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Von vorne XXII

Von vorne XXII, 

„Mein Professor hat mir neulich gesagt, dass es den Klimawandel nicht gibt. Als ich ihm aufgezählt habe, welche Auswirkungen extreme Temperaturunterschiede schon jetzt auf Uganda haben, meinte er, dass sich das Klima ändert, weil es Gottes Entscheidung ist. Er hat mir gesagt, dass er älter wäre und mehr als ich weiß. Wenn ich jetzt noch einmal seine Vorlesungen am Freitag verpasse, lässt er mich durchfallen.“ (Nakabuye Hilda Flavia, 22, Studentin aus Uganda) (SPIEGEL.de)

Wer die Welt rettet, ist gottlos. Wer die gottlose Welt rettet, ignoriert die Wahrheit der Alten – und fällt durch. Wer die Welt der Alten und ihrer unfehlbaren Götter rettet, um den Jungen eine Chance zu bieten, verletzt das Heilige. Wer das Heilige verletzt, muss geächtet werden:

„Das Grundgesetz ist in einer radikal säkularen Welt unsere heilige Schrift, der Bundestag eine Art heiliger Ort unserer Demokratie. Wir Demokraten sollten ihn als solchen würdigen und nicht für jeden noch so zähen Gag missbrauchen.“ (WELT.de)

Sollte säkular weltlich-heidnisch bedeuten, wäre Demokratie das Zentrum heidnischer Vernunft – inmitten einer heilsgeschichtlichen Moderne. Was die Jungen taten, indem sie für ein humanes Klima mit szenischer Darbietung eintraten, war das Demokratischste, was der Bundestag seit langem erlebte. Seit den Grundsatzdebatten kurz nach dem Krieg hat es Eindrucksvolleres dort nicht mehr gegeben. Der Einzug des Neoliberalismus, der Sieg der Grokos und der geisttötenden Kompromisse hat die agonale Wahrheitssuche im Parlament erstickt.

Hätten die Jungen ihre Aktion als künstlerisches Happening angekündigt, wäre es ästhetisch preisgekrönt worden. Inzwischen erleben wir die komplette

Umdrehung der Wahrheit in religiöse Lügen.  

Bislang hielt sich die Böckenförde-Doktrin dezent im Hintergrund, jetzt ist die Seidenspinnerprozession der Heiligen mit giftigen Emissionen im demokratischen Zentrum angekommen. Der gekaperte Bundestag wird zum Tempel der Heiligen, die die demokratische Leidenschaft am liebsten kreuzigen würden.

Der Tempel der Demokratie, das „Allerheiligste“ einer freien Gesellschaft, ist das Allerweltlichste einer politischen Vernunft, die keiner höheren Macht folgt als den Stimmen ihrer selbstbestimmten Mitglieder. Im Mittelpunkt der Demokratie steht das pralle, streitbare Leben als Suchen nach der humansten Art des Zusammenlebens, keine denktötende Ehrfurcht vor höheren Mächten.

Das Allerheiligste der Heiligen ist ein gefährlicher Boden, der die Welt als schmutzig und befleckt desavouiert: „Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe aus von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist ein heilig Land!“

Noch heute müssen die Frommen sich mit Weihwasser entsühnen, wenn sie Gottes irdische Dependancen betreten. Wer das Heilige befleckt, selbst, wenn er es „mit profanen Mitteln“ retten will, greift in Gottes Befugnisse ein und versündigt sich an seinem Gebot:

„Und da sie kamen zu Tenne Nachons, griff Usa zu und hielt die Lade Gottes; denn die Rinder traten beiseit aus. Da ergrimmte des HERRN Zorn über Usa, und Gott schlug ihn daselbst um seines Frevels willen, daß er daselbst starb bei der Lade Gottes.“

Das Heilige ist das Terrain Gottes, das die Welt rigoros ausschließt. Wer sündige Welt ins heilige Revier einschleust, ist des Todes:

„Wenn sie in die Stiftshütte oder zum Altar eingehen, sollen sie sich mit Wasser waschen, damit sie nicht sterben“.

