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Von vorne XVI

Von vorne XVI,

„die Geschichte wird Merkel Recht geben“, sprach ihr Bewunderer Jean-Claude Juncker, und beschrieb sie als „liebenswertes Gesamtkunstwerk“.

Demnach genügt es, dass die Geschichte den Politikern Recht geben wird. Die Zustimmung der Völker scheint nicht mehr gefragt. Offensichtlich glaubt Juncker an eine Historiokratie, die Herrschaft des Volkes muss er ad acta gelegt haben.

Welcher Geschichte? Einer Geschichte, die ihren Abgang in Unwürde machen wird? Wenn Merkels Lob von entsetzlichen Stürmen über menschenleeren Kontinenten und versengenden Gluthitzen über Wüstengebieten erzählt wird?

Hat Juncker je den Begriff Klimakatastrophe gehört, hält er ihn für die Erfindung wissenschaftlicher Alarmisten?

Schön, dass christliche Politiker einander lieben. Doch was ist ein Gesamtkunstwerk?

„Die Idee des Gesamtkunstwerks entsteht in der Zeit der Romantik. Der Philosoph Friedrich Schelling betonte etwa die „nothwendige Gottwerdung des Menschen“ (Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge, 1802). Dieses gesteigerte Selbstbewusstsein erlaubte es, das Schaffen des Künstlers dem Schaffen der Natur gleichzusetzen.“ (Wiki)

Ein Gesamtkunstwerk vollbringt die Gottwerdung des Menschen, das Schaffen des Künstlers wird identisch mit dem Schaffen der Natur. Wem kommt das nicht bekannt vor?

Das gottähnliche Gesamtkunstwerk ist Vorläufer des gottebenbildlichen Quantencomputers, der, identisch mit der Natur, alle Probleme der Menschheit in Blitzesschnelle lösen wird.

Ein Gesamtkunstwerk ist Richard Wagners dramatische Oper, die die verkommene

 Religion durch musikalisches Theater ersetzen will.

„In diesem Sinne ist nun … anzuerkennen, dass die Musik das eigenste Wesen der christlichen Religion mit unvergleichlicher Bestimmtheit offenbart, weshalb wir sie sinnbildlich in dasselbe Verhältnis zur Religion setzen möchten, in welchem wir den Gottes-Knaben zur jungfräulichen Mutter auf jenem Raphaelischen Gemälde uns darstellten: Als reine Form darf uns die Musik als eine welterlösende Geburt des göttlichen Dogmas von der Nichtigkeit der Erscheinungs-Welt selbst gelten.“ (Richard Wagner)

Romantische Kunst ersetzt nichtige Politik durch welterlösende Kunst, die die Nichtigkeit der alltäglichen Welt zur Darstellung bringen und überwinden soll. Warum ist die nüchterne, jeder dramatischen Pose abholde Kanzlerin – eine begeisterte Wagnerianerin? Weiß sie nicht, dass ein deutscher Führer in Bayreuth seine emotionale Heimat hatte? Wagner wollte die apokalyptische Gefahr auf die Bühne bringen, um sie durch Erlösung zu überwinden.

Die Kanzlerin ist, wie der SPIEGEL entdeckte, keine nüchterne Sachbearbeiterin politischer Geschäfte, sondern eine bipolare Persönlichkeit. Nach außen eine prosaische Erbsenzählerin, in ihrem verborgenen Seelenleben eine Untergangsprophetin, zugleich die glühende Verehrerin eines politik-überwindenden Erlösers durch die Macht der Musik.

Politik genügt nicht, um den Menschen zu retten. Sie muss durch Kunst erlöst werden, die an die Stelle der missratenen Religion tritt. Romantiker Novalis war Bergbau-Ingenieur und Schwärmer zugleich, Merkel ist Physikerin und apokalyptisch-erlösungsbedürftige Wagnerianerin.

Von Woche zu Woche wird es bizarrer in Deutschland. Die richtungsweisende Politikerin macht Politik, indem sie sich vom politischen Geschäft entfernt. Fleißig soll sie sein, erzählen sich eingeweihte Kreise – aber nicht vor den Augen des Pöbels. Was sie tut, tut sie nur für Bücher, die am Tag des Gerichts geöffnet werden, für die Geschichtsbücher des Himmels.

Wir erleben die Gottwerdung einer niedrigen Magd, vergleichbar dem Aufstieg des einstigen Stammesgottes Jahwe zum alleinigen Gott über alle Menschen und Götter. Vom Henotheismus zum Monotheismus: von der überraschenden Karrieristin zur unbestrittenen Führerin aller Herzen. Je allmächtiger der Gott wurde, je unsichtbarer wurde er. Am Ende war er nur noch durch das Wort zu hören.

