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Von vorne LXV

Von vorne LXV,

zum ersten Mal in der Geschichte öffnet sich der Blick auf eine globale Verständigung der Völker. Noch nie gab es eine weltweite Empörung von solchen Dimensionen wie der Aufstand der Weltjugend gegen die Zertrümmerung ihrer Zukunft durch jene, die sie am meisten zu lieben vorgeben: ihre Erzeuger, die sich seit Jahrhunderten von einem System betören lassen, das ihnen Wohlstand und endlose Macht versprach – und Tod und Verderben über sie bringen wird.

Angst und Schrecken vor dem Untergang der Welt hingegen beherrschen die Menschen schon seit langem. Die Menschheit entwickelte zwei Urmuster, um ihre Ängste zu beherrschen:

a) die zyklische Zeit

b) und die lineare Geschichte.

Beide Muster schließen sich gegenseitig aus und kämpfen seit Menschengedenken um die Vorherrschaft.

Die zyklische Zeit entspricht der ewigen Wiederholung des Gleichen, angelehnt an die beständige Wiederholung natürlicher Jahreszeiten.

In der linearen Geschichte soll sich nichts wiederholen, alles muss neu erfunden werden, alle Ereignisse müssen Einmaligkeiten Gottes sein, der sich der Natur überlegen fühlt, weil er sie als Schöpfer erschaffen haben will.

Der zyklische Mensch fühlt sich untrennbar verbunden mit dem Kosmos und seinen Zyklen, die ihn regelmäßig erneuern, wenn er sich an ihnen orientiert.

Der geschichtliche Mensch orientiert sich nicht an der Natur – die er für wertlos hält –, sondern an einmaligen Heilsereignissen seines Erlösergottes.

Zyklische Zeit der Natur kann sich ewig wiederholen. Ihre Mythen sind Vorbilder von Zeremonien, die periodisch die Ereignisse am Beginn der Zeiten lebendig werden

lassen. Sie bewahren die Vorbilder für das verantwortliche Handeln der Menschen.

„Kraft dieser beispielhaften Vorbilder, die den Menschen in mythischen Zeiten offenbar wurden, werden Kosmos und Gesellschaft periodisch wiedererschaffen.“ (Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte)

In der linearen Geschichte wiederholt sich nichts – oder darf sich nichts wiederholen. Wiederholen wäre – nach Popper – eine geschlossene Gesellschaft, denn Neues wäre nicht möglich. Eine offene Gesellschaft hingegen wäre eine im „ständigen Aufbruch nach neuen Ufern“.

Der Mensch, wiewohl abhängig von einmaligen Heilsereignissen am Anfang, in der Mitte und am Ende der Zeiten, ist überzeugt, dem Neuen in der Geschichte auf der Spur zu sein.

Im linearen System erneuert sich die Natur nicht, sondern verfällt und stirbt ab in einer finalen Katastrophe. Postmortal wird sie vom Schöpfer ex nihilo ein zweites Mal aus der Taufe gehoben. Eine wirksame Reparatur der alten Welt ist ausgeschlossen, weshalb autonome Utopien verboten sind. Wären sie doch der Beweis, dass – wider Gottes Wegwerfparole – die Natur sich selbst heilen könnte und auf einen externen Heiland nicht angewiesen wäre.

Nicht der Mensch hat die Wegwerf-Mentalität eingeführt. Gott, der Kreator, erfindet in grenzenloser Kreativität neue Dinge, die zumeist auf dem Müll der Geschichte landen: im Inferno. Die „geplante Abnutzung“ aller Produkte, um Platz zu schaffen für neue, ist ein Kern der christlichen Schöpferidee, der vom Kapitalismus begierig in sein Programm aufgenommen wurde (= planned obsolescence).

Ein Kapitalist muss kreativ sein wie der CREATOR, destruktiv wie der DESTRUCTOR – identisch mit dem Teufel oder dem ALTER EGO des CREATORS. Das BÖSE ist die verborgene Seite des offenbarten Gottes. Auch Götter haben ihre Schattenseiten, die für die Schmutzgeschäfte der Geschichte zuständig sind, um den Erlöser umso heller strahlen zu lassen.

