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Von vorne XXV

Von vorne XXV,

Symbiosen können trügen. Doch! Es gab eine deutsch-jüdische Symbiose – auf trügerischem Boden. Als der Boden einbrach, enthüllten sich Abgründe von Grauen.

Die deutsch-jüdische Symbiose war keine verständnis-durchflutete Einheit. Sie war eine uralte, multiple Überidentität, die die Ursachen der gegenseitigen Anziehungskraft und Feindschaft verleugnete. Den – in Bewunderung und Hass verbundenen – Anderen kann man nur verstehen, wenn man sich selbst verstehen will. Wollen die Deutschen sich verstehen, wollen die Juden sich verstehen?

Nach der Urkatastrophe im Dritten Reich gab es staatlich verordnete Reue und guten Willen auf Seiten der Täter – auf Seiten der Opfer die Bereitschaft, den Tätern zwar nicht zu vergeben, aber eine zweite Chance einzuräumen. Eine Katharsis ist nicht in Sicht.

Unter friedlichen Vorzeichen herrschen heute Misstrauen, permanente Spannungen und untergründige Gereiztheiten. Das Verhältnis gleicht einer gegenseitigen Belagerung mit feierlichen Beschwörungen und abrupten Vorwürfen. Man geht auf Eis, das jederzeit einbrechen kann – oder auf glühenden Kohlen, deren Verletzungsgefahren man als unvermeidliche hingenommen hat. So schleppt man sich von Krisen zu Treueschwüren, von Aggressionen zu Loyalitätsbekundungen.

Israel kritisierte den deutschen Außenminister, weil er Anne Frank mit den Worten gewürdigt hatte:

„Ihr Tagebuch ist aktueller denn je – als Mahnmal gegen Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung und als Zeichen der Menschlichkeit. Von ihr können wir lernen.“  

Darauf erwiderte der Sprecher des israelischen Außenministeriums:

„Anne Franks Tagebuch ist keine Warnung über beliebige pseudo-universelle Werte! Anne Franks Erbe ist eine Warnung vor dem Hass und der Verfolgung von Juden. Der Versuch, die ‘Lehren der Shoah zu universalisieren‘ ist nichts weiter als eine

unredliche Neuschreibung der Geschichte.“ (BILD.de)

Die Kluft zwischen den beiden „befreundeten“ Staaten kann tiefer und unüberbrückbarer nicht sein. Immer mehr scheiden sich die Geister.

Nach ihren Menschheitsverbrechen wurden die Deutschen von den Völkern der Welt wieder aufgenommen, weil sie sich in Wort und Tat zu universellen Menschen- und Völkerrechten bekannten, die in der UN-Charta niedergelegt sind. Der Holocaust konnte nur aufgearbeitet werden durch Rückkehr von völkischem Überlegenheitswahn zur Gleichheit und Schutzwürdigkeit aller Menschen. Wer sich universeller Humanität verpflichtet fühlt, wird kein Menschheitsverbrechen gut heißen können.

Wer hingegen Völker drangsaliert, erobert und aussaugt im Namen demokratischer Beglückungszwänge, der verletzt den Geist der UN-Charta und treibt ein verwerfliches Spiel mit den Völkern.

Da Menschheitsverbrechen in allen Dimensionen und Variationen vielen Völkern der Welt angetan wurden, ist es stringent, die Untaten an Juden ethisch-rechtlich als Vergehen an universellen Werten einzuordnen. Diese Einordnung ist keine Verharmlosung oder Diskriminierung eines unvergleichlichen und einmaligen Verbrechens. Subjektive Unvergleichbarkeit ist das Signum jeden Verbrechens – für leidende Opfer und einsichtsfähige Täter.

Rechte sind abstrakte logisch-moralische Regeln, die unabhängig von der psychischen Empfindungs- und Leidfähigkeit der Opfer erstellt werden. Wer Unvergleichbarkeit fordert, hat schon verglichen. Menschenrechte wurden erfunden, als die Menschen entdeckten, dass ihre Unterschiede belanglos sind, wenn der Eine sich im Andern erkennt und ihn als gleichwertiges Wesen anerkennt.

„Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundworts Ich-Du. Die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden sich im ewigen Du.“ (Martin Buber)

„Das Gleiche ist dem Gleichen verwandt. Gesetz und Brauch der Gewaltherrscher erzwingen vieles gegen die Natur.“ (Hippias)

Sollte die Formel „Nie wieder“ sinnvoll sein, müsste sie vergleichbare Wiederholungen ausschließen. Wären sie unvergleichbar, könnte es vergleichbare Untaten nicht geben.

Unendlich viele unerhörte Verbrechen an Menschen hat es in der Geschichte gegeben. Es wäre eine Missachtung der vielen Opfer, wenn man sagen würde: euer erlittenes Leid war, verglichen mit dem anderer, harmlos und belanglos.

Die jetzige Menschheitskrise beruht in vieler Hinsicht auf der Erinnerung grässlicher Verbrechen der Weißen an den heidnischen Völkern der Welt, deren Wunden nie ausheilen konnten, weil sie von den Tätern bis heute nicht anerkannt wurden. Die missionierten, gequälten und gefolterten Völker werden erst zur Ruhe kommen, wenn die Tätervölker ihre Ungeheuerlichkeiten gestanden haben. Seelische Wunden können nur heilen, wenn sie durch Anerkennung der Täter rehabilitiert werden.

Die israelische Regierung missachtet Völker- und Menschenrechte. Praktisch durch militärischen Landraub und Besetzung des palästinensischen Staates. Jetzt auch theoretisch durch Verhöhnung der universellen UN-Charta zu „beliebigen, pseudo-universellen Werten.“

Die moderne Demokratie entstand, als Aufklärer die Menschen- und Völkerrechte der Griechen entdeckten und die europäischen Völker daran gingen, sie durch revolutionäre Taten ihren Absolutisten, Fürsten und Priestern zu entreißen.

Sollte die Regierung in Jerusalem ihre Verhöhnung der Menschenrechte nicht zurücknehmen, hat die israelische Demokratie sie im Prinzip ad acta gelegt und ist – nicht nur in langjähriger Praxis, sondern jetzt in theoretischer Schärfe – zur Theokratie übergegangen. Wenngleich mit abgestorbenen demokratischen Ritualen. Ein außerordentlicher Vorgang, der von keinem Mitglied der deutschen Regierung, von keiner deutschen Gazette kommentiert wurde.

Die doppelte Moral-Bigotterie zwischen Berlin und Jerusalem lässt sich nicht mehr überbieten. Der angebliche Kampf gegen Antisemitismus ist nur ein Scheinmanöver, um von dieser reziproken Heuchelei abzulenken. Der gegenwärtige Judenhass hat mit genuinem Antisemitismus wenig zu tun. Er beruht auf dem Hass der Opfervölker gegen die israelische Unrechtspolitik – und auf der Verbitterung vieler Europäer, die diese Heuchelei nicht anders ertragen als durch wachsende Aggressionen und Untaten.

Diese Behauptung ließe sich leicht überprüfen durch eine radikale Beendigung der israelischen Unrechtspolitik. Würde Jerusalem seine Armee aus dem Land der Palästinenser zurückziehen, mit den Befreiten endlich Frieden schließen – fiele die Zahl der antisemitischen Taten ins Bedeutungslose. Taten der Machtlosen gegen die Übermacht israelischer Besatzer haben nichts mit dem zu tun, was abendländischer Antisemitismus war.

Gewaltakte gegen Juden in Europa haben die Bedeutung einer Frage: warum wehrt ihr euch nicht gegen das Unrecht „eurer“ Regierung? Die Identifizierung von außerisraelischen und israelischen Juden ist eine Übernahme von den Juden, die nicht müde werden, ihre Geschlossenheit und Einheit zu betonen. Obgleich diese Behauptung falsch ist.

Den Juden, das einige Volk Gottes, gab es nie. Heute schon gar nicht. Jüdische Kritiker Israels werden hierzulande totgeschwiegen, jüdische Kritiker des Judentums als Selbsthasser diffamiert. Da sie der offiziellen Doktrin Jerusalems widersprechen, sind sie keine Juden. Das bestimmen deutsche Philosemiten, die in blinder Verachtung der Palästinenser niemanden anerkennen, der sich der brutalen Besatzungspolitik widersetzt.

