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Von vorne LXI

Von vorne LXI,

es gibt noch Wunder. BILD feierte in Berlin ein Fest der Freiheit – mit einem bemerkenswerten jungen Palästinenser, der gegen Netanjahus Annexionspläne des Jordantales mit friedlichen Mitteln protestiert hatte.

„Auf der Dachterrasse des Deutschen Parlaments dann Beifall, Blitzlicht, Begrüßung durch BILD-Chef Julian Reichelt.“ (BILD.de)

Eine Schar illustrer Gäste war erschienen, um den mutigen Gast zu feiern. Unter ihnen AKK, Karl Theodor zu Guttenberg, Bundestagspräsident Schäuble und Influencerin Diana zur Löwen.

Mathias Döpfner hielt eine Grundsatzrede, in der er zerknirscht bekennen musste, dass Netanjahu mit seiner nicht enden wollenden Annexionspolitik die „bedingungslose Loyalität“ des Springer-Verlags überstrapaziert habe.

Loyalität zu Israel? Unbedingt, das sei das moralische Grundprinzip seines Hauses, daran werde sich nichts ändern. Zukünftige Loyalität aber nur auf der Grundlage aller Menschen- und Völkerrechte. Ab jetzt werde das zur verlässlichen, aber auch kritischen Maxime von BILD und WELT.

Döpfner wandte sich direkt an die abwesende Bundeskanzlerin und ermahnte sie, nicht länger ihrer arglistigen Demutshaltung zu Israel zu folgen und sich dem neuen Kurs seines Hauses subito anzuschließen. Starker Beifall, besonders von der Parteivorsitzenden und allen VIPs der CDU und CSU.

Selbst Saudi-Arabien, sonst nicht bekannt für glühende Anerkennung dekadenter westlicher Werte, hatte öffentlichen Protest angemeldet:

„Die Ankündigung sei eine „sehr gefährliche Eskalation“, die sich gegen das palästinensische Volk richte und eine „eklatante Verletzung“ der UN-Charta und des Völkerrechts darstelle.“ (ZEIT.de)

Unter den Gästen kursierte die klammheimliche Vermutung – manche nannten sie Verschwörungstheorie –, dass Israels Premier mit seiner Ankündigung

den wankelmütigen amerikanischen Präsidenten zu bedingungsloser Kooperation nötigen wolle.

Wie immer berichteten die deutschen Gazetten, als ginge es um ein Geschehen, das sie nichts anginge. Ja, sie banalisierten den Coup zum durchsichtigen Wahlmanöver:

„Fest steht: Die Idee des Premiers ist erst einmal vor allem ein Wahlkampfmanöver. Mit der Ankündigung will Netanyahu offenkundig weitere Stimmen rechtsgerichteter Wähler gewinnen.“ (SPIEGEL.de)

Gilt ein angekündigtes Völkerverbrechen als legitime Propaganda, sind auch Trumps angekündigte Vernichtungskriege voll gerechtfertigt: seine Klientel will er bei Laune halten.

Nicht schwer nachzuvollziehen, wenn Netanjahu seinem Partner im Weißen Haus zu misstrauen begönne. Denn Trumps Allmachtsphantasien scheinen sich nicht mehr damit zu begnügen, Anführer der westlichen Welt zu sein. Tornados will er mit Atomwaffen bekämpfen, das Universum mit seiner US-Armee besetzen. Doch das genügt noch nicht. Jetzt will er zum Gott des Wetters aufsteigen:

„Während sich die Welt über die gepimpte Karte des Präsidenten amüsierte, sprang die US-Meteorologiebehörde NOAA dem Präsidenten überraschend bei.“ (SPIEGEL.de)

Während jugendliche Demonstranten und Bevölkerungen vieler Staaten – in Moskau, Hongkong, Brasilien, England, Südafrika, Türkei, Myanmar, Argentinien – demokratische und ökologische Kurskorrekturen verlangen, bewegen sich die mächtigsten Regierungen der Welt in Richtung faschistische Despotien.

Putin, Erdogan, Bolsonaro lassen oppositionelle Stimmen einschüchtern und einsperren, Trump und Johnson missachten in autokratischer Selbstherrlichkeit die Regeln der Demokratie.

Chinas Bildungssystem ist ein totalitärer Horror – wenngleich deutsche Bildungsplaner mit verstohlener Bewunderung ins Reich der überwachten Mitte schielen werden. Bildungspolitiker aller Couleur überschlagen sich bei uns mit ständiger Verschärfung staatlicher Selektionsanforderungen. Wissen sie doch am besten, wie man die unbefangene Intelligenz der Kinder frühzeitig deformiert und in instrumentellen Karrierismus entstellt. Ohne staatliche Krippendisziplin kein Wirtschaftswachstum.

