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Von vorne IL

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Wie ist die Milchstraße entstanden?

„Demnach ist vor etwa zehn Milliarden Jahren eine Galaxie mit der noch jungen Milchstraße zusammengestoßen und in ihr aufgegangen. Diese Kollisionspartnerin muss etwa ein Viertel der Masse der Milchstraße gehabt haben, wodurch letztere auf einen Schlag enorm gewachsen ist.“ (Berliner-Zeitung.de)    

Eine sinnvolle Frage? Sind das sinnvolle Antworten? Was wüssten wir mehr, wenn wir dies alles wüssten? Sind das relevante Fragen, deren Antworten unser Leben verändern und bereichern können?

Würde die Menschheit in Millionen Jahren existieren, hätten Wissenschaftler Millionen solcher Fragen und Antworten aufgetürmt, die unser Leben auf Erden – gänzlich kalt ließen.

Tatsächlich haben sie nur einen Sinn: Naturgesetze zu finden, mit denen der Mensch seine Herrschaft über die Erde endlos ins Universum ausdehnen kann.

Sie geben sich unschuldig, als wollten sie wissen um des Wissens willen. Doch ihre Unschuld und kindliche Neugierde beschränken sich auf das Stadium der Unfähigkeit, ihre vagen Vermutungen in Herrschaftswissen zu transformieren.

In demselben Moment jedoch, in dem sie die Stufe technischer Realisierung erreichen, wäre es um ihre intellektuelle Reinheit geschehen. Ihr Wissen wird zur Macht.

Der wissenschaftliche Erkenntnisprozess wiederholt die beiden Stufen der Naturerkenntnis, die in Europa stattfanden: a) Griechen wollten erkennen, um die Ordnung des Kosmos zu bestaunen. b) Christen übernahmen 

 die Erkenntnisinstrumente der Heiden, um ihre biblische Herrschaftspflicht zu exekutieren.

Am Anfang des griechischen Erkennens stand das Staunen.

Am Anfang des modernen Erkennens stand der Zweifel des Einzelnen an allem – außer an seiner nackten Existenz.

Staunen war Bewundern des Kosmos, in dessen Ordnung der Mensch sich heimisch fühlte.

Grundsätzlicher Zweifel war prophylaktisches Vernichten von allem, um die Ordnung der Welt auf dem Fundament des Ichs neu zu rekonstruieren. Ich denke, ergo bin ich, heißt: ich misstraue allem, was ich nicht selbst in meinem Intellekt entwickelt und der Natur vorgeschrieben habe:

Der Mensch muss begreifen, „dass die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurf hervorbringt, dass sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf.“ (Kant)

Griechen waren von der Natur besessen; was sie erkannten, war die Schönheit des allesgebärenden Kosmos.

Moderne kennt nur eine Natur, die zum unerkennbaren Ding werden muss, das zu sein hat, was der Patriarch vorschreibt. Der moderne Mensch lehnt es ab, sich von einer des Erkennens unwürdigen weiblichen Natur gängeln zu lassen: unter dem verführerischen Vorwand, der Mensch solle sie erkennen, wie sie ist: nackt und bloß.

Die weibliche Raffinesse durchschaut der Patriarch und schreibt vor, was das Weib zeigen darf, damit der erkennende Mann nicht schamrot wird. Erkennen wird zum Entjungfern einer lüsternen Magd, die den Hagestolz des Hauses ins Bett bringen will, damit sie zur Herrin des Hauses aufsteigen kann.

Doch nicht mit der Krone der Schöpfung, dem Haupt der Frau, das die Verführungskünste Evas durch Wissenwollen bereits im Religionsunterricht durchschaut hatte.

Gottähnlicher Mann, willst du wissen, was Natur an und für sich ist und worüber du grenzenlos verfügen kannst? flüsterte die Schamlose, räkelte sich und lüpfte das Höschen.