Vor Jahren hatte sich die Intelligenz der Nation darauf geeinigt, die „Verfälschung“ des Christentums in eine Schwarz-Weiß-Ideologie als Manichäismus zu bekämpfen. Bei Mani waren Gott und Teufel, Weiß und Schwarz, keine Einheit. Wer von beiden stärker war, musste der Kampf im Verlauf der Geschichte erbringen.

Haarspalterei. Den Gläubigen wird erzählt, sich aller bösen Werke zu enthalten und die guten Werke des Glaubens zu vollbringen. (Abgesehen davon, dass sie gar nicht fähig sein sollen, gute Werke zu vollbringen.) Das Leben der Gläubigen verläuft manichäisch.

Dass der Teufel, bei aller Widerborstigkeit, den Weisungen des Herrn folgt, wird keinem Mütterchen in der Kirche vermittelt. Ein Christ hat an den „lieben Gott“ zu glauben. Dass dieser mit dem bösen Gott identisch ist, das wissen nur die Gelehrten. Hier liegt der Ursprung der Hegel‘schen Dialektik, die keine absoluten Widersprüche kennt.

Warum ist Imitation verpönt? Weil sie nicht kreativ und also heidnisch sein muss. Der Mensch der zyklischen Zeit kann nur leben durch Imitation der Natur. Je mehr er sich mit der wiederkehrenden Natur identifiziert, je „zeitloser“ wird er. Wenn Zeitlosigkeit Gott bedeutet, hat der zyklische Mensch die Chance, ein Gott zu werden – indem er eins wird mit der Natur. Nicht als allmächtiger Gott, sondern als Teil der Natur.

In der Erlöserreligion wird der Mensch am Anfang zu einer gottähnlichen Figur stilisiert, die er aber nicht ist, solange er als Mensch auf Erden wandelt. Aus der trügerischen Zusage wird eine ewig davonlaufende Verheißung bis ans Ende aller Tage.

Der Mensch wähnt sich als Gott, doch, ach, die Verheißung verzieht sich ins Nirgendwann. Die lineare Geschichte wird zur Prüfungszeit, um sich als Gott zu bewähren. Doch er jagt einem Phantom hinterher, um sich als Gott in nascendi zu fühlen. Was bleibt, ist eine Spottgeburt aus Dreck und Feuer.

Der naturidentische Mensch aber hat die Möglichkeit, ein Teil des zeitlosen Universums zu werden. Mit der Natur eins werden wird verworfen als unkreative Nachahmung; einen Kreator zu imitieren, ist hingegen das Nonplusultra eines Wesens, das die Natur auslöschen muss, um seine Unvergleichlichkeit zu demonstrieren.

Individuell sein, heißt, unvergleichlich sein. Nicht nur in Bezug auf andere Menschen, sondern auf die ganze Natur. Das kapitalistische Individuum muss so unvergleichlich sein, dass es keinerlei Ähnlichkeiten mit anderen aufweist. Also kann es weder human noch wahrheitsliebend sein.

Humane Wesen ähneln sich in ihrem Verhalten und sind Freunde einer gemeinsamen Wahrheit. Unerträglich für ein Individuum, das jede Ähnlichkeit mit anderen empört von sich weist.

So unvergleichlich es sein will, so frei will es sein. Nicht nur frei von allen menschlichen Regeln, weshalb es alle ökologischen Verbote als Eingriffe in seine Freiheit versteht. Dass staatliche Gesetze nichts als Verbote sind, ist Neo-Liberalen noch nicht aufgefallen.

Über den Wolken und in Wirtschaftsdingen muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Freiheit bezieht sich nicht nur auf die Sphäre des Menschen, sondern ebenso auf die Natur. Echte Neoliberale widert es an, ständig von Ressourcen der Natur abhängig zu sein. Also muss die Natur überflüssig gemacht werden durch technische Erfindung einer neuen Natur, über die der Mensch nach Belieben verfügen kann.

Auch hier gilt das Grundgesetz der Freiheit: sich von allem lösen, wovon man sich knechtisch abhängig machen könnte. Nur der ist frei, der weder an Mensch noch an Natur gebunden ist, seine Kreaturen und Natur selbst erzeugt. Hier beginnt die Geschichte der KI, die künstlich sein muss, damit sie in keiner Weise nach Natur aussieht. Kunst kann alles, darf alles, denn sie ist frei von allen Bindungen.