Heiliger Geist wird zum Quell des Lebens, der vor allen Verseuchungen der Welt schützt. Im Tempel der Heiligen muss geopfert werden, denn der Umgang mit Gott ist nie ohne Sünde – die nur durch Tod von Mensch und Natur gesühnt werden kann.

In uralten Zeiten waren es Männeropfer, die die Menschen zum rechten Umgang mit Gott reinigen konnten.

Richtig gelesen: Männeropfer. „Auf den ältesten Altären wurde ausschließlich männliches Blut vergossen.“ (Walker) Denn nur männliches Blut garantierte den Frauen Nachkommen. Es galt die Regel: „Was immer getötet wird, wird zum Vater.“ Frauen waren zu minderwertig, um getötet zu werden.

Der Tod der Männer war keineswegs deren Ende. Mit ihm begann der Triumph der Männer über die sterbliche Natur. Nur Männer waren fähig, den Tod zu überwinden, um der Natur zu zeigen, dass es Höheres gibt als Tod und Verderben.

Nach den Männeropfern kamen Kinderopfer, die von Tieropfern abgelöst wurden. Natur in allen Variationen musste geschlachtet und verbrannt werden, damit der Schöpfer der Natur auf seine Kosten kam.

Das Christentum fiel zurück zum Männeropfer in Gestalt des Gottessohnes. Nur Männer trotzen den Gesetzen der Natur und schaffen es, durch Sieg über den Tod unsterblich zu werden. Silicon Valley ist die Krönung des Männersieges über die Natur.

„Wie unangemessen ist die Vorstellung eines unendlichen Wesens, das alle Planeten und deren Bewohner erschaffen hat und dann seinen Geschöpfen befiehlt, Tiere als Brandopfer zu töten. Traurig, wie sich Menschen aller Zeiten und Länder von Priestern im Namen der Religion haben täuschen lassen.“ (E. C. Stanton, amerikanische Feministin)

Die Heiligen regieren die Welt als Fortschrittler, Naturausbeuter und Menschenherrscher:

„Oder wisst ihr nicht, dass die Heiligen die Welt richten werden?“

Richten – in Demut! Man darf nicht überheblich sein, wenn man die Welt ins Feuer schickt. Nur ein Teufel kann auf die Idee kommen, einen Messias aufzufordern, der Schönheit der Welt zu huldigen – die nur satanisch sein kann:

„Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Hebe dich weg von mir Satan! denn es steht geschrieben: «Du sollst anbeten Gott, deinen HERRN, und ihm allein dienen.»“

Das Opfern des Gottessohnes dient dem Zweck, den Sohn als Sieger über die Natur auszurufen. Grüne Schöpfungsbewahrer sind unfähig, das Heilige zu verstehen, dem sie sich unterwarfen. Eine zweite vollkommene Natur kann nur erschaffen werden, wenn die erste vernichtet wird. Gelänge es den Grünen, die erste Schöpfung zu bewahren, handelten sie wider Gott. Das Erschaffen einer neuen Natur durch Vernichten der alten würden sie in Gutgläubigkeit verhindern.

Warum wehrt sich die Welt nicht gegen die drohende Katastrophe?

Der ugandische Professor sprach es aus: weil Gott es will. Die Vernichtung der Natur ist das Opfer, das die Menschheit bringen muss, um sich Seiner Gnade zu versichern. Die Gesamtgeschichte der Menschen hat ihre Sündenlast bis ins Unermessliche angehäuft. Nur die Opferung der ganzen Natur kann sie von ihrer ungeheuren Schuld befreien.

Bislang regierte die Geschichte der Alten. Jetzt kommt eine neue Weltgeneration. Der Kampf zwischen Alt und Jung wird ein neues Kapitel der Weltgeschichte aufschlagen:

„Auch an diesem Freitag werden sich wieder zahlreiche junge Menschen in vielen Teilen der Welt zu „Fridays for Future“-Demos versammeln. Die Jugend-Aktionen für besseren Klimaschutz sind längst international – und reichen zudem weit über Europas Grenzen hinaus.“

Möglicherweise dämmert es den Deutschen. Zum ersten Mal in der Nachkriegszeit sind die Grünen in Umfragen zur stärksten Partei geworden. Alle Kritiker dieser Entwicklung hoffen auf den Messias-Effekt: schnell rauf, schnell runter.