„Längst gibt es einen scharfen Wettbewerb zwischen den Familien, die unvorstellbare Mengen an Ressourcen, Zeit, Energie und geistiger Anstrengung aufbringen sollen, um ihre Kinder zu bestmöglichen im Sinne des Staates zu machen. Doch am Ende müssen alle das Ergebnis akzeptieren, das die weit geöffnete Einkommensschere und die Machtstruktur in China produziert: Die Elite und ein paar wenige Glückliche mit genug Talent erreichen für ihre Kinder den Mond. Die meisten können es nicht. Die beste Strategie für gewöhnliche Familien liegt in der Formung von Wunderkindern, falls das denn überhaupt geht. Von der Grundschule bis zum College haben chinesische Schülerinnen und Schüler täglich 14 Unterrichtsstunden, und danach geht das Lernen zu Hause noch weiter. Auch die außerschulische Zeit will gut genutzt und von den Eltern angeleitet sein, die allerdings oft schockierende Berichte über die Wunderkinder der anderen lesen müssen.“ (ZEIT.de)

Deutsche Kinder müssen beizeiten verinnerlichen, dass gegen heilige Mächte des Westens wie Roboterisierung, Wirtschaftswachstum kein Kraut gewachsen ist. All dies komme unaufhaltsam über uns. Fragen, wer diese Mächte bestimmt, gelten bereits als selbstschädigend. Daher die Standardfrage in deutschen TV-Trivialfilmen: Was macht das mit dir?

Der Mensch wird gemacht, er ist kein Subjekt mehr, sondern ein quietistischer Schicksalsgläubiger. Die liberale Freiheit der Neoliberalen dünkt sich grenzenlos, dabei sind sie Marionetten eines allmächtigen Marktes – und eines grenzenlosen Fortschritts, der sie führt, wohin sie nicht wollen.

Selbstbewusste Feministinnen wollen sich nicht länger mit einer Emanzipation begnügen, die sich nur gleichberechtigt wähnt, wenn sie mit der Männerwelt kompatibel ist.

Die gesamte Arbeitswelt ist kapitalistisch sklerotisiert. Kapitalismus ist eine durch und durch männliche Hypertrophie. Jede maskuline Betätigung gilt als Arbeit, auch wenn sie nichts anderes ist als Zocken und Pokern mit Irrsinnsbeträgen.

Nur die Arbeit der Frauen als Fürsorge für Kinder und den Zusammenhalt der Sippe gilt als Knechtschaft am Herd. Wenn aber eine Demokratie nicht aus vitalen Lebensgemeinschaften besteht, kann sie keine überlebensfähige Volksherrschaft sein. Politik ist die Frucht privater Verhaltensweisen, die sich erkühnen, öffentlich zu werden. Der Einzelne übernimmt Verantwortung für das Ganze. Der Interessenterror rivalisierender Nationen wird die Menschheit zerschlagen und lebensunfähig machen.

„Nicht das, was Männer haben und tun, ist ihr Maßstab. Feminismus bedeutet einzutreten für eine umfassende Veränderung unseres Zusammenlebens, in der zwar rechtliche und ökonomische Gleichberechtigung wichtig sind, jedoch ein insgesamt gutes Leben im Vordergrund steht – für eine Welt, in der jede Person ihren Platz finden kann“, schreibt Teresa Bücker in der Berliner Zeitung. (Berliner-Zeitung.de)

Machiavellistische Interessenmachos behaupten, humane Politik sei eine fahrlässige Überdehnung der Nestmoral in eine erbarmungslose Welt. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Als das „Naturrecht der Schwachen“ nicht mehr Sippe und Gemeinschaft bestimmte, sondern vom „Naturrecht der Starken“ – mit Kriegen und Ausdehnung in internationale Regellosigkeit – zerschlagen wurde, war es um die Urpolis geschehen.

Die Welt muss die Misstöne nationaler Konkurrenz mit fairen Regeln zum Verstummen bringen, wenn sie verhüten will, dass Unstimmigkeiten in militärischen Wahnsinn ausarten. Nationale Grenzen müssen abgebaut werden, damit die Menschheit lernt, sich als Schicksalsgemeinschaft zu verstehen, die ihre Probleme entweder zusammen löst – oder zusammen untergeht.