Die absolute Freiheit von der Natur wird im Neuen Testament gelehrt:

„Wahrlich, ich sage euch: wer zu diesem Berge spräche: Hebe dich hinweg und wirf dich ins Meer! und zweifelte nicht in seinem Herzen, sondern glaubte, dass es geschehen würde, was er saget, so wird’s ihm geschehen, was er saget. Darum sage ich euch: alles, was ihr bittet in eurem Gebet, glaubet nur, dass ihr‘s empfangen werdet, so wird’s euch werden.“

Diese Stelle wird von Mircea Eliade folgerecht gedeutet:

„Der Glaube bedeutet absolute Befreiung von jeden natürlichen Gesetz und deshalb die höchste Freiheit, die sich der Mensch vorstellen kann: die Freiheit, in das All selbst einzugreifen. Diese Freiheit ist par excellence schöpferisch (creativ). Nur eine solche Freiheit kann den modernen Menschen gegen den Schrecken der Geschichte schützen: eine Freiheit, die von Gott ausgeht und in ihm Garantie und Stütze hat.“

Eliade unterstellt, dass Geschichte den Menschen schreckt. Wie kommt er dazu? Indem er den Dualismus der Heilsgeschichte ernst nimmt. Heilsgeschichte bedeutet nicht Heil für alle, sondern für eine winzige Minderheit. Für die massa perditionis gilt: Abgang ins Feuer.

Trotz aller Heilsgewissheit weiß kein Gläubiger exakt, zu welcher Truppe er gehören wird. Zur Gruppe der Erwählten auf dem schmalen Pfad, oder zur unüberschaubaren Masse auf dem breiten Trampelpfad der Verlorenen. Um dem Schrecken des Nichtwissens zu entgehen, musste der Calvinist Leistungen bringen, damit die Qualen seiner Erwählungsunsicherheit erträglich werden.

So entstand, nach Max Weber, der Kapitalismus. Weber irrte. So entstand er nicht, so entwickelte er sich hemmungslos zum modernen Kapitalismus, der über Stock und Stein ging, um mit seiner jenseitigen Berufung zu paradieren.

Vom Schrecken der Geschichte wird heute nicht mehr gesprochen. Wohlstand und Macht sind in einen tranceartigen Status der Selbsthypnotisierung gefallen: wir leben im Paradies, da capo al fine, nichts geht über den Kapitalismus, da capo al fine, wir sind Sieger der Geschichte, da capo al fine – und nun auf ins All.

In diesem Moment erwacht die Moderne – und beginnt widerwillig zu erschrecken. Zuvor aber muss sie die Jugend, welche sie aus dem Delirium der Selbstvergötzung gerissen hat, zum Teufel schicken.

Mircea Eliade zieht Folgerungen aus dem Kampf zwischen zyklischer Wiederholung und linearer Heilsgeschichte, die vom christlichen Westen nicht gehört werden wollen:

„Es ist nicht abwegig, sich eine nicht sehr ferne Zukunft vorzustellen, in der die Menschheit, um ihr Fortleben zu sichern, sich gezwungen sehen könnte, nicht länger „Geschichte zu machen“. Sie mag sich damit zufrieden geben, die archetypischen Handlungen zu wiederholen und sich bemühen, jede „spontan-kreative“ Handlung als gefährlich zu unterlassen, die unliebsame Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Es wäre sogar von Interesse, die anti-historische Lösung zukünftiger Gesellschaften mit den Mythen vom Goldenen Zeitalter am Anfang und Ende der Geschichte zu vergleichen.“

Das waren, versteckt hinter gelehrten Bemerkungen, Äußerungen zur Heilung der Gegenwart wider alle linearen Religionen. Selbst einer Utopie als Ziel einer humanen Politik geht er nicht aus dem Wege. Das würde heute nicht nur mit Gespött, sondern mit dem Vorwurf einer faschistischen Rückkehr ins Vollkommene quittiert werden.

