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Von vorne L

Von vorne L,

die Entdeckung der Moral begann mit der Entdeckung der Zahl. Die Zahl war die Ordnung der Natur – was war die Ordnung des Menschen? Gehörte der Mensch nicht zur Natur? Dann hätte die Ordnung der Zahl auch für ihn gelten müssen. Woher aber die Unordnung unter den Menschen?

Da kam Unruhe auf. War der Mensch kein Mitglied der Natur? War er aus ihrer Ordnung herausgefallen?

Lang, lang ist‘s her, als alles besser war – was die ecclesia triumphans des Fortschritts partout nicht anerkennen will, um nicht als blamabler Rückschritt enttarnt zu werden: damals, in der Frühzeit der Menschheit, soll es das Reich der Mütter gegeben haben, was das Reich der Männer bis heute dementiert.

„Aus dem gebärenden Muttertum stammt die allgemeine Brüderlichkeit aller Menschen, deren Bewusstsein und Anerkennung mit der Ausbildung der Paternität untergeht.“ (Bachofen)

Als die Männerherrschaften, die das Reich der Mütter zerstört hatten, ins Taumeln gerieten, entdeckten sie plötzlich wieder die Ordnung der Mütter – in der Natur, im Reich der Zahlen. Die Natur schien vollkommen durch die wohlige Ordnung der Zahlen. Das Abstrakteste wurde zur Grundlage des Heimischen.

„Pythagoras glaubte das Wesen der Dinge in der Zahl zu finden. Durch die Erhebung der Zahl, des Abstraktesten, was sich denken lässt, zum Prinzip der Welt war eine Idee gefunden, die das Sein der Körperwelt bestimmte. Durch sie wurde die Vielheit der Dinge zum geordneten Kosmos, in dem das Leben des Einzelnen in der Gesellschaft in Harmonie gestaltet war. Dies war das Grundgesetz der pythagoreischen Ethik und Politik, die in der Gerechtigkeit gipfelte und

das Leben nach Maß und Regel ordnete. Die Mathematik wurde für die Pythagoräer zur Wissenschaft schlechthin.“ (Nestle)

Die Erkenntnis der Zahl ist Mathematik. „Mathematik heißt eigentlich „Mutter-Weisheit“. Das Sanskritwort matra, wie das griechische mater, heißt nicht nur Mutter, sondern Messung. (Metrik, Mensur, Meter, Mensis). Zahlen und Buchstaben waren im Mittleren Osten Erfindungen der Großen Göttin. Frauen könnten gebären – dachten die Männer –, weil sie hervorragend rechnen konnten.“ (Walker)

Die Zahl wurde zur Substanz der Dinge.

„Substanz ist das, was im eigentlichen Sinne seiend ist“, etwas, „was durch und in sich selbst ist, nicht durch ein anderes oder an bzw. in einem anderen“, das, „was an sich ist und durch sich begriffen wird“ – oder anders ausgedrückt: die Substanz ist das eigentliche Wesen eines Dinges.“

Mit andern Worten: Substanz ist das Mütterliche, das durch sich selbst besteht – und keinen Vater kennt.

„Alle Völker der Welt in prähistorischen Zeiten wussten nichts über den Anteil des Mannes am Reproduktionsprozess. Sie nahmen an, dass nur Frauen die göttliche Macht besäßen, Leben hervorzubringen. Alte Mythologien sprechen zumeist von einer Schöpferin, nicht von männlichen Schöpfern. Leben konnte nur die Frau hervorbringen.“

Mit der Machtübernahme der Männer über das Matriarchat begannen Unordnung und Unwesen unter den Menschen. Das Wesen war nichts anderes als die Substanz, die durch sich allein in harmonischer Ordnung existiert. Als das Reich der Mütter zerstört wurde, begann die amoralische Unordnung der Männer.

Die homerischen Götter trieben es wild und dachten nicht daran, Vorbilder der Menschen zu sein. Als die Griechen begannen, sich der Moral der Mütter zu erinnern und sie der Vergessenheit zu entreißen, war ihr erster Schritt, die Götter zu zivilisieren – oder abzuschaffen.

Bei Hesiod musste Zeus erst die wilden Titanen bekämpfen, ehe er zum Stifter einer gerechten Weltordnung werden konnte. Für den bäuerlichen Poeten gab es eine sittliche Weltordnung, die von Zeus ausging und in der Menschheit realisiert werden sollte. Das Rechtsgefühl hob das aristokratische Recht des Stärkeren auf. Dem Habicht wird verwehrt, die hilflose Nachtigall zu drangsalieren. Nach diesem Recht sollten die Menschen leben und ihr gemeinsames Wohl fördern.