Alles, was Demokratie schwächt, stärkt den globalen Faschismus. Die globalen Regressionen nach rechts sind Suchbewegungen eines drohenden Weltfaschismus.

Was aber ist Faschismus? Glaube niemand, zur Beantwortung der Frage müsste man sich mit Hannah Arendt auseinandersetzen. Es sind auch keine historischen Vergangenheitsgucker, die sich befugt fühlten, eine Antwort zu geben. Es sind soziologische Auswerter gegenwärtiger Daten, die sich auf die Definition einer willkürlichen Autorität berufen und mit Hilfe dieser Definition empirische Daten sammeln.

„Zugrunde liegt die Definition von Roger Griffin, einem Professor für Zeitgeschichte in Oxford. Er bezeichnet Faschismus als „palingenetischen Ultranationalismus“, der die „Neugeburt“ der Nation anstrebt, entschlackt von angeblich verkommenen Eliten, Lobbyisten, dem systemstützenden Beamtenapparat wie ihren gefügigen Medien. Solche, immer populistischen Ideologien beanspruchen, als einzige die unverblümte Wahrheit zu sagen, schonungslose Diagnosen der Wirklichkeit zu liefern.“ (Sueddeutsche.de)

Nach dieser fahrlässigen Definition wären die meisten Philosophen Faschisten gewesen. Wer schonungslos Kapitalismus und Medien attackiert, hat sich schon verdächtig gemacht. Nach Popper ist nicht der Faschist, der an seine Wahrheit glaubt, sondern wer sie mit Gewalt dem anderen aufzwingen will. Die Religion hingegen, die am unfehlbarsten auftritt, wird mit keinem Wort erwähnt.

Popper hielt nichts von quantitativen Fragespielen, denn sie würden immer zu Wunschergebnissen führen. Nicht, weil die Untersucher betrügen würden, sondern weil die Befragten die erwünschten Antworten der Frager intuitiv erahnen und – entsprechend beantworten würden. Der Grund: ihr autoritäres Unbewusstes würde die Fragesteller stets als überlegen einschätzen.

Es ist wie bei IQ-Tests, die Intelligenzformen ermitteln, die die Tester für richtig halten. Die Neigung, es gotterwählten Eliten recht zu machen, wird durch die Angst potentieller Abweichler komplettiert, mit einer unangemessene Antwort in Ungnade zu fallen oder sonstige Nachteile zu kassieren.

Geisteswissenschaftler verstecken sich hinter der falschen Objektivität quantitativer Erhebungen. Anstatt ihre Meinungen offen und angreifbar zu präsentieren, treten sie auf wie der Hegel‘sche Weltgeist in Zahlen.

Ein Trugschluss, der subjektives Wahrnehmen und philosophisches Disputieren in den Wind schlägt. Gerade hier gilt: weniger wäre mehr. Denn die höchstmögliche Form der Objektivität ist eine offen gelegte Subjektivität, die sich im Streit mit anderen Subjektivitäten bewähren muss. Da es keine Instanz gibt, die unfehlbar über wahr oder falsch befinden kann, muss sich jeder seine eigene Meinung bilden – durch intensives Durcharbeiten der konträren Meinungen.

Wahrheit erkennen ist ein Wandern durch alle vorhandenen Meinungen, um nach der Reise zu einem Urteil zu gelangen.

Nun lautet ein modernes Dogma, eine endgültige Wahrheit gebe es nicht. Wie die meisten modernen Dogmen widerlegt dieses sich selbst. Denn es behauptet apodiktisch die Widerlegbarkeit seiner eigenen Meinung.

Es ist wie bei Kants Behauptung, die vom Menschen unabhängige Wirklichkeit oder das Ding an sich sei unerkennbar. Mit welchen Mitteln will er das erkannt haben, wenn er das Erkennen des Dings an sich für unmöglich hielt? Das Ding an sich ist die Natur, die der Mensch nicht erschaffen hat.

Der Mensch kann nur erkennen, was er der Natur vorgeschrieben hat. Erkennbar ist allein das vom Menschen Geprägte oder Erschaffene. Apriorisches Vorschreiben (apriori = von vorneherein, unabhängig von der Natur) ist die Vorbedingung allen Erkennens. Vorschreiben aber wäre – in höchster Vollendung – Erschaffen aus Nichts. Der Mensch kann nur erkennen, was er ex nihilo erschafft. Er muss Schöpfer der Natur sein, damit er sie erkennen kann. Mit anderen Worten: er erkennt nur – sich selbst.