Doch nicht mit dem eisernen Junggesellen aus Königsberg. Wenn er sich schon mit der brünstigen Natur einließ, dann nur mit seiner Reinen Vernunft. Rein ist unbefleckt, unberührt – und so soll es auch bleiben. Erkennen ist ein asketischer Akt und darf durch Begehren nicht geschändet werden.

Seitdem ist männliches Erkennen Befehlen und Vorschreiben. Der Mann wird nicht schwach, erliegt nicht den Verführungskünsten einer versauten Natur. Was er erkennen und wissen will, schreibt er vor. Er sieht nur, wozu er die total verhüllte Natur nötigen kann.

Warum sind die Deutschen von Fesselspielen fasziniert? Weil sie kommandieren wollen, selbst wenn sie sich ergeben, weil sie die Starken spielen müssen, selbst wenn sie schwach scheinen. Auch wenn sie sich einer Domina unterwerfen, sind sie es, die ihr die Regeln vorschreiben. Die Herrin muss tun, was der Knecht ihr vorschreibt.

Und Adam erkannte sein Weib Eva.

Der Erkenntnisakt war bei den Griechen ein Verführungs- und Geschlechtsakt. In der Moderne wird er zum gewalttätigen Penetrieren. Ausgeschlossen, dass heute ein Mann vor Erregung stammeln könnte wie jene liebestolle Frau aus der Antike:

„Scheinen will mir, dass er den Göttern gleich ist, jener Mann, der neben dir sitzt, dir nahe auf den süßen Klang deiner Stimme lauscht und, wie du voll Liebreiz ihm entgegenlachst: doch, fürwahr, in meiner Brust hat dies die Ruhe geraubt dem Herzen. Wenn ich dich erblicke, geschiehts mit einmal, daß ich verstumme Denn bewegungslos liegt die Zunge, feines Feuer hat im Nu meine Haut durchrieselt, mit den Augen sehe ich nichts, ein Dröhnen braust in den Ohren. Und der Schweiß bricht aus, mich befällt ein Zittern aller Glieder, bleicher als dürre Gräser bin ich, bald schon bin einer Toten gleich ich anzusehn.“ (Sappho)

Die Dichterin Sappho von der Insel Lesbos gilt als Ahnfrau jenes Eros, der auf Männer verzichten kann. Welch eine Schmach für das Geschlecht, welches so beeindruckt ist von sich, dass es glaubt, ohne seine phallokratische Herrschaft gehe die Welt zugrunde.

„Weibliche Homosexualität wurde in patriarchalischen Gesellschaften als ungeheure Bedrohung angesehen. Das christliche Europa betrachtete lesbische Liebe als „namenloses Verbrechen“, und verbrannte Lesbierinnen manchmal ohne vorherigen Prozess – lebend. Bis zum heutigen Tag werden weiblichen Homosexuellen furchteinflößende Kräfte zugeschrieben.“ (Walker, Das geheime Wissen der Frau) 

Nicht der Darm allein bestimmt den Kopf. Der Kopf bestimmt alles – und wird von allem bestimmt. Sex ist Intellekt, Erkennen ist orgastische Verbindung von Natur mit Natur. Je belangloser der Sex wird, desto weniger wird leidenschaftlich gedacht, desto kälter wird es im Universum.

Der Erkenntnisakt der Moderne wurde zur Peitschennummer. Durch Erkennen muss die Natur unterworfen werden. Das intellektuelle Dominaspiel erkannte schon Francis Bacon: wer Natur beherrschen will, muss ihr dienen. Seitdem wurde Wissenschaft zur Peitsche in der Hand der Mächtigen. Um sich die Perversion ihres Penetrierens zu verheimlichen, simulieren Wissenschaftler das Stöhnen der Entrückten – mit synthetischen Geräuschen.