Will jemand à la Nietzsche vom „Sklavenaufstand in der Moral“ sprechen, der muss nicht auf Sokrates warten. Schon bei Hesiod, dem Herold bäuerlicher Arbeit, werden Recht und Sittlichkeit zu Grundlagen des Miteinanders. Der moderne Kampf gegen Moral ist so alt wie die ersten Versuche, die männliche Hochkultur in Schranken zu weisen.

Moral gilt als weibisch. Echte Männer, vom kampflustigen ritterlichen Adel bis zu den heutigen Wiederaufrüstern, fechten die Herrschaft über die Welt mit Gewalt und Imponiergehabe aus. Damit die Frau nicht auf die Idee kommt, sie könne mit weibischer Friedfertigkeit ihre uralte Dominanz – die nicht auf Macht und Stärke beruhte – zurückerobern, wurde ihr attestiert, die Ursache aller Übel zu sein.

Beim männlichen Schöpfer war es Eva, die Urmutter, die durch naseweises Wissenwollen das Elend über die Menschheit brachte. In der beginnenden Aufklärung war es Pandora (die Allbeschenkte), die die Büchse des Zeus öffnete, aus denen alle Plagen dieser Welt entwichen.

Bäuerliche Gerechtigkeitsmoral setzte sich durch gegen die adlige Standesmoral per Schwert, Reichtum und Ansehen – und entwickelte sich zur Demokratie. Als die Völker sich immer mehr ausbreiteten und aufeinander stießen, musste das Problem entstehen: welche Moral der vielen unterschiedlichen Völkermoralen war die richtige?

„Bei der Ausschau nach einem ordnenden Prinzip für die bunte Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit der Sitten und Gebräuche stießen die Griechen auf den Begriff Natur. Schon in der medizinischen Schule des Hippokrates war Natur zur Quelle des Gesunden geworden, mit deren Hilfe Krankheiten besiegt werden konnten. Das hinterließ einen derartigen Eindruck, dass Physis, die Natur, auch zur obersten Rechts- und Moralinstanz avancierte. Alles wurde vor den Richterstuhl der Natur und damit, wie man annahm, der Vernunft gestellt. Das herkömmliche Leben in instinktiver Sicherheit war vorbei: alles musste problematisiert werden.“

Natur wurde zur Vernunft. Aber welche Natur? Hatte sie nicht verschiedene Gesichter? War sie nicht gütig, freigebig einerseits – aber grausam und ungerecht auf der anderen Seite? Das Doppelgesicht der Natur wurde zum doppelten, zwiespältigen Recht der Natur: zum Naturrecht der Starken und der Schwachen.

Naturrecht war a) das alte Ethos der adligen Stände, die mit Verachtung auf den Plebs herabblickten – und b) die neue Politmoral der Gleichen, die keine Wert-Unterschiede bei Menschen und Klassen anerkannte. Der Sieg der Demokratie aber konnte den Hass der Oberen gegen die impertinenten Aufsteiger und Vertreter der Gleichheit nicht einfach loswerden.

Die Oligarchen schworen sich: „Ich will dem Volke feindlich gesinnt sein und, so viel ich kann, zu seinem Schaden beitragen.“

Was hat sich seitdem geändert, wenn Warren Buffett, der Superreiche, sich mit der bedingungslosen Kampfansage hören lässt: Dies ist ein Krieg zwischen Armen und Reichen und wir Reichen werden ihn gewinnen?

Lykophron, Anwalt des Naturrechts der Schwachen, erklärte den Adel für etwas ganz Hohles. Was schön an ihm sein soll, sei unersichtlich, seine Würde bestehe lediglich aus einem Titel. In Wirklichkeit unterschieden sich die Geringen in nichts von den Adligen.

Das Naturrecht der Schwachen setzte sich mit dem Siegeszug der Demokraten durch. Um die Gleichmacherei zu unterlaufen, erfand Gott den Kapitalismus, der mit Wettbewerb und Raffgierde die egalitären Fundamente der Demokratie längst geschleift hat. Unter dem offiziellen Vorzeichen der Gleichheit leben die Herren der Welt in ihrem eigenen Universum.

Das Naturrecht der Starken setzte sich über Machiavelli, Hobbes, Hegel und Nietzsche bis zu Trump, Putin, Netanjahu und Assad durch.

