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Von vorne LXIII

Von vorne LXIII,

es gibt Wörter, die man nur mit der Beißzange anfassen sollte. Zu ihnen gehört der Begriff „einpreisen“. Sind notwendige Klimareformen schon eingepreist? Was kostet die Einpreisung der Welt? Und wenn sie misslingt: kann Wallstreet den Verlust der Menschheit mit Erlösungsaktien abfedern?

„Mehr als 200 internationale Medien, von Afrika bis Nordeuropa, von den USA bis Indien und Japan, darunter auch DER SPIEGEL, haben sich mit der Initiative „Covering Climate Now“ gemeinsam verpflichtet, in dieser Woche mit Wucht über dieses doch eigentlich journalistisch so undankbare Thema zu berichten. Jetzt ist es an der Zeit zu handeln. Schnell, konzertiert und global. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hat die ganze Menschheit einen gemeinsamen Feind. Einen trägen, furchtbaren Golem, den sie selbst geschaffen hat, ganz aus Versehen. Wir können ihn besiegen, gemeinsam. Wir müssen nur endlich anfangen zu kämpfen.“ (Schreibt Christian Stöcker in SPIEGEL.de.)

Die internationale Presse wacht auf und schließt ein Bündnis gegen die Gefahr. Auch durch den SPIEGEL geht ein Ruck. Andere führende Zeitungen aus Deutschland sind nicht zu finden. Hier die kleine Liste der Unterstützer:

„Auch klimafakten.de und sein Schwesterprojekt Clean Energy Wire (CLEW) werden sich an der Schwerpunktwoche beteiligen – neben dem Netzwerk Weitblick, dem gemeinnützigen Journalismus-Projekt KlimaSocial und der Wochenzeitung WOZ als weiteren Medien aus Deutschland und der Schweiz.“ (Klimafakten.de)

Einigen Superreichen gelang es, längst bekannte und belegte Klimafakten und Naturzerstörungen mit einem instrumentellen Skeptizismus so in irrlichternde Unwahrscheinlichkeiten zu zerstäuben, dass die Menschheit die glasklaren Erkenntnisse der ersten Ökobewegung zu verleugnen begann. Unter ihnen die Brüder Koch und die von ihnen finanzierten Think-Tanks und Institutionen unter 

 der Regie der Neokonservativen:

„Der Weltklimabericht der Uno war noch nicht einmal vorgestellt, da hat die Industrielobby bereits eine Belohnung für all jene Forscher ausgesetzt, welche die Studie widerlegen. Wie der „Guardian“ heute zum Abschluss des Pariser Expertentreffens berichtete, will das konservative US-Institut American Enterprise Institute (AEI) 10.000 Dollar (rund 7700 Euro) an Wissenschaftler zahlen, die den Schlussfolgerungen des Zwischenstaatlichen Ausschusses zum Klimawandel (Intergovernmental Panel on Climate Change – IPCC) entgegentreten. Das AEI gehört zu den einflussreichsten Think Tanks der Neokonservativen.“ (SPIEGEL.de)

„Koch Industries finanziert ein „Netzwerk der Verleugnung“, um die Glaubwürdigkeit bestimmter Wissenschaftler systematisch zu diskreditieren und Klimagesetze zu verhindern.“ (Wikipedia.org)

Der Neokonservatismus hat längst Einzug gehalten in Deutschland. Seine Grundmaxime: Lenkung der unmündigen Massen, ohne dass sie merken, was ihnen geschieht. Den Unterschichten wird moralische Unfähigkeit bescheinigt, die sich in politischer Lenkbarkeit zeigen würde:

„Ich glaube nicht, dass über Sittlichkeit auf der privaten Ebene entschieden werden kann. Ich denke, man braucht öffentliche Führung und öffentliche Unterstützung für einen moralischen Konsens. Die durchschnittliche Person hat instinktiv zu wissen, ohne darüber zu viel nachzudenken, wie sie ihre Kinder großzieht.“ (Wikipedia.org)

Die Deutschen hatten einen sichtbaren Führer, Amerikas Eliten – in trauter Einigkeit mit den Frommen, die alles von Gott erwarten – bevorzugen die unsichtbare Führung durch Skinner‘sche Reize in Medien und omnipräsenter Werbung.  