Eine offene Gesellschaft hat offen zu bleiben für jedes Verderben. Wer hingegen ein glückerfülltes Ziel der Geschichte als Wegweiser für die Politik empfiehlt, muss ein Zwangsbeglücker sein, der nur eine verführerische Hinterlist sucht, um die Gesellschaft ins Joch seines Privatheils zu spannen. Vorwärts zum Ursprung darf nicht mal debattiert werden. Alles, was nicht in der Zukunft liegt, will die Höhenflüge der Moderne in den Staub erniedrigen.

Das Ergebnis dieser Flucht nach vorne kennen wir: die Zukunft steht mit den Füßen auf schmelzenden Eisblöcken, den Kopf in der Schlinge des Galgenstricks. So die eindrucksvolle Performance auf der Demo der FfF.

Wäre es ausgeschlossen, dass der jugendliche Aufstand seine Friedfertigkeit verlieren könnte? Etwa nach vielen Enttäuschungen und Zermürbungen? Historische Vorgängerbewegungen nähren den Verdacht.

„Die Yippies verstanden sich als psychologische Guerillakrieger gegen das Establishment: Every man a revolution! Der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim hielt die Aktivisten für sehr krank, erkannte auf Verfolgungswahn und Ödipuskomplex. Der Philosoph Lewis Feuer bezeichnete protestierende Studenten als „intellektuelle Lumpenproletarier, Lumpenbeatniks und Lumpenagitatoren“. Studentenführer wollten einen „vollständigen Bruch mit der Vergangenheit“ vollziehen. Das amerikanische System hätte man körperlich, geistig, seelisch und wirtschaftlich hinter sich gelassen.“ (Gert Raeithel)

In den Krisen der Moderne steht alles zur Disposition. Mit allem soll gebrochen werden können, wenn es eine Gefahr für die Menschheit darstellt.

Ist das aber nicht der Traum der anderen Seite, die ständig von disruption spricht, wenn sie die Gesellschaft offen halten will für Herausforderungen der digitalen Zukunft?

So kann man sich täuschen. Technische Fortschrittler wollen nur den endlosen Austausch der Maschinen. Die Despotie der Gewalt über Mensch und Natur aber darf keinen Millimeter weichen. Maschinenanbeter sind Konservative.

Wollte jemand tatsächlich mit dem System brechen, wäre er ein Feind der Zivilisation. Streng genommen wäre die moderne Zivilisation in sich selbst eine Revoluzzerin. Indem sie mit aller Gewalt dem Abgrund entgegenstürzt, ist sie die Feindin ihrer selbst. Sie ist ein systemsprengendes System.

Welch Zufall, dass in Zeiten aufbegehrender Jugend ein Film über eine „Systemsprengerin“ in die Kinos kommt, der in höchsten Tönen gerühmt wird.

Den Begriff gab es bereits in Zeiten der Hippiebewegung. System-Sprenger klingt bedrohlich. Klingt nach Generalattacke gegen alles Erwachsene, gegen alles, worauf die moderne Kultur stolz sein will.

In Amerika wurden schon 5-Jährige in den Knast geworfen. Niemand wusste, wie viele Kinder in Gefängnissen saßen. Mit Kindern ging man um, wie Trump Einwandererkinder rücksichtslos von ihren Eltern trennen ließ. Das altcalvinistische Verbot der Kinderliebe beherrscht noch immer die Frommen unter den Mächtigen.

Die Regisseurin des Filmes über solche Kinder, vor denen die Gesellschaft sich fürchtet:

„Ich habe bei der Recherche schnell gemerkt, dass bestimmte Aspekte von Kindheit in unserer Gesellschaft verdrängt sind. Die Tatsache, dass jede große Stadt eine Kinderpsychiatrie hat, die meistens rappelvoll ist und noch eine Warteliste hat, wissen viele Leute gar nicht. Oder dass es noch Kinderheime gibt, die heute nur anders heißen, Wohngruppen, ist von der allgemeinen Diskussion über Erziehung abgespalten. Ich glaube, dass gesamtgesellschaftlich soziale Berufe eine größere Anerkennung brauchen, auch pflegende Berufe. Ohne Menschen, die diese Berufe ergreifen, wären wir verloren. Wir schauen immer bewundernd auf Firmenchefs, Anwälte, Menschen an der Börse, aber nicht in den Kindergarten um die Ecke. Dabei sind das ja Berufe, die ganze Menschenleben prägen, die richtungsweisend sind.“ (Berliner-Zeitung.de)

Wenn Kinder niemandem trauen und Amok laufen gegen die Welt – oder gegen sich selbst –: von welchem Phänomen sprechen wir dann? „Systemsprenger ist ja keine Krankheit. Der Begriff beschreibt ein Phänomen, was passiert, wenn ein Kind zu viele Beziehungsabbrüche hat.“

Wenn es keine Krankheit sein darf, ist es dann eine Form der Gesundheit? Oder gar ein Beweis, dass bereits Kinder radikal böse sein können? Wenn man Schreckliches nicht definieren kann, ist es traditionsgemäß ein angeborenes Böses.