Das Naturrecht der Schwachen wurde zur demokratischen Humanität und zur UN-Charta eines weltumspannenden Völkerrechts, welches ein halbes Jahrhundert lang die Völkergemeinde zivilisierte.

Das Naturrecht erlebte in der europäischen Geschichte einen beispiellosen Siegeszug. Aber mit vielen Veränderungen und Verfälschungen. Die Spaltung in zwei Naturrechte wurde verdrängt. Demokraten beriefen sich auf das Naturrecht der Schwachen, ihre Gegner auf das der Starken. Die katholische Theologie übernahm das Naturrecht, aber nur als Recht der niederen Natur, das vom Recht Gottes überwölbt wurde.

Im Verlauf der Dinge konnte Natur zu Gott, Gott zum Inbegriff der Vernunft werden. Es gab keine Mixturen, die durch europäische Symbiosen des Unverträglichen nicht möglich geworden wären.

Als das Naturrecht der Schwachen die europäische Uraufklärung anzustoßen begann, erkannte Pythagoras zur gleichen Zeit die mathematische Ordnung der Natur, die er in eins setzte mit einer emanzipatorischen Moral. Frauen wurden zu gleichberechtigten Mitgliedern seiner philosophischen Gemeinde. Doch die politischen Kämpfe der Umwelt waren stärker als der Zusammenhalt einer exklusiven Gemeinschaft – die sich auflösen musste.

Die moralische Autorität der pythagoreischen Natur ging im Trubel der politischen Kämpfe unter. War die Ordnungskraft der Natur schwächer als die chaotische Macht der Menschen?

Trotz aller Schwierigkeiten überlebte ein unbesiegbarer Rest der Naturverehrung bei den Wissenschaftlern, die so stark und ausgeprägt war, dass sie die gesamte Wissenschaft des Abendlandes ins Leben rufen konnte.

Mit dem Siegeszug der modernen Physik bei Newton erlebte der Naturbegriff eine unverhoffte Aufwertung gegenüber dem vergilbten Naturrecht, auf das sich Krethi und Plethi berufen konnte. Durch den Siegeszug der Demokratien kam das Naturrecht der Schwachen zu neuer Stärke – aber nicht mehr unter heidnischem Vorzeichen. Die christlichen Kirchen, die die Aufklärung noch bekämpft hatten, witterten ihre Chancen und reklamierten die Ideen der Humanität als Früchte ihres Evangeliums.

„Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“

Die Sätze der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung können von Atheisten problemlos atheistisch gelesen werden (der Schöpfer wird zur Metapher der Vernunft), von Gläubigen noch problemloser als Botschaft ihrer Heiligen Schrift.

Zweideutigkeiten sind bis heute geblieben. Die Deutschen sind öffentlich allergisch gegen heilige Sätze, aber wehe, man will ihnen den christlichen Glauben nehmen.

In Amerika gab es eine größere Spaltung zwischen kirchenfremden Gebildeten an der Ostküste und den geballten Bible-Belt-Staaten, die lange Zeit politisch abstinent waren, sich seit Reagan aber wieder mächtig ins Zeug legten und mit Trump einen völlig unverhofften Sieg einfuhren.

Die uralte Feindschaft zwischen dem Naturrecht der Starken und dem der Schwachen ist heute wieder hell entbrannt. Nicht nur zwischen den alten Feinden West und Ost, sondern unter den bisherigen Verbündeten. Der amerikanisch-israelische Block unter Trump-Netanjahu beginnt sich immer mehr von der Völkergemeinde der EU abzuwenden und wirft ihr mangelnde militärische Entschlossenheit vor.

Ihre deutschen Sympathisanten (bei den Rechten, in BILD und WELT) gehören zu den aggressivsten Feinden einer universellen Moral. Es sei, dass sie im Falle Russland oder China mit bigotter Empörung die moralische Karte ziehen können. Im Falle Amerika verweisen sie auf die unersetzbare Schutzmacht, auf die Europa angewiesen sei, im Fall Israel auf die permanente Bedrohung durch eine arabische Umwelt, gegen die das heilige Land sich nur mit militärischen Völkerrechtsbrüchen wehren könne.

Die jetzige Weltkrise ist eine Wiederholung des antiken Antagonismus zwischen dem Naturrecht der Schwachen und dem der Starken. Ein gewaltiger Fortschritt, auf den wir stolz sein können.