Marc Beise, SZ, stellt die einzig relevante Frage, die er kennt: „Wie viel Wirtschaftskompetenz haben die Grünen?“ Wie wäre es mit der Frage: wie viel Umweltkompetenz hat die Wirtschaft? Die Wirtschaft ist zur Alleinherrscherin der Welt geworden. Schon deshalb müssten ihr alle Knochen gebrochen werden, um sie ihrer Allmacht zu berauben.

In den USA erwägen verschiedene Justizorgane, die digitalen Giganten zu zerschlagen. In Deutschland werden erste wirtschaftliche Reformvorschläge als Rückkehr in eine trostlose Vergangenheit gebrandmarkt.

Die Jungen werden beim Protest gegen die Umweltzerstörung nicht verharren. Wer die Hauptwunde abendländischer Selbstdestruktion benennen und bekämpfen kann, wird sich nicht scheuen, alle verminten Felder der Alten nach und nach durchzupflügen. Da es eine wirksame Kontrolle des Klimas ohne rabiate Veränderung der Wirtschaft nicht geben kann, werden die Jungen den Alten ihre Profitgier und Zerstörungswut um die Ohren schlagen.

Es wird sie nicht wundern, dass die geistigen Häuptlinge des Neoliberalismus die ersten ökologischen Versuche der Naturwissenschaft mit Häme quittierten. Zum Bericht des „Club of Rome“ fiel Hayeks Urteil vernichtend aus: „Es ist ein Beispiel jener Arroganz der Intellektuellen, dass sie glauben, sie können – oder müssen – voraussagen, wie sich die Dinge in Zukunft entwickeln werden. Das Verlangen, dass wir wissen sollen, wie die Welt in 100 Jahren ausschaut, ist einfach absurd.“ (Hennecke, F. A. von Hayek)

Auch Popper entwickelte sich, im Sog seines Freundes Hayek, zu einem Gegner der Ökologie. Dass die offene Gesellschaft des Westens in grundlegenden Dingen unoffen, ja, hermetisch abgeschlossen und destruktiv war, wollte er nicht wahrhaben:

„SPIEGEL: Da sind wir bei Themen, zu denen Sie sich gern mit den Grünen anlegen, die Sie bisweilen recht ruppig attackieren. Warum eigentlich?

POPPER: Wegen ihrer wirklich verrückten Feindlichkeit gegen Naturwissenschaft und Technik. Es gibt einen antirationalistischen Kern in den Grünen. Das führt zu dem genau Umgekehrten, was sie angeblich wollen. Außerdem wollen sie selbst Macht haben und sind ebenso Heuchler, wie sie es von ihren Gegnern behaupten.“ (SPIEGEL.de)

Einer politischen Bewegung Machtstreben vorzuwerfen, ist abwegig. Wie anders soll die Macht des Bestehenden verändert werden als durch eine wirksame Gegenmacht?

Macht um ihrer selbst willen: das wäre faschistisch. Durch faschistische Träume sind die Grünen bislang noch nicht aufgefallen. Und dennoch wabert es durch die Status-quo-Medien, die Grünen würden am liebsten eine Ökodiktatur einführen. Ihre Veggie-Days und andere Verbotsvorschläge seien Vorboten eines Öko-Stalinismus.

Wenn die Industrie Regeln fordert, um ihre Gewinne ins Unermessliche zu treiben, sind es keine stalinistischen Interventionen. Wenn der Staat Gesetze erlässt, sind es Gesetze. Wenn aber eine unbequeme Partei Forderungen stellt, müssen es diktatorische Maßnahmen sein.

Die Gründe des Vorwurfs sind: Gesetze seien politisch, nicht moralisch. Moralische Regeln seien privatistisch und könnten nicht politisch sein. Woher kommen diese Hirngespinste?