Die Neokonservativen, die sich auf den eingewanderten Carl-Schmitt-Schüler Leo Strauss beriefen, entwickelten sich aus Status-quo-Gemäßigten zu amerikanischen Weltbeglückungsimperialisten, die Dabbelju Bushs Überfall des Iraks freudig unterstützten. Trumps nationalen Größenwahn könnte man als krawalligen Klamaukneokonservatismus bezeichnen.

Was waren die Grundprinzipien von Leo Strauss, die er von Carl Schmitt in leicht modifizierter Form übernahm?

„Mit dem scharf formulierten Gegensatzpaar von „Athen“ und „Jerusalem“ meint Strauss den grundsätzlichen Unterschied eines selbstbestimmten philosophischen Lebens ohne jede Autorität und eines Lebens im Sinne des Offenbarungsglaubens. Diese zugespitzte Position enthält eine Ablehnung aller unverbindlichen ethischen Orientierungen: Entweder gelten das strenge jüdische Gesetz bzw. mit ihm vergleichbare religiöse Orientierungen, oder es wird eine philosophische Skepsis als Lebensform gewählt. Dazwischen liegen für Strauss nur „Vermittlungspositionen“, die nicht in der Lage sind, die letzten Konsequenzen zu denken.“ (Wiki)

Strauss verurteilte die selbstbestimmte Ethik der athenischen Philosophen zugunsten der jüdischen Offenbarung, die die Gläubigen als höchste Wahrheit widerspruchslos hinzunehmen haben. Den unüberbrückbaren Graben zwischen heidnischer Vernunft und Offenbarungsglauben vertrat auch Carl Schmitt. Sein Glaube war der Katholizismus, nicht die jüdische Thora-Frömmigkeit. Beide Bibelgläubigen stimmten überein in der Gewissheit: gottbestimmte Regeln spotten menschengemachter Gesetze.

Die Gegenüberstellung von Athen und Jerusalem stammt vom Kirchenvater Tertullian:

„Was hat Athen mit Jerusalem, die Akademie mit der Kirche gemein?“

Das war nicht nur die Meinung eines Einzelnen. Das war die urchristliche Grundstimmung, die sich auf den ersten Korintherbrief des Paulus berief:

„Vernichten werde ich die Weisheit der Weisen, und die Einsicht der Einsichtigen werde ich verwerfen. Denn das Törichte von seiten Gottes ist weiser als die Menschen und das Schwache von seiten Gottes ist stärker als die Menschen.“

Damit war dem selbstbestimmten Denken und Tun der Heiden das Todesurteil gesprochen. Das Todesurteil lag im tiefsten Innern der gesamten abendländischen Entwicklung verborgen – und bekämpfte im Dunkeln die teuflischen Kompromisse zwischen Griechentum und Christentum-Judentum.

In Amerika liegen diese Sein-oder-Nichtsein-Konflikte offen zu Tage, in Deutschland, das sich aufgeklärt dünkt, tappt man gern im Nebel über die Gründe der allpräsenten Spannungen und Gereiztheiten.

Tertullian war kein Sonderling in der Abgrenzungsfrage. „Selbst die „gebildetsten“ unter den Kirchenvätern, Augustin zum Bespiel, stimmen mit dem Gefühl überein, dass die antike Bildung als unabhängiges Ideal, als Gegenstück zur christlichen Offenbarung, verdammenswert ist.“ (H. I. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum)

Gläubige sollten sich heidnischer Bücher vollkommen enthalten. „Was hat ein Christ mit diesen Irrtümern zu tun? All jene fremden und teuflischen Schriften muss man energisch von sich weisen.“

Leo Strauss beugte sich nicht diesem Gebot, sondern studierte sorgsam die Griechen – um sie, bewaffnet mit intimer Kenntnis des Feindes, noch wirksamer zu verdammen. Er denunziert Denken und Leben von Sokrates & Co als Spielerei und unernsten Skeptizismus, im Gegensatz zur strafbewehrten biblischen Befehlsethik. Was nicht von Gott angeordnet wird, muss der Mensch nicht ernst nehmen.