Wir müssen noch einen weiteren Naturbegriff unter die Lupe nehmen: den Determinismus unveränderlicher Naturgesetze. Wenn die Ordnung der Natur zeitlos und unveränderlich, wenn der Mensch in diese Unveränderlichkeit eingebunden ist: woher soll er die Freiheit nehmen, sich vom Determinismus der Naturgesetze zu befreien?

Diese Urfrage beschäftigte schon die Griechen und beschäftigt uns bis zum heutigen Tage.

Demokrit war restlos von der zeitlosen Gültigkeit der Naturgesetze überzeugt und somit von der Determiniertheit des Menschen. Und dennoch und dennoch war er davon überzeugt, dass es ihm möglich sei, durch die Kraft seiner Vernunft auf die Natur einzuwirken und sie zu verändern: „Natur und Erziehung sind verwandt. Denn die Erziehung wandelt den Menschen um; indem sie ihn aber umwandelt, schafft sie eine neue Natur.“

Der randläufige Gedanke der Schaffung einer neuen Natur wurde vom Christentum zum Glauben an die Vernichtung der alten Natur und an die Schöpfung einer nagelneuen ins Grenzenlose ausgeweitet.

Bei den Griechen wurde dieser Gedanke wieder eingefangen durch den Glauben an die Unveränderbarkeit der Natur. Zwar könne der Mensch etliches verändern, doch die Veränderung bliebe nicht folgenlos. „Die Sitte vergreift sich nicht ungestraft an der Natur. Diese kehrt nach kurzer Ablenkung von der geraden Linie doch wieder unfehlbar in ihre Richtung zurück.“

Alle Aufklärungsbewegungen der Antike und der Moderne entkamen nicht der Paradoxie, sowohl determiniert als auch frei zu sein und mit autonomer Vernunft das menschliche Geschick zu bestimmen.

Diese Schwäche blieb nicht unbemerkt und führte zu Konsequenzen, die die ganze westliche Kultur betreffen. Die Konsequenz bestand in einer empfindlichen Schwächung der moralischen Selbstbestimmung der Moderne: nach außen dominierte weiterhin der stolze Glaube an die Autonomie der Demokraten, nach innen wurde derselbe Glaube durch die Behauptung geschwächt, die moralische Kompetenz des Menschen sei angemaßte Flunkerei. Es gebe überhaupt keine wissenschaftlich nachweisbare Moral.

Warum? Jedes Naturrecht mache den Fehler, aus dem Sein der Natur ein Sollen zu folgern. Diese Folgerung aus Sein zum Sollen aber sei unbefugt.

Dem Moralverbot sieht man die Abkunft an der Nase an: das alte ungelöste Problem des von der Natur determinierten Wesens, das dennoch frei über sich verfügen will, meldet sich hier gebieterisch zu Wort.

Die Griechen hatten das Problem durchschaut: sie wollten Teile der Natur sein, dennoch einen freien Willen besitzen. Im Agamemnon fragt der Chor nach Klytaimnestras Tat: „Was ist hier nicht von Gott gefügt?“ Als aber die Mörderin ihre Schuld auf den Dämon des Hauses wälzen will, wird sie schroff zurückgewiesen: „Der Mensch allein trägt die Verantwortung für sein Tun.“ Er ist frei zum Guten und Bösen. „Das griechische Freiheitsgefühl war viel zu stark, um in die Kausalität des äußeren Naturgeschehens das eigene Seelenleben einzubeziehen. Auch für Epikur ist der freie Wille des Menschen die unmittelbar gewisse Erfahrung, auf die er seine Ethik aufbaute.“ (Pohlenz, Die Stoa)

Ursprünglich waren die Gegner des autonomen Willens die Priester der Erlöserreligion, die die Selbstbestimmung des Menschen für Gotteslästerung hielten. Der Mensch ist zur Moral unfähig, deklarierte der deutsche Reformator. Simul justus et peccator: Sünder und gerecht zugleich. Gerecht ist der Gläubige allein durch Gnade, faktisch bleibt er Sünder, der lebenslang auf die Vergebung des Vaters angewiesen bleibt.

Wer aber sind diejenigen, die aus scheinbar irreligiösen Gründen dem Menschen die moralische Autonomie absprechen? Es sind Bewunderer der Naturwissenschaften, die der Meinung sind, der Mensch könne den Naturgesetzen nie entrinnen. Deshalb sei der Sprung vom Sein zum Sollen verboten.