Deutscher Philosemitismus ist nichts als der alte Antisemitismus – nur mit umgeleiteter Aggression gegen stellvertretende neue Opfer. Hinter der Maske des Philosemitismus versteckt sich die uralte Ablehnung aller dekadenten westlichen Menschenrechte – übertragen auf die heutigen Opfer der deutschen Opfer. Damit ist der gordische Knoten zerschlagen. Die deutschen Loyalisten gegen Israel dürfen sich einer neuen Mentalität rühmen und dennoch die alte Missachtung der universellen Moral ausagieren, weil sie die Missachtung an Dritten und Unschuldigen auslassen. Nach vorne hui, nach hinten pfui.

Es zeigt sich, dass die deutschen Philosemiten einerseits universell, andererseits immer noch partikulare Rassisten und Darwinisten sind. Gleichwohl haben sie den Sinn von Menschenrechten nie verstanden. Wer andere Menschen als ebenbürtige anerkennt, fühlt sich berechtigt und verpflichtet, das Unrecht der Anderen freimütig zu kritisieren – und sich selbst kritisieren zu lassen. Blinde Loyalität ist keine Loyalität.

Eine gleichberechtigte Beziehung ist das, was Aristoteles als Freundschaft bezeichnet:

„Dem Freunde aber, sagt man, muß man um seiner selbst willen das Gute wünschen.“

Wie kann man dem Freunde Gutes tun, wenn man sieht, wie er sich schädigt, indem er andere schädigt? Eltern kritisieren ihre Kinder, damit sie nicht in die Irre gehen. Demokraten kritisieren ihre Regierung, damit sie die Gesellschaft nicht in die Luft sprengt. Europäische Nationen kritisieren sich, um das gemeinsame EU-Projekt vorwärts zu bringen.

Ausgerechnet deutsche Täter, die angeblich wollen, dass es ihren Opfern wieder gut geht, sollten diese ins Unglück laufen lassen, indem sie anderen Unrecht tun?

Der Kampf gegen Antisemitismus in Deutschland ist zur Farce verkommen. Er dient einzig der Unterdrückung aller Kritik an der Jerusalemer Regierung. Die Instrumentalisierung des Kampfes gegen Antisemitismus zur Absicherung der deutsch-israelischen Bigotterie ist auch der Grund, warum dieses Phänomen immer schlimmer werden muss. Steigender Druck von Oben erzeugt steigenden Gegendruck von der Straße.

Deutsche Philosemiten überbieten sich in Verurteilungen der Putin‘schen Völkerrechtsverletzungen, merkwürdigerweise immer am meisten, wenn es gilt, neues israelisches Unrecht zu vertuschen. Alles, was in Amerika, Israel und neuerdings in Saudi-Arabien an Verletzungen der Menschenwürde geschieht, wird verharmlost, alles, was sich bei Feinden des Westens ereignet, ist himmelschreiendes Unrecht.

Warum wird just von deutschen Philosemiten vehement die Moral verachtet? Weil Moral die Realisierung von Menschenrechten ist. Wie kann man für universelle Menschenwürde eintreten, wenn man die Würde im eigenen Haus missachtet?

Kategorische Moral ist, seit Kant, immer universell und nichts anderes als die uralte Regel: was du nicht willst, dass man dir tu, das füge auch keinem anderen zu.

Deutschland und Israel versinken synchron im Sumpf einer inhumanen Abwendung von den Menschenrechten. Israel unmissverständlich in Wort und Tat, Deutschland in verschämter Doppelmoral. Offiziell stets dem Guten und Wahren verpflichtet – die Kanzlerin mimt gar die humane Weltgegnerin Trumps –, überlässt Merkel in Wirklichkeit die Flüchtlinge ihrem Schicksal und die Menschheit ihrem wohlverdienten Untergang.

Wozu Klimapolitik, wenn Mensch und Natur von ihrem liebenden Schöpfer vernichtet werden? Individuelle Sterbehilfe ist hierzulande verboten, generelle Sterbehilfe aber als Narkotikum beim Abgang der Menschheit conditio sine qua non Merkel‘scher Beliebtheit.