Alle Konkurrenten hat Merkel durch gleichförmige Freundlichkeit ablaufen lassen. Das waren keine ernst zu nehmenden Rivalen, die nicht mal Merkels instrumentelle Umkehrung aller weltlichen Machtwerte erkannten. Die Macht der Welt besiegt sie mit scheinbarer Ohnmacht der frommen Frau. Wo sie ambitionslos erschien, wussten die Männer nicht, gegen wen sie ihre Pfeile richten sollten.

Am Anfang war Merkel eine Politikerin unter vielen, deren Neid und Eifersucht sie mit freundlicher Nichtbeachtung zu bekämpfen wusste. Besonders Männer deklassierte sie durch Ignorieren ihrer aufgeblasenen Wichtigkeit. Die Männer durchschauten Merkels Paradoxie nicht. Ehe sie sich’s versahen, waren sie auf dem Abstellgleis gelandet. Wenn Männer keine Kampfrituale erkennen, reagieren sie hilflos und irritiert und wissen nicht, wie sie ihr Testosteron loswerden können.

Das betrifft nicht nur die eigene Partei. Merkel erniedrigte die SPD zum Dauer-Anhängsel, das ohne führende Mutterfigur nicht wusste, wohin es sich wenden sollte. Kompromissorgien und Verlust des klaren Denkens sorgten für das Übrige – und von links bis rechts gab es keine Stolpersteine mehr. Den Deutschen ging es gut, wozu benötigten sie Alternativen?

Besonders erfreulich empfanden die Deutschen das Fehlen jeder Aufgeregtheit. Es war wie in einem selbstfahrenden Vehikel, das mit übermotiviertem Steuermann nur unberechenbar wäre.

Im scheinbar letzten Akt ihrer Macht-durch-Demut-Spiele setzt sie nun zum einmaligen Finale an. Deutschland hat sie derart gekonnt auf Autopilot gestellt, dass jedes Intervenieren als Störung empfunden wird. Nun entweicht sie in die Lüfte, wird aus einer Streiterin unter vielen zur unsichtbaren Mono-Angela. Niemandem fällt es auf, wenn die Kutsche führungslos durch die Nacht prescht. Es muss etwas Beruhigendes haben, wenn Geschäfte geräuschlos wie ein Uhrwerk laufen.

Merkel imitiert Gott als Uhrmacher. Zu Beginn der Neuzeit wurde aus dem Organismus der Natur eine machina mundi. Die Uhr wurde zum Symbol der kosmischen Ordnung. Um 1500 beherrschten Großuhren an Türmen und Kathedralen das Leben in den meisten Großstädten. Wo der Handel florierte, gab es kaum eine Pfarrei ohne eigene Kirchturmuhr.

Für die Mechanisten wurde Gott ein Uhrmacher und Ingenieur, der die Welt von außen konstruierte und lenkte.

„Mersennes Hoffnung war es, die Nachfolge Christi zu ersetzen durch die Nachfolge des göttlichen Ingenieurs. Die Ingenieurskunst gab der Menschheit nicht nur Gelegenheit, Gott „in äußeren Hervorbringungen“ nachzuahmen, sondern die Möglichkeit der Herrschaft über die Erde. Ist eine Uhr perfekt, wird sie, in Gang gesetzt, für alle Zeiten weiterlaufen. Gott als Uhrmacher wird keinen Anlass sehen, in ihren Gang einzugreifen.“

Die Umwandlung der Natur aus einem Gesamtorganismus mit allseitiger Empfindsamkeit in eine gefühllose Maschine konnte nicht ohne mortale Wirkungen bleiben:

„Der Tod der Weltseele, die Vertreibung der Naturgeister förderten die zunehmende Umweltzerstörung, da sie jeden Skrupel beseitigte, dass Natur ein belebter Organismus sei. Der Mechanismus lieferte ein Bild der Welt, das sie rationaler, voraussagbarer, somit manipulierbarer zu machen schien.“ (Alle Zitate in: Carolyn Merchant, Der Tod der Natur)

Wie oft beruhigen sich Medien mit der Bemerkung, die Kanzlerin sei eine nüchterne Physikerin. Früher hätten sie von einer Uhrmacherin oder Mechanikerin gesprochen.