Gehirnforscher sind strikte Gegner des freien Willens. Kein Interviewer käme auf die Idee, die Neurogenies danach zu fragen, wie ihr Freiheitsverbot mit den Erfordernissen freier Menschen verträglich ist.

Die Bewunderer der Naturwissenschaften wollen allem, was nach vagabundierendem Geist riecht, mit lückenloser Gesetzesstrenge Disziplin und Ehrlichkeit beibringen. Sie unterwarfen die Geisteswissenschaften, Schwätzerwissenschaften genannt, dem Quantifizierungsgebot der Naturwissenschaften und erteilten den Freiheitsvaganten das Verbot selbstbestimmter Moral.

Es war der Positivismus, der sich den Naturwissenschaften unterwarf und alles Reden verbot, das nach Geist und Freiheit klang: Wovon man nicht reden kann, davon soll man schweigen. Der Rechtspositivismus sprach dem Menschen jede Kompetenz ab, in Sachen Recht und Moral mitzureden.

Kein Wunder, dass ein Rechtsgelehrter vor den Gefahren einer selbstbestimmten Moral warnt:

Spätestens mit der Aufklärung begann die Unterscheidung von Recht und Moral. Der Staat sollte für das Recht zuständig sein. Moral und Sitte – das war dagegen die Domäne von Gesellschaft und Kirche. Ganz so eindeutig ist die Lage allerdings nicht. Bis heute gibt es staatliche Rechtsnormen, die stark moralisch geprägt sind – etwa das Tötungsverbot im Strafrecht oder das Verbot der Todesstrafe in der Verfassung. Trotzdem ist die grundsätzliche Trennung von Staat und Moral in den modernen Verfassungen ein großer Gewinn an Freiheit für die Bürgerinnen und Bürger. Denn staatliches Recht will nur das äußere Verhalten beeinflussen. Die Gedanken und Gefühle sind weiterhin frei. Moral dagegen zielt auf die inneren Einstellungen und Gesinnungen. Sie will Gedanken und Gefühle in den Griff nehmen. Das ist – jedenfalls potenziell – totalitär. Vor diesem Hintergrund wird klar: Zu viel Moral in der Debatte und in der Politik bedroht die Freiheit.“ (ZEIT.de)

Wir sind am tiefsten Punkt der Debatte um Recht und Moral angekommen. Der Gelehrte stellt alles auf den Kopf. Denn trotz aller Naturverehrung appellierte die Aufklärung an die Selbstgesetzgebung des Menschen.

Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“

In einer Demokratie gibt es keinen Staat (oder darf es keinen geben), der ein bestimmtes Verhalten konditionieren dürfte. Alle Rechte des BGB müssen betrachtet werden, als seien sie vom Volk bestimmt, das seine Abgeordneten wählt, um seinen Rechtswillen durchzusetzen.

Auch das Grundgesetz muss unter diesem Blickwinkel betrachtet werden. Zwar von wenigen Menschen geschrieben, dennoch vom Volk durch nachfolgenden „Gehorsam“ bestätigt. Wäre das Volk nicht einverstanden, müsste es gegen das Grundgesetz rebellieren. Das ist nicht der Fall, im Gegenteil, das Grundgesetz genießt hohe Anerkennung. (Nicht in allem).

Demokratische Gesetze sind Früchte der griechischen Moral, die in heftigen Debatten in der Volksversammlung entschieden wurden. Demokratische Gesetze sind weder von Gott, noch von elitären Technokraten oder sonstigen Rechtspäpsten.

Die Aufklärung schrieb niemandem etwas vor, sondern appellierte an sein eigenes Denkvermögen: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Wer andere äußerlich beeinflussen will, will sie manipulieren. Dass tiefe Überzeugungen, welche den ganzen Menschen ergreifen, totalitär sein sollen – das ist schändlich.

Jedes Gesetz hat eine moralische Prägung, was nicht heißt, dass jedes Gesetz ein kategorischer Imperativ sein muss. Wer aber ein Gesetz für amoralisch und demokratisch nicht vertretbar hält, muss alles unternehmen, um es auf legalem Wege zu ändern.

Wer zudem für wichtige, ja lebensnotwendige politische Maßnahmen eintritt, die von der Regierung blockiert werden, hat die Pflicht zum zivilen Ungehorsam. Nicht das kodifizierte Recht ist das oberste moralische Kriterium, sondern der autonome Verstand. Die Pflicht zum gewaltfreien Widerstand, selbst bei Verletzung untergeordneter Regeln, entspricht sogar dem Grundgesetz.