Doch bei Kant ist der Mensch nur teilweise ein Schöpfer, denn das Ding an sich existiert bereits unabhängig von ihm. Diese fremde, ganz andere Natur bleibt ihm für immer verschlossen. Erkennbar ist für ihn nur jene Natur, die von ihm geprägt wurde: das Geschöpf der Kopulation aus heller Vernunft und ewig dunkler Materie.

„Gendermäßig“ formuliert: das Weib Natur bliebe für immer ein undurchdringliches Universum, wenn der Mann mit seinem Samen der Vernunft nicht die törichte Natur besät hätte und nun die Früchte aus Dunkelheit und Licht ernten könnte.

Der kantische Mensch ist nicht gleich dem christlichen Gott, sondern nur der platonischen Idee, die die sinnliche Masse durchdringt, um sie erkennbar zu machen. Er ist kein Schöpfer, sondern ein Demiurg, ein Handwerker, der aus Materie etwas Sinnvolles gestalten kann. Erst bei Fichte expandiert der halb-mächtige Demiurg zum allmächtigen Creator.

Was bedeutet das ökologisch? Der Mensch ist unfähig, den wirklichen Zustand der Natur wahrzunehmen. Er erkennt nur Kultur, das Selbstgemachte – nicht Natur, das unabhängige Ding. Objektive Katastrophenmeldungen über die Natur wären demnach unmöglich, denn dem Menschen ist die Natur an sich verschlossen. Nur die gezeugte Mischnatur oder Kultur ist objektiv erkennbar.

Schaut man genauer hin, ist bei Kant auch die vernunftgeprägte Natur unerkennbar. Denn Kultur ist ein Zwitter aus Hell und Dunkel, aus Vernunft und Ding an sich. An den Zwitterwesen wäre nur ihr Vernunftanteil, nicht das dunkle Erbe der Natur erkennbar. Wenn man will, wäre nichts erkennbar, denn nur was ganz erkennbar ist, ist wirklich erkennbar.

Psychologisch hingegen ist Kants Erkenntnistheorie entlarvend. Da der Mensch nur erkennt, was er selbst dazu beiträgt: die himmelhochjauchzenden Werke seiner Maschinenkultur, da er sich zudem für den wahren Zustand der Natur nicht interessiert, kann es nicht verwunderlich sein, wenn dem narzisstisch in sein Werk vernarrten Demiurg das Substrat seiner Kultur, die ursprüngliche Natur, ohne Interesse ist.

Verdeutlichen kann man sich dies durch den traditionellen Streit der Eltern. Zeigt ein Kind hervorragende Leistungen, hat es die Begabung des Vaters. Ist es ein Versager, ähnelt es der Mutter.

Eine unerkennbare Wahrheit ist ein Begriff ohne Sinn. Denn eine unerkennbare Wahrheit würden wir in ihrer Unerkennbarkeit nicht erkennen. Was unerkennbar ist, darüber gibt es keine Aussagen. In praktischer Hinsicht allerdings könnte man die Definition benutzen, um dem eigenen Unfehlbarkeitsbedürfnis nicht in die Falle zu tappen und anderen Meinungen eine Chance zu geben. Das beträfe allerdings nur theoretische Wahrheiten, die für das konkrete Leben irrelevant sind.

Die bescheiden klingende Definition ist für das praktische Leben unbrauchbar. Ja, sie könnte dazu führen, seinen eigenen Prinzipien untreu zu werden. Wenn wir beispielsweise bekennende Humanisten und Demokraten wären: welchen Sinn hätte es, sich ständig dafür zu entschuldigen mit dem Hinweis, natürlich könnten wir uns auch irren? Diese Bescheidenheit wäre nichts als Feigheit.

Wie aber können wir sicher sein, dass Humanität das Nonplusultra menschlichen Verhaltens ist? Durch Erfahrung. Wer erfahren hat, dass Anerkennen und liebendes Vertrauen Seelen zueinander führt, der will von der „Droge Menschlichkeit“ nicht mehr lassen.

Klingt naiv? Nach Träumerei? Ist die Welt nicht zu böse, um solche Träumereien lächerlich zu machen? Birgt Menschlichkeit nicht endlose Gefahren ständigen Verletzt-, ja Getötetwerdens? Unbezweifelbar.

Weil solche Gefahren überall in der Welt lauern, haben kluge Menschen die Demokratie erfunden. Hier können sich viele Menschen humaner Gesinnung verbünden, um sich gemeinsam gegen die Brutalität der Starken zu wehren.