Staunen ist das orgiastische Aha des Erkennens. Die Moderne kennt kein Aha, sie brilliert mit Sensationen. Sensationen sind orgastische Laute ohne Lust. Warum müssen Frauen einen Orgasmus mimen? Warum sind Männer unfähig, die Lust der Frauen zu erkennen? Weil sie wahrnehmungs- und erkenntnisunfähig sind. Erkennen heißt, sich den Wundern der weiblichen Natur ergeben.

Um die Misere der Gegenwart zu durchschauen, müssen wir in die Tiefen der Geschichte abtauchen – zu Pythagoras, dem Universalgenie. Bereits die ersten griechischen Weisen hatten den Spott ihrer Umwelt riskiert, um ihr Leben der Naturerkenntnis zu widmen.

Pythagoras glaubte den Grund der Faszination zu kennen. Es war jene Macht, die die inneren Verhältnisse der Musik prägte, die Sphärenklänge der Planeten, die Proportionen der Natur. Wer sich dieser Macht bediente, war ein Heilkünstler, der Körper und Seele der Menschen reinigen konnte. Reinigen von wilden Leidenschaften, die die Menschen peinigten.

Es war die Macht der Zahlen und Figuren, jene Macht, die der fromme Novalis viele Jahrhunderte später verdammte:  

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit werden gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Doch dieselben Zahlen, von denen Pythagoras ergriffen war, hatten sich im Verlauf der Heilsgeschichte in Macht und Gewalt über die Natur verwandelt. Bei den Griechen hatte das Erkennen der Natur den Menschen in seinen Bann gezogen.

Bei Novalis wurde das Erkennen der Natur zum Gegenteil: zum verkehrten Wesen der Welt, zur Unfähigkeit, mit einem geheimen Wort die Weltgeschichten zu erkennen. Der Mythos in Märchen und biblischen Geschichten war wichtiger als der Furor des Erkennens. Nicht das Erkennen, das jedem offen stand und die Gleichheit der Demokratie hervorbrachte, war für Novalis die Quelle der Erkenntnis, sondern die Erleuchtung durch das göttliche Wort.

Gewiss, auch Pythagoras trat noch auf wie ein Unfehlbarer, nur Eingeweihte hatten Zutritt zu den Versammlungen. Doch das waren die letzten Eierschalen einer orphischen Sekte, die im Verlauf des griechischen Werdens verschwand und sich in Lehrgegenstände von Wanderlehrern verwandelte (Sophisten). Der Prozess der europäischen Uraufklärung begann.

Mehr als 2000 Jahre dauerte es, bis aus der Zahl kosmischer Ordnung eine Zahl technischer Despotie wurde. Wie war das Ungeheure möglich?

Es war möglich, weil der Prozess des Erkennens sich in einen Machtfaktor verwandelte. Am Anfang war alles Denken. Je mehr sich der Erkenntnisprozess ausbreitete und spezialisierte, je mehr es den Griechen dämmerte, dass sie etwas gefunden hatten, das gefährliche Potentiale in sich barg, umso entschlossener beendeten sie den Prozess der Naturerkenntnis und beschränkten sich auf das Durchdenken politischer und menschlicher Dinge oder auf den Entwurf eines humanen Lebens.

Platon verbot das Experimentieren. Fast keinem Griechen wäre es in den Sinn gekommen, das Erkennen der Natur zu ihrer Unterdrückung zu benutzen. Natur war Gaia, die Allmutter, die nicht beschädigt werden durfte.

Als nach vielen Hunderten von Jahren das Wissen der Griechen in die Hände der Christen fiel, die die Natur als unwürdige Macht verachteten, wurde aus dem Instrument des Staunens ein Instrument der Despotie.

Die Griechen hatten keine Maschinen – außer einigen Spielzeugen zum Amüsement der Entdecker. Die Christen begannen sofort, mit Hilfe griechischer Erkenntnismethoden Maschinen herzustellen, um die unwürdige Magd der Natur zu quälen und zu foltern.