Lange Zeit waren die Juden in Amerika politisch unauffällig. Ab Leo Strauss und den Neokonservativen ändert sich das Bild. Parallel zum Erwachen des christlichen Fundamentalismus unter Reagan, dessen Neoliberalismus religiös infiziert war, begann sich die Politik der wichtigsten jüdischen Gruppierungen religiös aufzuladen.

„Die amerikanische jüdische Gemeinde, die jahrzehntelang liberale und säkulare Perspektiven in diesem Kontext als feste Doktrin angenommen hatte, sah sich gezwungen, diese Streitfragen erneut aufzugreifen. Das Anwachsen des protestantischen Fundamentalismus, insbesondere mit seinen Auswirkungen auf die Politik, lastet auf der kollektiven Psyche der jüdischen Gemeinde. Eine gewisse jüdische intellektuelle Elite – die „Neokonservativen“ – fordert, dass im Lichte der zunehmenden öffentlichen Präsenz des konservativen Protestantismus auch die amerikanischen Juden ihre zeitbedingte politisch-liberale Position einer Überprüfung unterziehen.“ (Schreibt Alan Mittleman vom American Jewish Committee in der Schrift „Gott und Politik in USA“, herausgegeben von K. M. Kodalle)

„Die Juden werden jüdischer“. Nach Meinung des führenden Neokonservativen Irving Kristol hängt das erstarkte Selbstbewusstein der Juden mit einer „Abwendung vom universalistischen säkularen Humanismus zusammen“. Diese Wendung zu einer höheren religiösen Identität sei Teil eines weltweiten Trends, einer Reaktion auf „eine tiefgreifende moralische und spirituelle Krise, die die gesamte westliche liberal-säkulare Mentalität“ erfasst habe.

Das war eine Absage an die Tradition der deutsch-jüdischen Aufklärung. Grund: wenn Juden „sich auf die Seite der Aufklärung und des säkularen Humanismus schlagen, entscheiden sie sich gegen die Werte ihrer eigenen Tradition, die ihr eigenes Überleben und das der Gesellschaft im ganzen befördern könnten.“

Neokonservative bestehen darauf, dass „Politik und Recht durch transzendente Werte abgestützt werden. Säkulare Legitimationen zur Orientierung des Gemeinwesens seinen unzulänglich, wenn es um das Überleben der Demokratie geht.“

Die amerikanischen Neokonservativen – das kann niemanden verwundern – bestärkten die Ultraorthodoxen in Israel in ihrem Kampf gegen den Atheismus der zionistischen Gründergeneration. Der siegreiche 6-Tage-Krieg hatte die imperiale Grundlage für das Wiedererstarken der Frommen im Lande geliefert. Damit die unduldsame Ablehnung der palästinensischen Urbevölkerung.

Die Gusch Emunim (der Block der Gläubigen) folgten der zündenden Kernidee: „Der messianische Geschichtsprozess hat begonnen – das Land Israel ist heilig – die jüdische Besiedlung des Landes beschleunigt die Erlösung. Die Besiedlung hat Vorrang vor der Befolgung der Gesetze Israels und des Völkerrechts: die Palästinenser haben kein Anrecht auf das Land.“ (Krippenberg, Gewalt als Gottesidee)

Wenn Netanjahu das palästinensische Jordantal besetzen will, folgt er keiner zufälligen Wahlkampfparole, sondern dem systematischen Plan, alle einstmals biblischen Gebiete unter israelische Kontrolle zu bringen. Es ist das von Gott zugesagte Land, das die Israelis sich wieder zurückholen.