Staatliche Gesetze hätten nichts mit der Moral der Gesellschaft zu tun, behauptete der absurde Rechtspositivismus, der eine Wissenschaft des Rechts sein wollte. Wissenschaft aber habe – nach Max Weber – nichts mit dem Leben zu tun. Schon gar nicht mit einer Demokratie, die es in deutschsprachigen Landen bekanntlich selten gab.

Dass demokratische Gesetze nicht vom Himmel fallen, sondern der vitalen Moralität eines Volkes entstammen, von ihm in Wachsamkeit überprüft und fortentwickelt werden müssen, wäre deutschen Gelehrten im Traum nicht eingefallen. Selbst Kant, der größte Aufklärer der Deutschen, verabscheute die Demokratie.

Der eigentliche Grund für Poppers Aversion gegen die Grünen aber war ihre „Utopie einer Mensch-Natur-Symbiose“. Utopien waren für Hayek und Popper totalitäre Staatsentwürfe. Wer den Himmel auf Erden wolle, würde die Hölle errichten. Auch in dieser Frage ließ sich Popper von Hayek übertölpeln.

„Popper konnte sich in kontroversen Punkten gegen Hayek nie durchsetzen. In Diskussionen mit Hayek ruderte Popper immer wieder zurück. Sein Weg führte ihn damit nach rechts.“ (Nordmann, Der lange Marsch zum Neoliberalismus)

Helmut Schmidt war ein begeisterter Popper-Fan – und übernahm von ihm den Unsinn einer verbotenen Vision oder Utopie. Wer Visionen habe, solle zum Arzt: dieser Nonsens machte Furore im gedankenarmen, luftdicht abgeschlossenen Deutschland.

Jener Satz wäre nur sinnvoll, wenn man „Himmel“ wörtlich nähme. Wer einen theokratischen Klerikerstaat auf Erden errichten will, wird eine Hölle erhalten.

Rationale Utopien hingegen bezwecken eine humane Demokratie, die nicht von Eliten bestimmt wird, sondern vom Lernprozess der Gesellschaft. In seinen späten Jahren gestand Popper, seinem Freund und Gegner Hayek nicht gründlich genug widersprochen zu haben. Während Hayek die UN-Menschenrechte ablehnte, wollte Popper tatsächlich das Elend der Schwachen beseitigen. Nicht durch eine „Utopie“, sondern durch eine Stückwerktechnologie. Wohin aber sollen Einzelschritte führen, wenn sie kein gemeinsames Ziel haben?

Um sich vor Hayek zu schützen, sprach Popper am liebsten von „Herumbasteln“, womit er sich der „alten habsburgischen Politmaxime des Fortwurstelns“ annäherte. Schmidt übernahm von Popper die Abneigung gegen grüne Politik.

Nicht viel später erhob eine Kanzlerin, die selbst Umweltministerin war, das Durchwursteln zur obersten Maxime ihrer Politik. Die Bilanz ihrer Umweltpolitik als unfehlbar wurstelnde Kanzlerin ist verheerend:

„Bundeskanzlerin Angela Merkel hat … politisch schon lange kein echtes Interesse am Klimathema mehr gezeigt, hat das Bundesumweltministerium, das sie einst führte, zu einem Rumpfministerium ohne echte Macht zusammengestutzt. Ihre Umweltministerin, Svenja Schulze, ist deshalb eine Königin ohne Land, die Vorlagen macht, damit andere sie sabotieren.“ (Spektrum.de)

Inzwischen wurden SPD und CDU von den Grünen überholt –, wissen nicht warum und fühlen sich unschuldig. Wie wär‘s mit therapeutischen Anamnesen, um die Fehlentscheidungen ihrer Entwicklung in Augenschein zu nehmen? Das werden sie mit Bestimmtheit nicht tun? Ja dann – werden sie zu Recht untergehen.