Merkel tut nichts – außer ihren Schäfchen die Spritze zu verpassen. Die Weisheit dreier Affen hat sie in ihrer Person vereinigt; sie sieht nichts, hört nichts und sagt nichts. Das betrifft auch die deutsch-israelischen Beziehungen. Auch die Kritik Jerusalems an Maas wird sie mit keinem Wörtchen kommentieren, ja, offiziell nicht einmal zur Kenntnis nehmen. Es sei denn, es erhöbe sich ein Sturm um die Verteidigung der Menschenrechte. Den würde sie, nach bewährter Regel, abwarten, bis das Gröbste vorüber ist. Dann wird sie „ganz mutig“ Stellung beziehen.

Die Geschichte der deutsch-jüdischen Beziehungen, von früheren Pogromen bis zur Symbiose des 19. Jahrhunderts, von der Symbiose bis zum Völkerverbrechen, wird von den Deutschen nicht zur Kenntnis genommen. Sie haben ihre Hausaufgaben erledigt und ihre Vergangenheit bewältigt. Da kann nichts mehr passieren, denn nichts in der Geschichte wiederholt sich. Allein dieser Satz ist Antisemitismus in Reinkultur. Wozu über vergangene Sünden nachdenken, wenn alle Menschen nach vorne blicken müssen?

Amerikaner haben die Vergangenheit getilgt, um ihre Verbrechen an den Ureinwohnern zu tilgen und sich sündenlos der Eroberung des Weltraumes zu widmen. Die Deutschen haben sich ihren Befreiern angeschlossen, damit ihre Vergangenheit endgültig gelöscht ist.

Es gibt viele Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen der deutschen und jüdischen Entwicklung. Die Deutschen waren lange die Opfer ihrer Nachbarn und wurden erst spät politisch – und machiavellistisch. Sie machten sich den Vorwurf, allzu lange „idealistisch“ geträumt zu haben. Als sie endlich ihr Bismarck‘sches Reich mit Waffengewalt zusammengescharrt hatten, wollten sie nie mehr ins Reich der Spießer und Moralisten zurückfallen.

Nachdem sie den nächsten Waffengang, den Ersten Weltkrieg, erneut in den Sand gesetzt hatten, beschlossen sie, alles auf eine Karte zu setzen und es der Welt ein für allemal zu zeigen. Der Zweite Weltkrieg sollte nichts Geringeres erreichen als das 1000-jährige finale Reich der Heilsgeschichte. Alles oder Nichts.

Nach ihrer Niederlage gegen die Römer entschlossen sich die führenden Rabbiner, ihr Volk als staatenloses, wanderndes Volk Gottes inmitten anderer Völker durch die Geschichte zu leiten, bis der Messias sein Volk erlösen würde. Der Versuchung zur staatlichen Unmoral (von den Deutschen Staatsraison genannt) sollte, was es auch immer an Leid und Opfern kosten würde, mit Gottes Hilfe widerstanden werden.

Die Kinder Gottes sollten nur der strikten Moral Hillels folgen:

„Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Thora und alles andere ist nur die Erläuterung; geh und lerne sie.

„Hillel galt als weitherziger, geduldiger Lehrer, der die Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit lehrte“. Während der christliche Jesus ein Doppelgesicht aus Nächstenliebe und ewiger Verfluchung zeigte, wollte Hillel eindeutige Menschenliebe. Dies schien nur möglich jenseits aller staatlichen Gewaltpflichten. Lieber Leiden und Verfolgungen ertragen, als mit dem Schwert dreinschlagen.

In bewundernswerter Weise folgten die Juden dieser pazifistischen Spur 2000 Jahre lang. Als in Europa aber das nationale Fieber entbrannte, wollten die jungen Zionisten nicht länger die Opfer ihrer Wirtsvölker spielen. Sie hatten keine Hoffnung mehr, von christlichen Völkern anerkannt zu werden. Ergo fiel der neue Ruf: nächstes Jahr in Jerusalem, auf fruchtbaren Boden.