Was hat all dies mit Ökologie zu tun? Der wesentliche Grund, dass die erste Ökobewegung für Jahrzehnte im Untergrund verschwand, lag im aufkommenden eschatologischen Bewusstsein des Westens. Hier der jüdischen Linie. Natürlich auch der christlichen.

Die Wiederkehr der Religion war identisch mit dem Bewusstsein, sich unabwendbar dem Finale der Heilsgeschichte zu nähern. Im Kampf gegen Satan beginnt der letzte Akt:

„Der Endkampf hat begonnen; das kosmische Drama, das mit dem vorweltlichen Sturz Satans auf die Erde begann, nähert sich dem Abschluss. Der wiederkommende Christus wird Satan besiegen. Die Bibel hat alles vorausgesagt und gibt eine unfehlbare Orientierung in dem Entscheidungskampf.“ (Dieter Stoodt in Kodalle) 

Für Chiliasten (Endzeitgläubige) wird Geschichte nicht von Menschen bestimmt. Sie ist ein Kampf zwischen Gut und Böse, der von Gott gesteuert wird.

In jenen Jahren der religiösen Rekonstruktion erschien in einer Auflage von 12 Millionen Exemplaren das Buch „The Late Great Planet Earth“ von Hal Lindsey, in dem er seine Botschaft vom 1000-jährigen Reich verkündete, dem die beginnenden Verwüstungen mit eschatologischer Notwendigkeit vorangehen müssten. (Kodalle)

Eine Ökologie zur Rettung der Welt wäre eine Kardinalsünde gegen den Geschichtsplan Gottes. Naturverwüstungen müssten sein, weil sie in der Offenbarung des Johannes geschildert seien. Wer sie verhindern wollte, wäre ein Feind Gottes.

Im seligen Deutschland sind all diese Vorgänge unbekannt. Wer hier nur den Begriff Apokalypse benutzt, macht sich eines religiösen Schreckbilds verdächtig. Eine Endzeit kennt hier niemand, den Konflikt zwischen Ökologie und Endzeit schon gar nicht.

Nehmen wir den ehemaligen Bundesumweltminister Töpfer, dem es nicht gelang, den damaligen Kanzler Kohl von der Dringlichkeit einer Politikveränderung zu überzeugen.

„In Bonn wird dem ehemaligen Bundesumweltminister Klaus Töpfer der Staatspreis NRW verliehen. Töpfer hat in den Neunzigerjahren die Dramatik der Klimakrise kommen sehen. In Hintergrundgesprächen konnte er klar benennen, was droht und was dagegen zu tun wäre. Aber er hatte nicht die Kraft, diese Politik bei Helmut Kohl durchzusetzen.“ (SPIEGEL.de)

Töpfer wurde zum vergessenen Propheten. Und dies in seiner eigenen Partei. Wie ihm erging es  auch Herbert Gruhl, der die ersten warnenden Bücher über die Naturkatastrophe schrieb – ohne jegliches Echo in seiner Partei. Er ging zu den Grünen, die ihn ebenfalls hinausgraulten. Daraufhin gründete er die ÖDP, die seitdem ein Nischendasein führt.

Warum ließ der selbstbewusste Professor Töpfer sich die Missachtung seiner Person und Botschaft gefallen? Warum verließ er nicht unter Protest seine selbstzufriedene Partei, die von Katastrophen bis zum heutigen Tag nichts hören will?

Obwohl sie selbst Umweltministerin war und beweisen wollte, wie man eine Aufgabe mit frischer Kraft bewältigt, hat Merkels vom Sieg über den Sozialismus rührende Anfängerenergie nicht lange angehalten. Kaum an der Macht als Kanzlerin, verpuffte jeder Elan für ein antikapitalistisches wie antisozialistisches Projekt und hat sich bis zum heutigen Tage nicht wieder hergestellt. Sie vertröstet, gibt sich zerknirscht, verspricht – und lässt alles schleifen.