„Der typische „Stückwerks-Ingenieur“ wird so vorgehen: er mag zwar einige Vorstellungen von der idealen Gesellschaft als „Ganzem“ haben. Sein Ideal wird vielleicht die allgemeine Wohlfahrt sein, aber er ist nicht dafür, die Gesellschaft als Ganzes neu zu planen. Was immer seine Ziele sein mögen, er sucht sie schrittweise durch kleine Eingriffe zu erreichen, die sich dauernd verbessern lassen.“ (Popper)

Hier wird ersichtlich, woher Popper seine Aversion gegen „holistische (ganzheitliche) Planungen“ hatte. Es war der in den 30er-Jahren überlebensnotwendige Kampf gegen die totalitären Planwirtschaften Hitlers und Stalins. Was die beiden Ex-Habsburger aber auch später übersahen, war, dass eine Demokratie keine obrigkeitliche Planung kennt. Politisches Zielesetzen muss im Streit der Gesellschaft durchfochten und im Parlament entschieden werden. Planen heißt Denken, Argumentieren und mehrheitlich durchsetzen, nicht Terrorisieren.

Poppers Durchwursteln ist identisch mit Merkels augustinischen Politregeln, die civitas terrena so lange zu verwalten, wie der Gott der Geschichte es will.

Vielleicht die allgemeine Wohlfahrt?“ Geht’s noch nebulöser? Wäre Popper offensiv für einen sozialen Wohlfahrtskapitalismus eingetreten, hätte sein adliger Freund ihm mit Sicherheit die Freundschaft entzogen.

Alles, was bei Popper nach kapitalismuskritischer sozialer Humanität klang, war für Hayek ein rotes Tuch.

„Nachdrücklich wendet Hayek sich gegen das Konzept der Grundrechte in der UN-Menschenrechtsdeklaration von 1948. Die Absurdität und Unerfüllbarkeit sozialer Rechte im Sinn eines Anspruchs auf Freiheit von materieller Not (eine Formel Roosevelts) zeige sich, so Hayek in unverhülltem Sarkasmus, an universellen Grund- und Menschenrechten, die dem Landarbeiter, dem Eskimo und vermutlich auch dem Yeti regelmäßigen bezahlten Urlaub zusichern wollen. Mit scharfen Worten geißelt er die UNO-Menschenrechtsdeklaration als manifesten Ausdruck platonisch-totalitären Gedankenguts, der mit klassischer Freiheitstradition nicht nur nichts gemeinsam hat, sondern dieser auch noch gefährlich wird.“ (Hennecke)

Hayek übertölpelte Popper mit dessen eigener kritischer Platon-These, dass jede Zwangsbeglückung – auch mit den besten Zielen – unausweichlich zum Faschismus führe. Popper hätte Sokrates ins Feld führen müssen, den Lehrer Platons, dessen mäeutische „Einzel-Seelsorge“ der geniale Schüler in eine totale Herrschaft der Weisen verfälschte.

Just wegen seiner individuellen Vorgehensweise wird Sokrates von deutschen Gelehrten noch immer als Gegner der Demokratie geächtet. Für Deutsche ist Politik ein mechanisches Geschäft über den Köpfen der Untertanen, keine Summa vieler basaler Einzelentscheidungen. Was der Einzelne tue, sei nichts als „Moralisiererei“.

Es muss sich noch nicht herumgesprochen haben, dass es weder kollektive Köpfe noch Abstimmungen gibt. Jeder hat selbst zu denken, an der Urne seine persönliche Wahl zu treffen. Die Ablehnung persönlichen Wertens und Entscheidens suggeriert, dass der Einzelne belanglos sei. Nur Eliten würden die Politik bestimmen.

Noch immer wird Politik von oben nach unten angeordnet. Was der Einzelne tut, ist sein Privatvergnügen, aber keine Politik. Wahre Volksherrschaft aber zeichnet sich dadurch aus, dass die obersten Entscheidungen nichts anderes sind als die Vollstreckung des Basiswillens. Und sind sie es nicht, ist es keine Demokratie, sondern eine Herrschaft Auserwählter.

Hayek war ein Verächter der Demokratie und der universellen Menschenrechte. Dieser Mann prägt noch immer die zunehmend menschenfeindliche Politik der deutschen Regierung.