Will man das Böse nicht den Theologen überlassen, muss man es erklären. Ursachen müssen erforscht und bei Namen genannt werden, damit sie ausgetrocknet werden können. Eine merkwürdige Berührungsscheu, dem Defekten in unserer Gesellschaft nicht zu nahe zu kommen.

Wie in der Politik gilt auch hier: könnte man Probleme lösen, wäre alles viel zu einfach. Dass Probleme unlösbar, weil allzu komplex seien: darauf ist die Gesellschaft stolz. Das muss echter Fortschritt sein: die Erfindung unlösbarer Probleme.

Wären die Probleme der Moderne wirklich unlösbar, könnten die Fridays sich ihren Einsatz sparen. Es wäre Aufwand um nichts. Das hätten all jene gern, die sich als Hüter des Systems aufspielen. Sie müssten ja ein schlechtes Gewissen haben, dass sie bislang so schmählich versagten. Ausgeschlossen.

Der Mensch in seinem Fortschrittswahn will Rätsel erfinden, die kein Mensch lösen kann. Damit hätte er sich selbst transzendiert. Er wäre jenes gottähnliche Wesen, das den Menschen in eine sündige Welt wirft, die er mit eigenen Kräften nicht bewältigen kann. Hier hülfe nur ein Erlöser.

Ein Pädagogikexperte über den Film:

„Was ich großartig finde: Der Film kennt kein Gut und Böse, es gibt keinen Schuldigen. Nach diesem Film wird niemand sagen, das Jugendamt habe versagt.“ (SPIEGEL.de)

Als großartig gilt, wenn niemand versagt hat. Das hört die Kanzlerin gern. Es ist die Unschuldspose der schuldigsten Epoche der Geschichte, die keine technische Mühe hätte, den Globus in die Luft zu sprengen und Milliarden Menschen hopps gehen zu lassen.

Dabei widerspricht sich der Professor aufs äußerste:

„Der Begriff Systemsprenger ist erst mal schwierig zu handhaben, weil er suggeriert, da wäre ein böses Kind, das ein System sprengt. Der Begriff beschreibt aber nicht ein Kind, sondern einen Prozess, der sich zwischen vielen Personen abspielt. Es geht um Kinder, die innerhalb des Systems keinen festen Ort finden, sondern permanent hin und her geschoben werden. Die wechseln zwischen Heimen, Pflegefamilien, Psychiatrien und – wenn sie über 14 Jahre sind – der Justiz hin und her und finden nirgendwo einen Ort zum Leben, bedingt durch ihr extremes Verhalten.“

Das Kind als lebendiges Wesen gibt es nicht mehr, es ist zu einer Schnittmenge des Systems abstrahiert worden. Doch sicher ist: als Problembündel wurde das Kind nicht geboren. Zum unerträglichen Kind muss es gemacht worden sein. Doch von wem? Und plötzlich gibt es Ursachen:

„Es gibt verschiedenste Ursachen. Ich habe in meinem Leben aber noch keines dieser Kinder getroffen, bei dem es nicht massive biografische Belastungen gab: Vernachlässigung, Traumatisierung, Gewalt, psychisch kranke oder suchtkranke Eltern. Von Benni heißt es, dass ihr als Baby oft eine Windel ins Gesicht gedrückt wurde. Das sind Risikofaktoren, die die Umwelt für ein Kind unberechenbar machen, und dann wird dieses Kind auch allen anderen Menschen künftig so begegnen.“

Massive biographische Belastungen fallen nicht vom Himmel. Da muss es konkrete biographische Belaster gegeben haben. Sind sie auch nicht schuld?