Was ist die größte Lüge in Umweltpolitik? wurde die FfF-Aktivistin Luisa Neubauer in der TAZ gefragt.

„»Wir machen doch schon« ist, glaube ich, die größte Lüge. »Wir machen doch schon« weckt die Assoziation, man würde sich ja schon um das Klima kümmern. »Wir machen ja schon – weiter wie bisher«, wäre der korrekte Satz. Das ist der Stillstand, den wir erleben. Und was da teilweise an Sprüchen im politischen Rahmen kursiert, deckt schon ein ganz beeindruckendes Spektrum ab, von Vorwänden, Ausflüchten, Abkehrungen bis hin zu tatsächlich dreisten Lügen.“ (TAZ.de)

Neubauers Sätze stehen in klaffendem Widerspruch zu den Schutzbemerkungen medialer Muttersöhnchen, die das geplagte Mütterlein rundum absichern müssen. Sie muss alles richten. Allels hängt von ihr ab. Wie treu sie ihre Pflicht erledigt. Kommen sie um eine scharfe Kritik an der Regierungspolitik nicht herum, bleibt Merkels Name ungenannt.

Stephan A. Casdorff rühmt im TAGESSPIEGEL die Beruhigungswirkung der Kanzlerin, die an ihrem gewohnten Schlendrian nichts ändere. Und das sei gut so. Nach Casdorff wäre Merkel keine Politikerin, sondern die Seelsorgerin der Nation. Wie Mose breitet sie die Arme aus über ihre Nation und spricht: Tröstet, tröstet, mein Volk:

„Bekanntes, Bewährtes in Art und Umgang kann Vertrauen erhalten, wo es allenthalben in unserer Gesellschaft verloren zu gehen droht. Mit diesem Satz hat Merkel ja einmal für sich und ihre Wiederwahl geworben. Und es ist genau dieses Gefühl der Vertrautheit, dessentwegen sie immer noch das ist, was sie ist.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Nur eine Frau im SPIEGEL, Melanie Amann, wagt es, der Beruhigungsdroge Merkel ins Herz zu schauen:

„Tatsächlich sprach Merkel vom „gewaltigen Kraftakt“ der Klimawende, der „Geld kosten“ werde. Doch wer sind diese „wir“, die nun „erneuerbare Energien ausbauen“ oder „mit aller Kraft alternative Antriebe voranbringen müssen“? Merkel hätte sagen können, dass „wir“ künftig nicht mehr bequem mit dem SUV ins Büro fahren sollen, dass „wir“ einen hohen Preis für den Flug ins Wochenende nach Rom oder Paris zahlen sollten. Doch sogar auf den letzten Metern ihrer Kanzlerschaft, unangefochten in der CDU, getragen von hohen Beliebtheitswerten und umgeben von einer Gesellschaft, deren Klimasensibilität ausgeprägter ist denn je, will Merkel den Bürgern bloß nichts zumuten. Führung geht anders. Auch auf internationaler Ebene lässt Merkel wenig Gestaltungsanspruch erkennen. Zwar warnt sie Chinas autokratische Regierung vor Gewalt gegen die Demonstranten in Hongkong. Doch Klartext, welche Umwälzungen der chinesische Gigant mit seiner digitalen Übermacht den Deutschen noch bescheren wird, hört man nicht von der Kanzlerin.“ (SPIEGEL.de)

Mehrere Hypothesen bieten sich an, die apokalyptische Blindheit des Systems Merkel, identisch mit System Deutschland, zu erklären.
a) Die Deutschen haben ihr 1000-jähriges Reich in der Rekordzeit von 12 Jahren hinter sich gebracht. Ihr Sinn und Geschmack fürs Eschaton ist ihnen fürs erste vergangen.
b) In ihrem kollektiven Unbewussten ahnen und spüren sie Reste ihres Glaubens an den Jüngsten Tag. Da sie sich schuldig fühlen, nur noch über einen Glauben ohne finales Ende zu verfügen, verdrängen sie alles mit noch größerem Zynismus.
c) Noch immer bilden sie sich ein, die Ökologiebewegung erfunden zu haben und in praktischer Hinsicht ein Vorbild für alle Welt zu sein. Die selbstzufriedene Presse, die nichts lieber tut, als den jammernden Plebs in die Pfanne zu hauen, will ihrerseits keine Anklagen erheben, um das paradiesische Selbstgefühl der Weltmeisternation nicht zu erschüttern.