Die Uhr wurde in jeder Dorfkirche installiert, um die Mußezeit der Heiden zu verdrängen und die Christen von morgens bis abends an die verrinnende Zeit zu mahnen. Kaufet die Zeit aus, denn niemand weiß, wann der Herr kommt.

Das Leben geriet unter das Diktat der ablaufenden knappen Zeit. Noch die spätere Ökonomie rühmte sich, die Kunst der Produktion mit knappen Gütern zu sein. In Wirklichkeit ist sie die Kunst, in rasender Zeit das Maximum aus der Natur herauszupressen.

„Die Kanzlerin sagte, für den Klimaschutz müsse man nicht „immer gleich mit dem Verbot“ kommen. Stattdessen forderte sie ein Umdenken ist der Gesellschaft: Es gehe darum, „unser ganze Leben in einem Kreislauf zu denken“. Es sei nicht richtig, mehr aus der Erde „herauszuzerren“ als durch Regeneration ausgeglichen werden könne.“ (Berliner-Zeitung.de)

Täte die Kanzlerin das, was sie predigt, hätte man sie schon gestern aus dem Amt gejagt. Wie soll man den Prozess des „Herauszerrens“ beenden, wenn nicht durch Verbote?

Gewiss, am besten wäre, jeder würde in freier Entscheidung sein Handeln ändern. Wer sich etwas aus Einsicht „verbietet“, gebietet sich selbst. Er bleibt autonom.

Wer aber glaubt, das EINPROZENT der Herren des Universums würde den Raubbau der Natur freiwillig beenden, der wäre mit dem Klammerbeutel gepudert. Die Kanzlerin bleibt die Tochter eines Kanzelpredigers.

Was war die Urerkenntnis der Pythagoräer? Dass sinnliches Wahrnehmen oberflächlich, irreführend und subjektiv ist. Klassisches Beispiel war der Honig. Wenn Honig den einen süß, den anderen bitter schmeckt, konnte das Schmecken des Honigs keine gemeinsame Erkenntnis sein. Wenn sehen, hören und empfinden derart unterschiedlich sein konnten, war sinnliches Wahrnehmen kein objektives Erkennen. Dass Erkennen der Natur aber alle Menschen miteinander verband, davon waren alle Griechen überzeugt. Wenn die Sphäre der Sinnlichkeit kein gemeinsames Erkennen garantierte, musste es an anderer Stelle gefunden werden.

Es wurde gefunden in der Sphäre abstrakten Denkens. Abstrahieren heißt, sich von sinnlichen Eindrücken nicht irre machen lassen, sich von ihnen lösen und einen Bereich finden, dessen Erkennen alle Menschen miteinander verbinden konnte.

Während sinnliches Wahrnehmen unter dem Gebot der Vergänglichkeit stand – aus Tag wurde Nacht, aus Sommer Winter, aus Freude Trauer –, waren die abstrakten Erkenntnisse der Zahlen und geometrischen Figuren zeitlos. Die Griechen schafften den Durchbruch, aus der Sphäre trügerischer Sinnlichkeit in die der zeitlosen Mathematik einzutauchen. Seitdem wurde Zeitlosigkeit zum sigillum veri, zum Siegel der Wahrheit.

Was vergänglich und veränderbar war, konnte keine Wahrheit sein. Die Griechen suchten das Zeitlose und Unveränderliche, das absolute Gegenteil der modernen Wahrheit. Was heute nicht täglich neu erfunden wird, kann nicht wahr sein. Wahr ist, was den Kern schlechthiniger Veränderung in sich hat. Das schnell Verderbliche und rasend Dahinsiechende sind die Siegel der modernen Wahrheit. Wie war dieser totale Umbruch möglich?

Dadurch, dass die siegreiche christliche Religion die Zeit ihres Gottes einführte: die Heilsgeschichte, die noch heute alle westliche Politik prägt. Was nicht disruptiv ist, kann den Modernen gestohlen bleiben. Wer sich nicht permanent Neues aus den Rippen schwitzt, ist old school und lächerlich unfähig, sich wie Proteus zu verwandeln.