Wären die Barbaren aber übermächtig, hätte eine humane Polis keine Chance. Die einzige Chance, die die Polis hätte, wäre, durch vorbildliches Verhalten viele Nachbarn anzuregen, demokratisch zu werden. Je mehr Demokratien es auf Erden gibt, je höher ist die Chance, Frieden mit Mensch und Natur zu schließen.

Einen untrüglichen Beweis, dass diese humane Haltung eines Tages „gewinnen“ wird, gibt es nicht. Hier hülfe nur der Glaube an die friedliche Überlegenheit des Menschseins. Kein Glaube an eine Gottheit, sondern an die Vernunft des Menschen, die sich in Taten zeigt. Der Glaube wäre Lernen, die gemeinsame Fähigkeit des Menschen, seine Probleme in liebendem Streit auszufechten und gütlich beizulegen.

Keine mathematische Formel kann die Gültigkeit dieses Glaubens bestätigen. Jeder muss die Entscheidung selbst treffen. In einer lebendigen Demokratie gäbe es die besten Chancen, gemeinsam mit Gleichgesinnten die Gesellschaft zu verändern.

Beim Wort Verändern fällt Humanitätsverächtern nur das Stichwort Gewalt ein. Wer verändern will, wolle nichts als vergewaltigen, zwangsbeglücken.

Genau dies aber wäre – Faschismus, die Welt mit List und Tücke in ein gigantisches Gefängnis zu verwandeln. Die Veränderungsmethoden wahrer Demokraten bestehen nicht aus Folter und Zwang, sondern aus vorbildlichem Verhalten und durchdachtem Argumentieren.

Doch was, wenn die Umwelt nicht zu überzeugen wäre und mit Angriff oder Vernichtung drohte: was bliebe dem „humanen Träumer“? Für Sokrates war die Antwort eindeutig: besser, Unrecht erleiden als Unrecht tun.

Eins kann nicht bestritten werden: je mehr Menschen es gäbe, die dem sokratischen Motto folgten, je höher stiegen die Chancen auf eine lebenswerte Zukunft.

Freilich, wer böse Abwechslung für das Salz des Lebens hält, der muss jede humane Utopie verhöhnen. Das Böse als Mittel eines lebenswerten Lebens aber wäre – Faschismus.

Das dritte Reich praktizierte das Böse in teuflischer Unbegrenztheit. Der Neoliberalismus hingegen stilisiert das Böse zur unbeabsichtigen, inkorrigiblen Nebenfolge. Eine autonome Moral, die das Elend beheben könnte, wird von Hayek geleugnet. Gnadenlose Ökonomie sei ein Gesetz der Natur, das vom Menschen nicht verändert werden könne.

Wer aber an die Verantwortung des Menschen glaubt, muss zugestehen: die systematische Vernichtung der Natur hat die westliche Demokratie nicht verhindert. Sie machte sich abhängig von den Seligpreisungen des allmächtigen Marktes und schaute unbeweglich zu, wie das unerkennbare Ding an sich immer bedrohlicher und erkennbarer verschwand.

Um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, behauptet der Westen, es gebe keine objektive Wahrnehmung. Der Mensch sei unfähig, die Wahrheit zu erkennen. Diese erkünstelte Bescheidenheit im Wahrnehmen und Erkennen war die suizidale Verblendung seines Größenwahns.

Je weiter sich der Westen nach rechts bewegt, je totalitärer wird er. Er mag sich einreden, keinen Menschen direkt zu töten. Der Mehrheit der Menschen ginge es doch gut. Die Fassaden des Wohlstands stünden noch, der Reichtum der Welt wachse ins Unermessliche. Könne es eine effektivere Ökonomie geben als die kapitalistische?

Noch stehen die Fassaden, aber schon schwanken sie am Rande des Abgrunds. Noch werden die alten Generationen mit dem Schrecken davonkommen. Doch schon ist der Kapitalismus dabei, seine moralisierenden Ketten vollends abzuwerfen und seine Gottähnlichkeit endgültig unter Beweis zu stellen: aus Nichts zu schaffen, ins Nichts zu vernichten.

Diese Wahrheit halten wir für evident: Sollte die Menschheit ihren tödlichen Kurs nicht mit einem außerordentlichen Kraftakt ins Gegenteil verkehren, wird sie ihren gesamten Nachwuchs auslöschen und die Erde in einen planetarischen Friedhof verwandeln. Niemanden wird es geben, der die Toten beweinen wird.

 

Fortsetzung folgt.