Die Grünen sind zum schöpfungsbewahrenden CVJM-Anhängsel der Kirchen verkümmert. Anstatt eine volle Naturphilosophie ohne religiöse Verfälschung zu bieten und den Deutschen um die Ohren zu hauen, wagen sie es nicht mal, punktuelle Verbote zu fordern. Einerseits fürchten sie selbst, die prächtige liberale Freiheit zu beschädigen, andererseits erwarten sie nichts von der moralischen Autonomie des Einzelnen. Damit entmündigen sie die demokratische Kompetenz des Citoyens, die in der Lage ist, politische Entscheidungen selbst zu treffen. Auf der individuellen wie auf der politischen Ebene.

Zudem gibt es kaum einflussreiche Institutionen, die sich hervorgetan hätten mit ökologischer Verve. Im Gegenteil. Die Kirchen tun, als seien sie dabei, weil sie nirgendwo dabei sind. Gewerkschaften waren bislang erbitterte Gegner der arbeitsplatzvernichtenden Naturschwärmer. Erst jetzt geht Bsirske den Demonstranten ein wenig entgegen. Die gesamte akademische Unifraktion hält sich für zu vornehm, um für niedere praktische Zwecke Plakate zu schwenken. Nicht einmal Wissenschaftler, die für Faktenklarheit sorgten, ließen politisches Engagement erkennen: Jetzt oder Nie. Hic Rhodus hic salta, spring oder stirb.

Im Gegenteil: noch immer besorgen die Gelehrten das Geschäft der Abwiegler und Entwarner, ganz im Geist ihrer hochverehrten Kanzlerin:

„Herfried Münkler: Die globale Dimension, den Klimawandel und den globalen Kapitalismus begreifen wir als Hintergrundvoraussetzungen, aber wir wollten uns auf das konzentrieren, was nationalstaatlich bearbeitbar, was agendafähig ist. Je globaler ein Problem ist, desto geringer wird der Einfluss der deutschen Politik, auch wenn viele das nicht so wahrnehmen, sondern glauben, mit demonstrative Akten die Welt verändern und retten zu können.“ (Sueddeutsche.de)

Die unfassbare Botschaft der Machiavellisten-Sympathisanten: was Deutschland nicht alleine zustande bringt, davon sollte es ganz die Finger lassen.

Am schlimmsten die Großbetriebe, die nicht nur verrotten und zerfallen, sondern auch nicht zugeben können, dass ihre Ideologie gescheitert ist. Sollten einige ihrer Abhängigen auf die Idee kommen, am Freitag ihre Arbeit zu schwänzen, werden hohe Anzugträger die Streikenden mit der Rute am Eingangstor empfangen:

„Viele deutsche Unternehmen unterstützen den Friday-for-Future-Aktionstag am kommenden Freitag nicht. Einige wollen sogar „disziplinarische Maßnahmen“ prüfen, wenn Arbeitnehmer ihrem Job unentschuldigt fernbleiben. Politische Streiks sind in Deutschland seit 1952 verboten.“ (Sueddeutsche.de)

Politische Streiks sind in Deutschland verboten! Glaubt man das? Kann es einen deutlicheren Beweis für den Sieg des Kapitals über die Demokratie geben?

Der Staat verletzt all seine Fürsorgepflichten gegenüber dem Volk, indem er die mit rasender Geschwindigkeit sich nähernde Gesamtkatastrophe billigend und gleichgültig in Kauf nimmt. Für diesen Fall aber gilt Artikel 20 GG:

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Widerstand gegen diesen Staat, der keiner mehr ist, sondern sich täglich zerlegt, wäre die erste Bürgerpflicht.