Griechen kannten keine Heilsgeschichte. Was sich ereignete, war das Tun der Menschen: tragisch, komisch oder bewundernswert. Aber niemals wurde Geschichte Geschehen einer höheren Macht. Der Logos der Aufklärung hatte mit dem Mythos ihrer Anfänge Schluss gemacht. Das Walten der Götter im Leben der Menschen: wer seinen Verstand benutzt, muss sich von solchen Märchen verabschieden.

War Natur unerschaffen, unvergänglich und unveränderlich, genauso musste ihre Wahrheit sein. Nur die Zeit trügerischer Sinnlichkeit war vergänglich, die Zeit der Wahrheit war von unbezwinglicher Unveränderbarkeit. Parmenides ging so weit in seiner Begeisterung für das Unveränderliche, dass er alles Vergängliche für unmöglich, ja, für nichtexistent erklärte.

Die Moderne hält das Gegenteil für richtig. Was keine Mobilität oder abrupte Verwandlung ist, muss ein statischer Popanz sein. Was sich nicht ändert, bleibt sich nicht treu. Genie, der höchste Begriff der Moderne, ist rasende Selbstverpuppung von allem in alles – oder nichts. Daher die Hast, die Hetze, sich beständig zu überschlagen müssen, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben.

Die Höhe der Zeit ist Kairos, jene Zeit Gottes, der nach Belieben alles über den Haufen werfen kann, um neue Direktiven zu erlassen. Euch wurde gesagt, Ich aber sage euch. Schaut nicht zurück. Schaut nach vorne, um ständig neue Masken zu erproben.

Was interessiert mich mein Gebabbel von gestern? Sollte Gott die pfälzische Sprache verstehen, würde er Kohls Satz mit Wohlwollen gehört haben.

Pythagoras hatte erkannt, dass die Noten der Oktave sich zueinander verhielten wie ganze Zahlen. (Oktave: 2:1, Quint 3:2 etc.)

„Es war die erste geglückte Reduktion von Qualität in Quantität, der erste Schritt zu einer mathematischen Erfassung einer menschlichen Erfahrung – und damit der Beginn der Wissenschaft.“ (Koestler)

Die Griechen kannten keinen religiösen Dualismus aus verdorbener Natur und vollkommener Übernatur. Doch auch in ihnen steckte schon ein kleiner Stachel: der Kosmos mag vollkommen sein, aber nur – für die Weisen, die die sinnliche Struktur durchschauten, um ins Reich zeitloser Wahrheit vorzudringen.

Hier beginnt in demokratischen Zeiten die erste, grundlegende Trennung des Volkes in eine weise Elite und ein unweises Volk. Es konnte niemanden überraschen, dass die Zweiteilung zur Ideologie jener wurde, die sich als Privilegierte über die Massen erhoben. Das waren die Starken und die Weisen. Die einen überragten das Volk mit körperlicher Stärke und kriegerischer Verwegenheit, die anderen mit Bildung und Weisheit. Beide Eliten unternahmen alles, um die Herrschaft der Gleichen als Diktatur des Pöbels zu zerstören.

Wer Demokratie retten wollte, musste sich beiden Eliten widersetzen. Das war die Stunde des Sokrates, der alles Elitäre bekämpfte, indem er jeden Einzelnen auf dem Marktplatz aufforderte, seinen eigenen Kopf zu benutzen und sich nicht abhängig zu machen von Illusionskünstlern, die Fähigkeiten vortäuschten, die sie nicht besaßen. Wenn jeder selbst ins Denken kam, war er geschützt gegen die rhetorischen Überredungskünste damaliger „Populisten“ oder Sophisten.