Es gibt einen jungen Anwalt, der die EU-Politiker – also auch Merkel & Macron – wegen Verletzung der Menschenrechte in der Flüchtlingsfrage anklagen und in den Knast bringen will:

Womit hat sich die EU eurer Ansicht nach schuldig gemacht?

Erstens mit dem Rückzug von Rettungsschiffen aus dem Mittelmeer. Und zweitens mit der Zusammenarbeit mit kriminellen Akteuren wie der sogenannten libyschen Küstenwache, die eigentlich nur eine Ansammlung von Milizen ist. Diese Entscheidungen haben dazu geführt, dass viele Geflüchtete gestorben sind oder in Gefangenenlagern in Libyen vergewaltigt und gefoltert wurden.“ (bento.de)

In einer amerikanischen Eliten-Uni lässt die Kanzlerin sich als letzten Hort der Menschlichkeit feiern, in Europa könnte sie demnächst wegen Missachtung der Menschenrechte vor Gericht kommen – wenn der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag die UN-Charta ohne Rücksicht auf illustre Namen verteidigen sollte.

Merkel und alle politischen Menschheitsverderber in den Knast! Das müsste die Forderung aller sein, die den Fortbestand des Menschen wollen. Was ist das für eine Erwählten-Uni, die das flüchtlingsfeindliche Treiben Merkels nicht kennen will? Gibt es dort nur Freunde der Mauer-Politik Trumps? Wenn nicht: warum stellen sie sich im Falle Merkel blind und taub?

Auch in Amerika werden Flüchtlingshelfer kriminalisiert:

„Viele Beobachter in den USA, darunter auch Kirchengemeinden, die papierlose Migranten vor einer Abschiebung schützen, und Gemeinden, die sich selbst zu „Schutzgebieten“ für Migranten erklärt haben, schauen in diesen Tagen sorgenvoll auf den Gerichtssaal in Tucson. Sie wissen: Wenn die Geschworenen Warren für schuldig befinden, könnten sie selbst als nächstes in das Visier der Ermittler geraten.“ (TAZ.de)

Man könnte sagen: einzelne Staaten können das uferlose Elend /der Menschheit nicht alleine tragen. Nein, können sie nicht. Alle Völker aber müssten sich zusammenschließen, um die Probleme des Klimas und das soziale Elend der neoliberalen Weltwirtschaft rigoros anzugehen. Der Planet strotzt vor Reichtum, die Lösung seiner Probleme aber kann er nicht finanzieren.

Sollten die Weltführer tatsächlich der Meinung sein, die Weltprobleme seien im Geist der Menschenrechte nicht lösbar, man müsse national-egoistischen Interessen folgen, so sollten sie sich endlich die Biedermeiermaske vom Kopf reißen und aller Welt mitteilen:

„Nach schmerzlicher Überlegung sind wir zur Einsicht gekommen, dass planetarische Probleme im Geiste der Menschenrechte nicht zu lösen sind. Sie sind so komplex und unübersichtlich, dass wir das bedauerliche Fazit ziehen müssen: es gibt Dinge auf der Welt, deren Lösung die Kraft der Menschheit überschreitet. Nur ein Gott kann der Menschheit helfen.“

Das Verhängnisvolle der gegenwärtigen Politik ist der ständige Wechsel der Tonart: heute, am D-Day, voll pathetischer Dankbarkeit in Bezug auf die Rettung der Welt vor Hitlerdeutschland, morgen voller Herzenskälte in Bezug auf die Rettungssuchenden an den Grenzen Europas. Hayek kann man vieles vorwerfen: ein Heuchler war er nicht. Seine ökonomische Menschenfeindschaft lässt sich in unmissverständlichen Worten nachlesen.

Was fehlt? Der Experte, der uns erklärt, woher die plötzliche Politreife der Jugend stammt.

Der Experte ist ein Fachmann, der von Medien ausgewählt wird, weil er ihre erwünschte Meinung vertritt. Nichtexperten bestimmen, wer Experte ist. Was sie selber denken, delegieren die Medien an den Experten. Sie müssen ihren eigenen Kopf nicht hinhalten und können ihre Meinung dennoch durch die Stimme des Experten propagieren.