Am meisten im östlichen Europa, fast gar nicht in Deutschland. Warum? Weil die deutschen Juden glaubten, durch ihre schnelle Emanzipation vom hochgeistigen Volk der Dichter und Denker anerkannt worden zu sein.

1914 schrieb der jüdische Neukantianer Hermann Cohen eine Broschüre über die Deutschen, die zu einem Liebesgeständnis wurde. Warum sind wir der Welt verhasst? Die Frage der Deutschen beantwortete Cohen ganz im Sinne jüdischer Außenseitermentalität:

„Ich antworte schlicht sokratisch: weil sie uns nicht verstehen.“

Das war nicht sokratisch, denn der athenische Menschenverführer war sich der generellen Vernunft aller Menschen gewiss. Wurden die Menschenrechte nicht im Sog seiner Gedanken geboren?

Cohen hatte das Lebensgefühl der Juden formuliert, als Erwählte von aller Welt verachtet und gehasst zu werden. Dass die Ablehnung durch die Welt mit der jüdischen Ablehnung der Gojim zusammenhing: dieser Gedanke kam dem gläubigen Juden nicht, der Thora und kantische Vernunft als Einheit sah.

Cohens kleine Schrift endete in einer Idolisierung der Deutschen, identisch mit der Selbstidolisierung assimilierter deutscher Juden. Die Feinde der Deutschen hätten unter „Heuchelei und Hinterlist die Vernichtung unseres Staates geplant und unsere führende Mitwirkung in der Verwaltung Europas hintertrieben. Unser Dichten und Denken hat immer politischen Ursinn gehabt. Auch unser Kosmopolitismus war nicht Quietismus, sondern sittliche Urkraft, die in den Befreiungskriegen politische Eigenkraft wurde. Und unser Dichten und Denken soll der Welt zum Heile werden für die ethische Erziehung ihrer Nationen. Wenn anders Eigenart dem deutschen Geiste zusteht, so muss dieses Eigenart unerschöpflich sein für uns selbst und für die ganze Welt.“ (Über das Eigentümliche des deutschen Geistes).

Deutsche Juden waren vom Zionismus junger osteuropäischer Stedl-Ausreißer nicht begeistert. Zusammen mit geistesverwandten Deutschen wollten sie der Welt ihre überragende Menschlichkeit zeigen.

Was geschah, als deutsche Juden sich dennoch immer mehr genötigt fanden, nach Palästina auszuwandern?

„Es wird erzählt, Max Nordau sei, als er zum erstenmal Genaueres darüber erfuhr, dass es Araber in Palästina gibt, entsetzt zu Herzl gekommen und habe gerufen: „Das habe ich nicht gewusst – dann begehen wir ja ein Unrecht.“ (Martin Buber)

Die Rückkehr ins Heilige Land wurde für alle Hillel-Juden zum Sündenfall. Nun waren sie doch gezwungen, um des bloßen Überlebens willen ihre strengen moralischen Maßstäbe aufzuweichen. Nun mussten sie doch werden wie die Christen, deren antinomischen Heucheleien sie unter allen Umständen entkommen wollten.

Zwei Faktoren trennten sich in diametraler Richtung. Je größer die Macht Israels wurde, je mehr wuchs der Zwang zur „christlichen Staatsraison“, also zur Verletzung der strengen Hillel‘schen Moral im Dienste des Überlebens.

Nur so kann man verstehen, wie ein strenger Kritiker des jungen Staates, der Biochemiker Jeshajahu Leibowitz, im Jahr 1984 das vernichtende Urteil über sein mächtig gewordenes Land fällte:

„Der Staat Israel, auf dessen Seite einst, 1948, fast die gesamte Welt stand – sowohl die Sowjetunion als auch die USA – im Gegensatz zu der billigen Demagogie, „die ganze Welt steht gegen uns“ – wobei man nicht betonen muss, dass auf der ganzen Welt eine Idealisierung des Staates Israel stattfand – dieser Staat Israel ist heute auf der ganzen Welt verhasst oder jedenfalls verachtet. Inzwischen führen wir ein gutes Leben. Darüber hinaus jedoch besitzen wir nichts. Im Innern – Fäulnis und nach außen – ein verhasstes Israel. Und nicht nur das, der Staat wird allmählich auch dem jüdischen Volk selbst verhasst. Das ist das Schwerwiegendste. Viele Juden in der Welt, die sich ihres Judentums aufrichtig bewusst sind, denken, dass der Staat Israel dem jüdischen Volk keine Ehre macht.“ (Gespräche über Gott und die Welt)

Was musste geschehen sein, um den Stolz der ersten Zionisten ins glatte Gegenteil zu verkehren?

