie, Ein neues Weltbild).

Moralische Militanz bedient sich der Waffen des Geistes.

 

Fortsetzung folgt.