Hier entstand der deutsch-englische Streit zwischen Newton und Leibniz. Bei Newton war Gott gezwungen, das Uhrwerk regelmäßig aufzuziehen. Eine lächerliche Vorstellung für Leibniz, der Gottes Vollkommenheit darin erblickte, eine perfekte Maschine zu konstruieren, die keine Reparatur nötig hatte.

Das war buchstäblich am verschiedenen Politstil der Pastorentöchter in London und Berlin zu sehen. Während ihre englische Kollegin ständig folgenlos nachbessern musste, kann Merkel seelenruhig die Bühne räumen, ohne sich die Blöße des Eingreifens zu geben.

Ihre Untertanen hat sie zum kapitalistischen Uhrwerk abgerichtet. Inzwischen funktioniert es interventionslos. Merkels Aufgabe ist erfüllt, sie darf in den Himmel entrückt werden. Niemand käme auf die Idee, die Mängel der deutschen Politik ihrem Versagen zuzuschreiben.

Eine digitalisierte Welt muss vorbereitet werden durch Umwandlung von Natur und Gesellschaft in mechanische Uhrwerke. Alles muss lautlos schnurren, dass kein Mächtiger als Populist verdächtigt werden kann. Versprechungen dürfen nicht mehr ausgesprochen werden, sie müssen als Schnurren des Uhrwerks gespürt werden. Wer Worte benötigt, muss ein Verführer von außen sein, der alle rhetorischen Raffinessen aufbietet, um mit dem Räderwerk zu konkurrieren.

Populistischer als Merkel, deren Macht auf perfekten Politmaschinen beruht, kann man nicht sein. Ihr Auftreten allerdings soll antipopulistisch wirken.

Nur so ist zu verstehen, dass ihre schreienden Widersprüche, Umbrüche und Heucheleien nicht zur Kenntnis genommen werden. Dass sie im Verborgenen eine angstbesessene Untergangsprophetin, in der Öffentlichkeit eine zuversichtliche Führerin ist, wäre in jedem kritischen Volk ein Skandal.

Nicht aber bei den Deutschen, die nichts von Logik halten, aber viel vom Charme der Dialektik, dem Dauer-Kompromiss zwischen Gott und Teufel, Gut und Böse. Kein Untertan Merkels soll sich zu einem unbequemen Entweder-Oder entscheiden müssen. Ist alles möglich, selbst das Unmögliche: da muss heiliger Boden sein. Nur hier waltet Gott.

Leibnizens Gott muss nichts mehr tun. Das ist der Beweis seiner Omnipotenz. Diesen Zustand hat Merkel erreicht. Obwohl sie die Leitlinien der deutschen Politik verantwortet, taucht sie in den Politanalysen der Öffentlichkeit nicht mehr auf.

Das betraf bislang auch ihre Partei der Mitte, die seit erdenklichen Zeiten die Macht in der BRD innehat. Wer morgens die Zeitungen aufschlägt, liest fast nur von Umtrieben der Rechten und Linken, von belanglosen Personalfragen und von Bösen weit hinten in der Welt, wo Völker aufeinander schlagen. Die CDU hingegen war nie vorhanden, sie war das schwarze Loch in der Mitte, das es verstand, sich dem Blick der Beobachter zu entziehen. Macht verstand sich von selbst. Je weniger man über sie sprach, je effektiver war sie.

Jetzt kommt die Jugend, jetzt könnte es anders werden. Der 26-jährige junge YouTuber Rezo durchbrach das Tabu und attackierte die Fehlleistungen der christlichen Partei in einem einstündigen Video:

„Ein 55-minütiger Beitrag über die CDU, die angeblich „unser Leben und unsere Zukunft zerstört“. Die Vorwürfe: soziale Ungerechtigkeit, gefährliche Klima-Politik, Beteiligung an Kriegsverbrechen – alles mit Quellen belegt.“ (BILD.de)

Rezos Philippika hat ein riesiges Echo ausgelöst. Wie reagieren die Politchristen? Da faselt einer von Meinungsdiktatur, Generalsekretär Ziemiak antwortet tatsächlich: Rezo habe allzu einfache Lösungen für komplexe Fragen.

„Natürlich fand auch CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer wieder einmal die falschen Worte. „Ich habe mich gefragt, warum wir nicht eigentlich auch noch verantwortlich sind für die sieben Plagen, die es damals in Ägypten gab“, versuchte sie, das Video ins Lächerliche zu ziehen. Es sind tatsächlich zehn Plagen.“ (SPIEGEL.de)

Die Reaktionen sind das letzte Röcheln einer untergehenden Epoche. Wer sie alkoholfrei wahrnimmt, kann nur noch heulen. Merkel? Wird auch hier nicht erwähnt. Wie würde sie auf Rezo reagieren? Dazu sage ich nichts. Das ist wortlose Vollkommenheit. Merkel ist der Demokratie entwichen und hat sie, nein, nicht bei Nacht und Nebel, sondern vor aller Augen in eine Thea-Kratie verwandelt. Theo ist Gott, Thea die Göttin.