Der Dialog, das intensive Gespräch, war die einzige Möglichkeit, sich und andere zu überprüfen, ob sie Demokratie verstanden hatten oder nur der Mehrheit hinterherrannten. Heute sind sophistische Reden die einzigen Überprüfungsmittel, um Kandidaten auf Herz und Nieren zu prüfen. Nein, nicht zu prüfen, sondern sich dem Charisma einer Rede auszuliefern.

Heute wird alles auf Quantität überprüft. Keine Geisteswissenschaft, die ihre Erkenntnisse nicht mit Hilfe quantitativer Nachahmung der Naturwissenschaft belegen wollte. Was sind Emotionen, wenn sie im Frontallappen nicht als physiologische Effekte bestätigt werden? Doch das Somatische kann nur ein Dass feststellen, kein Was.

Ein Dass kann quantifiziert werden. Wenn‘s aber ans Interpretieren geht, ist es aus mit der trügerischen Sicherheit der Zahl. Denn die Deutung körperlicher Vorgänge, das Rückübersetzen von Zahlen in Sprache, ist erneut – subjektiv-qualitativ. Das Schlussfolgern von Quantität auf Qualität gibt sich streng wissenschaftlich, ist aber völlig willkürlich. Welche Intelligenz wird im Intelligenztest gemessen? Die subjektive Intelligenz des Testerfinders.

Im Zwang, die Herrschaft über die Welt zu erringen, haben moderne Naturwissenschaften sich die angemessene Technik geschaffen, die ihre – objektiven – Erkenntnisse in – subjektiv-egoistische – Gewalt über Natur und Menschen transformiert. Die Geisteswissenschaften, gelb vor Neid, imitieren das Diktat der Quantifizierung und komplettieren die Herrschaft der Maschinen, Waffen und Roboter mit den sublimen Waffen unterschwelliger Konditionierung. Am unsichtbaren goldenen Seil werden Menschen dahin geführt, wohin sie nicht wollen.

Demokratie aber ist das Gegenteil – weshalb die Machtmechanismen aller Wissenschaften destruiert werden müssen. Wissenschaft muss wieder lernen, machtloser Erkenntnis zu dienen, nicht zu führen und an unsichtbaren Drähten zu ziehen.

Pythagoras er-fand nicht das Reich zeitlos-mathematischer Wahrheit, er fand es. Doch seine Erkenntnisse wurden von späteren christlichen Ideologen benutzt, um sie ins Gegenteil zu verkehren. Die Bewunderung zeitloser Natur wurde zur Ausbeutung von Mensch und Natur.

Natur-bestaunende Erkenntnisarbeit der Griechen wurde in christlichen Händen zur natur-vernichtenden Guillotine, die vor den Köpfen der Henker nicht Halt macht. Der Tod der Natur wird zum Tod der Gattung.

„Der Europäer des 20. Jahrhunderts betrachtet die „Reduktion“ seiner Umwelt, seiner Erfahrungen und Gefühle auf eine Reihe abstrakter mathematischer Formeln ohne Farbe, Wärme, Sinn und Wert mit berechtigter Besorgnis. Für die Pythagoräer jedoch bedeutet die mathematische Erfassung der Erfahrung keine Verarmung, sondern eine Bereicherung. Zahlen galten ihnen als heilig, als die reinsten aller Ideen, entkörperlicht und ästhetisch. Die innige Verbindung von Zahl und Musik konnte diese nur veredeln. Die Ekstase, die aus der Musik stammte, wurde von den Eingeweihten in intellektuelle Ekstase übergeleitet, die Versenkung in den göttlichen Tanz der Zahlen. Zahlen sind ewig, alles übrige vergänglich.“ (Arthur Koestler, Die Nachtwandler)

Moderne Wissenschaftler werden nur ekstatisch, wenn sie neue Machtinstrumente präsentieren, mit denen sie ihre Konkurrenten aus dem Feld schlagen. Oder wenn sie mit unvorstellbaren Waffen die Welt in Trümmer legen. Fortschritt muss sein.

 

Fortsetzung folgt.