Bis zu den Verhandlungen zwischen Rabin und Arafat gab es die Perspektive einer gemeinsamen Friedens-Lösung. Mit der Ermordung Rabins durch einen Ultraorthodoxen war die Friedenslösung fast über Nacht vom Tisch. Das schlechte Hillel-Gewissen der ersten Zionisten (unter ihnen viele deutsche Juden, die, bei den neu eingewanderten russischen und sephardischen Juden, ganz und gar nicht beliebt waren) wich einem zunehmend siegessicheren Auftrumpfen: gegen uns haben die arabischen Nachbarn keine Chance.

Mit christlichen Metaphern: ecclesia patiens, die leidende Kirche, wich zusehends der ecclesia militans und triumphans.

Die Juden in Deutschland, ausgestattet mit dem permanent schlechten Gewissen, nicht an der Heimatfront zu stehen, müssen gleichwohl beweisen, dass sie dem Staate Israel nützlich sein können – durch aggressive Abwertung jeder Israelkritik zu verkapptem Antisemitismus.

Unter ihnen zeichnet sich Michael Wolffsohn durch besondere Schneidigkeit aus. Um die militante Besatzungspolitik Netanjahus zu verteidigen, attackiert er die bigotte Menschenrechtspolitik der Deutschen.

„Trotz vieler anderer Menschenrechtsvergehen wurde jüngst diesem Politiker (Erdogan) in Deutschland der rote Teppich ausgelegt. Wie glaubwürdig ist also „unsere“ Menschenrechtspolitik? Wir brauchen ihn in der Flüchtlingspolitik. Tenor: Besser Flüchtlinge in der fernen Türkei als bei uns. Wer so fühlt und denkt, präsentiere sich bitte nicht als Moral-Weltmacht. Trotz ihrer offenkundigen Mängel gelten die Vereinten Nationen (UN) hierzulande als „Garant des Völkerrechts“. Wie glaubwürdig ist dieser „Garant“, dessen Mehrheit aus nicht-demokratischen Staaten besteht, wo Menschenrechte, wenn überhaupt, auf geduldigem Papier stehen? Zum absurden Theater degradiert sich dieser Garant bei der Wahl der Mitglieder des UN-Menschenrechtsrates. Seit Jahren ist er Hort und Ort von – soll ich sagen? – „Schurkenstaaten“? Im Juni 2018 kündigten die USA – auch unter Trump eine Demokratie – ihre Mitgliedschaft. Attackiert wurde der amerikanische Präsident, kaum kritisiert jener Rat. Menschenrechte in der Defensive.“ (WELT.de)

Was ist das Lob von Menschenrechten wert, wenn man sie selbst nicht befolgt? Wenn sie von Schurkenstaaten vertreten werden?

Womit wir wieder bei Marx gelandet wären. Weil Menschenrechte in den Händen der Bourgeoisie zu Heuchelinstrumenten wurden, packte Marx sie am Kragen und warf sie auf den Müll der Geschichte. Erst im Reich der Freiheit würden sie wie durch Wunder wieder auferstehen und den Menschen einen Garten Eden schaffen.

Dass Menschenrechte in Deutschland zur klingenden Schelle entartet sind: wer möchte Wolffsohn in diesem Punkt widersprechen? Da aber eine utopische Moral nur peu à peu realisiert werden und nicht einfach verworfen werden darf – wer könnte seinem Verdikt zustimmen? Wolffsohn muss die Menschenrechte in Deutschland delegitimieren, damit niemand auf die Idee kommt, die Menschenrechtsverletzungen Israels zu verurteilen. Das wäre das Ende der Aufklärung und jeder humanen Demokratie.

 

Fortsetzung folgt.