Die Presse vernachlässigt ihre selbstgewählte Rolle einer warnenden Vierten Gewalt in Theorie und Praxis. Sie gefällt sich als müßige Beobachterkaste, die sich an bad news aufgeilt, ohne das wirklich Verhängnisvolle zu sehen, zu warnen und selbst vorzumachen, was sie in der Pose ennuyierter Logenbeobachter von anderen erwartet.

Gleich, was geschieht, vor dem spöttischen Auge der Kühlen und Kalten hat nichts Bestand. Geschieht nichts oder zu wenig, fragen sie in gespielter Strenge: wo bleiben die Demonstranten für…? Geschieht aber etwas, stellen sie betrübt fest: was versprechen sich diese messianischen Welterretter? Heute wandeln sie über Wasser, morgen versinken sie in den Fluten. Ausgeschlossen, dass man es Edelschreibern recht machen könnte.

Eine Insiderin rüffelt ihre KollegInnen:

„Ich habe mir Material aus mehr als fünf Jahren Klimaberichterstattung über die Arktis angesehen, und die überwältigende Mehrheit der Quellen waren entweder Wissenschaftler oder Politiker. Gleichzeitig kamen die Menschen vor Ort in den Geschichten darüber, was in ihrer eigenen Welt passiert, erschreckenderweise so gut wie gar nicht zu Wort. Und Sie wissen ja: Wir Journalisten finden tendenziell unsere Quellen dadurch, dass wir gegenseitig unsere Arbeiten lesen, was wiederum dazu führt, dass immer die gleichen Menschen, die gleichen Experten vorkommen.  Beim Klimawandel, der ja ein außerordentlich wichtiges Thema ist, müssen wir meiner Meinung nach eine stärker ausgewogenere Berichterstattung erreichen: Immer nur über Klimafolgen und Bedrohungen zu schreiben, ohne zu erwähnen, was wir dagegen tun können – das ist einfach der Sache nicht angemessen. Mir ist bewusst, dass ‚lösungsorientierter Journalismus‘ nach Lobbyismus klingt. Und auch ich gehöre und gehörte definitiv immer zu den Journalisten, die auf gar keinen Fall in Verdacht geraten wollten, Lobbyisten zu sein. Aber lösungsorientierter Journalismus ist etwas anderes.“ (Klimafakten.de)

Es genügt nicht, nur Fakten abzufeuern, ohne sie zu erklären, ohne ihre Ursachen zu erforschen, sie politisch einzuordnen und vor allem: ohne Lösungen anzubieten.

Im Jahre 1992 schrieb Herbert Gruhl sein zweites Buch „Himmelfahrt ins Nichts“. Darin zitiert er Erich Fromm:

„Alle Daten sind der Öffentlichkeit zugänglich und weithin bekannt. Die unglaubliche Tatsache ist jedoch, dass bisher keine ernsthaften Anstrengungen unternommen wurden, um das verkündete Schicksal abzuwenden. Während im Privatleben nur ein Wahnsinniger bei der Bedrohung seiner Existenz untätig bliebe, unternehmen die für das öffentliche Wohl Verantwortlichen praktisch nichts, und diejenigen, die sich ihnen anvertraut haben, lassen sie gewähren. Wie ist es möglich, dass der stärkste aller Instinkte, der Selbsterhaltungstreib, nicht mehr zu funktionieren scheint?“

Lapidare Antwort: der Selbsterhaltungstrieb ist längst zum Selbstzerstörungstrieb geworden. Damit religiöse Erlösungsmaschinerien Recht behalten.

Hier hülfe nur eins. Versagt der Staat, müssen Untertanen sich in Demokraten verwandeln und durch Widerstand zeigen, was Sache ist.

 

Fortsetzung folgt.