„SPIEGEL: Herr Schneekloth, warum ist Klimaschutz für junge Menschen auf einmal so wichtig, dass sie dafür auf die Straße gehen?

Schneekloth: Klima ist ein Zukunftsthema. Solche Themen gewinnen immer dann an Bedeutung, wenn es in der Gegenwart keine ernsthaften Sorgen und Bedrohungen gibt. Bezogen auf ihre eigene finanzielle und wirtschaftliche Situation fühlen sich viele junge Menschen zunehmend sicher, das beobachten wir seit einigen Jahren. Die sozialen Träger der Klimabewegung sind höher gebildet, sie blicken optimistischer in die persönliche Zukunft. Bei den „Fridays for Future“ marschieren ja auch überwiegend Gymnasiasten und Studierende. Hinzu kommt: Individualismus hat einen zunehmend hohen Stellenwert.“ (SPIEGEL.de)

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: weil es den Jugendlichen zu gut geht, weil sie keine ernsthaften Sorgen haben müssen – haben sie Angst vor ihrer Zukunft? Sind sie schizophren, dass ihre “persönliche Sicherheit“ nichts mit genereller Zukunftsangst zu tun haben muss? Wo sie die kollektive Gefährdung ihrer Generation verstanden haben, soll individuelle Vereinzelung eine wachsende Rolle spielen?

Wissenschaftliche Experten und Medien haben eins gemein: was sie als Beruf betreiben, darf mit der Realität nur im Modus der Beobachtung zu tun haben.

Wer eigentlich in der heutigen Demokratie fühlt sich der – Demokratie verbunden? Die Schulen nicht, die Betriebe nicht, die Medien nicht, der Sport nicht, das endlose TV-Programm nicht, die skurrile Kunst nicht, die objektive Wissenschaft schon gar nicht. Man stelle sich vor, Arbeitnehmer würden regelmäßig an Freitagsdemonstrationen teilnehmen und ihren Job vernachlässigen: was würde passieren?

Demokratie ist in den Etagen der Eliten noch nicht angekommen. Sie schweben in isolierten Raumschiffen über dem Plebs, den sie per überlegener Kompetenz lenken und leiten wollen. In erster Linie sind sie Wissenschaftler, Beobachter, Fortschritts- und Wohlfahrtsgaranten, aber keine Demokraten. Wenn sie vom Volk reden, reden sie immer von anderen.

Max Weber, der Demokrat, der keiner sein wollte, hat die Gespaltenheit heutiger Eliten schon vor hundert Jahren auf den Begriff gebracht: „Ob das Leben lebenswert ist oder nicht, danach fragt die Wissenschaft nicht.“

Wissenschaftler müssen bipolare Wesen sein. Als Wissenschaftlicher dürfen sie in praktischen Fragen keine Stellung beziehen. Was sie als bloße Menschen tun, ist belanglos.

Wissenschaftliche Stellungnahmen zu politischen Fragen sind sinnlos, „weil die verschiedenen Wertordnungen der Welt in unlöslichem Kampf untereinander stehen. Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf. Das Leben kennt nur die Unvereinbarkeit und also die Unaustragbarkeit des Kampfes der letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben, die Notwendigkeit also: zwischen ihnen sich zu entscheiden.“ (Wissenschaft als Beruf)

Das ist deutsche Postmoderne. Jeder muss seinem eigenen Gott folgen. Gemeinsame Vernunft und sinnvolles Debattieren sind Illusionen.

Die deutsche Kanzlerin hat Max Weber verinnerlicht und alle Sommergespräche abgesagt. Reden mit dem Volk ist Zeitverschwendung. Sie residiert im Olymp. Für die Folgen ihres Regierens hat ihre Nachfolgerin einzustehen.

Im lutherischen Deutschland gilt noch immer: Jeder bleibe in dem Stand, in den Gott ihn berufen hat.

 

Fortsetzung folgt.