Was über Systemsprenger gesagt wird, wird über das ganze System der Moderne gesagt: keine Ursachen, keine Lösungen, zu komplex, Hände weg von Versuchen, Lösungsillusionen zu erwecken. Wer die Gegenwart heilen will, muss krank sein. Vorsicht vor unschuldig aussehenden Jugendlichen. Hinter ihrer reinen Maske steckt die Bösartigkeit des Kindes.

In einem Film über schreiende Kinder, die mit einer gefühllosen Verhaltenstherapie geheilt werden sollten, fiel der Satz: wenn Kinder entdecken, dass sie mit Heulen und Schreien ihre Mutter beeindrucken können, haben sie Macht über sie gewonnen. Eben das sei das evolutionäre Ziel des Schreiens: das Kind will die Erwachsenen beherrschen.

Augustin meinte nichts anderes, als er im Schreien eines Neugeborenen die Stimme des Teufels vernahm, der die Menschen terrorisieren wollte. Der pädagogische Fortschritt der Gegenwart ist unermesslich.

Wer war schuld am Niedergang früherer Zeiten? Nach Auskunft männlicher Religionserfinder war es – die Frau. Bei den Hindus war es die Göttin Kali, die sich aus einer guten Mutter in eine Zerstörerin verwandelte. In der Bibel war es Eva, die sich dem männlichen Gott widersetzte. Also musste ein allmächtiger Mann Gott werden, um das Böse auf der Welt auszutreiben. Zuerst mit einer Sintflut, die nur Noah mit Sippe und wenigen Tieren überstand.

Nichts wurde besser. Das Spiel begann von vorne. Also entschloss Gott, seinen eigenen Sohn auf die Erde zu schicken, um die unfähige Menschheit zu erlösen. Erlösung durch einen Gott setzt voraus, dass Probleme für Menschen zu komplex geworden sind. Gelang es dem Erlöser am Kreuz, Mensch und Welt zu versöhnen?

Mitnichten. Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben – aber nicht die Welt. Die Welt wird verloren gehen. Die Erlösung des Menschen verschiebt sich auf einen Sankt Nimmerleinstag. Ich bitte nicht für die Welt. Habet nicht lieb die Welt. Die ganze Welt liegt im Argen.

Heute liegt die Welt erneut im Argen. Kein männliches Wunderkind in der Krippe weit und breit, nur ein schlichtes Mädchen aus Schweden, das sich einbildet, es könne die Welt erlösen – wo doch alle Jenseitsgötter bereits versagt haben. Diese Hybris wird sich rächen.

Geht die Welt zugrunde, gibt es – nach Auskunft uralter Texte – keine weisen und gütigen Menschen mehr und niemanden, der die Wahrheit redet. Der Heilige ist nicht besser als der Narr. Alle Bande der Liebe und Sympathie lösen sich auf. Die engste Ichsucht herrscht. Die Gesellschaft zerfällt, jeder löst sich von jedem, Gewalt und Kriminalität nehmen überhand, die menschliche Vernunft verkommt.

Ist damit nicht auch unsere Gegenwart prophetisch beschrieben? Hätten wir ein Weltparlament aller Völker, das über jede nationale Regierung abstimmen könnte: wie viele der Mächtigen dieser Welt würden dieses Votum überstehen?

Nein, die archaische Unheilsprophetie beschreibt vor allem das Treiben der Eliten, deren Fortschritt nichts anderes ist als die Erfüllung uralter Unheilsprognosen:

In den Quellen wird Blut fließen, Feuer werden wüten, Steine zu schreien beginnen, Menschen werden sich töten, Trockenheit und Hitze werden ausbrechen, Sintfluten werden Land und Menschen verschlingen, schreckliche Tiere über Menschen herfallen und sie zerreißen.

Die Völker der Gegenwart hingegen beginnen, sich zur Wehr zu setzen. Über Nacht ist die Jugend aufgewacht und trotzt den Politikern, die in herrschsüchtiger Lähmung verharren. Die Regierungen der Welt regieren nicht. Wahrnehmungslos verwalten sie den unveränderlichen Lauf der Welt in den Abgrund.

Man muss sie abwählen oder davonjagen. Noch ist nicht Armageddon.

 

Fortsetzung folgt.