Gandhis Meinung ist identisch mit dem Widerstand des Sokrates, der seinen eigenen Tod auf sich nahm:

„Es ist nur eine neumodische Ansicht, man müsse den Menschen gehorchen, seien sie gut oder schlecht. Wir sind bereits so tief gesunken, dass wir zu phantasieren beginnen, es sei unsere Pflicht oder die Religion lehre uns, wir sollten alles tun, was uns die Gesetze befehlen. Alle Reformen verdanken ihren Ursprung durch Minderheiten, die in Opposition zur Mehrheit standen. Es geht gegen unsere mutige Natur, wenn wir uns den Gesetzen, die von unserem Gewissen nicht akzeptiert werden können, unterwerfen.“ (Gandhi, Wege und Mittel)

Merke: nicht nur Abgeordnete haben Gewissen, sondern auch das ordinäre Volk. Solches wird von Eliten schmählich übersehen.

Die einfachsten Unterscheidungen der kantischen Moral sind dem Gelehrten unbekannt. Nicht alle Gesetze muss man mit Herzblut befolgen. Der „Staat“ kann ohnehin nicht zwischen „legalem“ und „moralischem“ Verhalten unterscheiden. (Vielleicht gibt es ja bald eine KI, die dem Menschen per Gesichtswahrnehmung seine unterschwelligen Motivationen ansieht.) Im öffentlichen Verhalten geht es immer nur um äußere Taten. Mit welcher Überzeugung die Gesetze befolgt werden, bleibt das süße Geheimnis des Einzelnen und geht keine Polizei etwas an.

Geht es aber um das Debattieren wahrer Moral, wäre es eine Diskriminierung jedes Bürgers, seine Lauterkeit und Mündigkeit in Frage zu stellen, als ob er sich nur von Manipulationen der Behörden kujonieren ließe.

Bei Kant heißen „Gesetze der Freiheit“, im Unterschied zu Naturgesetzen, „moralisch“. Geschieht die Befolgung eines Gesetzes nur dem Schein nach, spricht Kant von Legalität, erfolgt sie aber aus Gründen selbstbestimmter Vernunft, spricht er von Moralität.

Nach Auffassung des Gelehrten hätten die alles riskierenden Widerständler im Dritten Reich potentiell totalitär gewesen sein müssen, mordende Mitläufer hingegen müssten vorbildlich außengeleitet gewesen sein.

Es ist keineswegs so, dass echte Naturwissenschaftler – im Gegensatz zu ihren Plagiatoren – nur Deterministen gewesen seien, die keinen freien Willen kennen würden.

„Wenn denn unser Geist selber aus Atomen besteht, die sich in derselben zwangsläufigen Weise bewegen, so haben anscheinend Ethik und Moral keinen Platz. Wo bleibt da Raum für ein Moralgesetz, wenn das allmächtige Naturgesetz jenes überhaupt nicht zu Wort kommen lässt?“ Fragt der Quantenphysiker Erwin Schrödinger.

Die erste Antwort, die er sich gibt: „Die Antinomie ist heute so ungelöst wie vor dreiundzwanzig Jahrhunderten.“ (Die Natur und die Griechen)

Die zweite Antwort: „Zwar funktioniert mein Körper als reiner Mechanismus in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen. Dennoch weiß ich auf Grund unbestreitbarer unmittelbarer Erfahrung, dass ich seine Bewegungen leite und deren Folgen voraussehe, die höchst bedeutsam sein können: in diesem Falle übernehme ich die volle Verantwortung.“ (Was ist Leben)

Nun lüftet sich der Schleier. Wir sehen, wohin es führen muss, wenn Menschen moralische Nieten sein sollen: sie sollen keine Verantwortung für ihr Tun übernehmen.

Im Wahrnehmen des Kosmos wurden die Griechen zu glühenden Naturverehrern und zu stolzen Moralisten, die über ihr eigenes Schicksal bestimmten.

Im Namen derselben Natur dementiert die demokratische Moderne die Verantwortungsfähigkeit des Menschen und vernichtet die Natur in kalter Wut.

Die Verehrung der Zahl führte die Griechen zur Bewunderung der Natur und zur Absage an jegliche Domestizierung.

Die geniale Beherrschung der Zahlen mit Hilfe kalter und toter Maschinen führt die Moderne zur Selbstvergottung – im Modus des Untergangs.

Worüber man nicht schweigen darf, das muss man – in die Welt schreien.

 

Fortsetzung folgt.