Da sie als Hauptverantwortliche die Schuldigste ist, durch Flucht ins Vollkommene aber jede Schuld leugnet, gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: entweder wird die Frage der Ursache komplett gestrichen – oder die Schuld muss jenen zugeschrieben werden, die am wenigsten mit ihr zu tun haben. Stellvertretende Schuldige müssen gesucht werden, damit die wirklich Schuldigen mit Freispruch davonkommen.

a) Es sind immer die Kritiker der Mächtigen, nie die Mächtigen selbst, die am Schlamassel schuldig sind.

b) Es sind immer Einflüsse von außen, die die vermeintlich Unschuldigen zu Schuldigen erklären. Kann man nachweisen, dass die wahren Schuldigen von außen kommen, um die vermeintlich Unschuldigen von innen fälschlich zu beschuldigen, werden die wirklichen Schuldigen – von aller Schuld freigesprochen.

Zu a) Nehmen wir die CDU. Ihre Macht bestimmt die deutsche Politik. Was berichten die Medien über sie? Nur Rangeleien um Posten und Personalquerelen. Da ihre Politik sich ohnehin nie ändert, ist es gleichgültig, ob ein Kauder oder Brinkmann die Fraktion führt. Wohl gibt es Unterschiede in Nuancen und Temperamentfragen, doch im Großen und Ganzen unterscheidet sich AKK nicht von Merkel. Was bleibt? Stilfragen, die zu Substanzfragen aufgewertet werden. Davon nähren sich 90% der Gazetten.

Zu b) Nicht die Deutschen gefährden ihre Demokratie, sondern – „Fake News, rechte Propaganda, Einmischung aus dem Ausland vor der Europawahl haben Desinformationskampagnen Konjunktur in den sozialen Medien.“ (SPIEGEL.de)

„Tatsächlich ist die Dominanz der Rechten eine Konstante, die sich durch alle Länder zieht; in Deutschland etwa die der AfD. Rechte Parteien und Gruppen sind also entweder besser als die anderen auf dem Gebiet der sozialen Medien oder sie sind besser darin, sie zu manipulieren. Es gibt inzwischen auch so etwas wie eine internationale Alt-Right, die grenzübergreifend in den sozialen Medien zusammenarbeitet. Es gibt Bots, die in mehreren Sprachen twittern; es werden Memes, Botschaften und Verschwörungstheorien über Grenzen hinweg geteilt und gepusht. Linksextreme sind auch auf diesem Gebiet tätig, aber bisher sind Rechtsaußengruppen deutlich effektiver.“

Wer war schuld an Trumps Sieg? Nicht die Amerikaner selbst, sondern Putins verborgene Propaganda-Kolonnen, die wehrlosen Amerikanern das Gift einträufelten: wählt den Schurken, in Wahrheit ist er der Beste.

Wer ist schuld am europäischen Rechtsruck? Die Rechten natürlich, du Dämlack.

Moment mal, du Klugscheißer: wenn es eine Zeit vor dem Rechtsruck gegeben hat, muss es doch noch ältere Ursachen geben, die ihn verschuldeten. Also müssen die Gründe – in der Mitte der Gesellschaft liegen. Wo sonst?

Selbst wenn es potente Einflüsterungen aus dem Ausland gegeben hätte, müssten die Einheimischen schon vorher anfällig gewesen sein für subkutane Beeinflussungen. Was waren die Ursachen dieser Manipulierbarkeit?

Es ist wie bei der Werbung. Wer ihr überdimensionale Kräfte zuschreibt, um die Bevölkerung in die Kaufhäuser zu treiben, müsste sich fragen: Warum ist die Gesellschaft so wehrlos? Könnte das damit zusammenhängen, dass bereits Kindern in der Schule verwehrt wird, ihre eigenen Meinungen und Gefühle zu entdecken und fremde Meinungen zu überprüfen? Stattdessen wird ihnen eingebläut: die anderen wissen es immer besser. Richte dich nach den Kolonnen der Einflussreichen, unterwirf dich dem Zeitgeist, er hat immer recht.

Autonome Menschen hätten keine Probleme mit Memen und Botschaften, über solchen Hokuspokus könnten sie nur lachen.

Die Wissenschaftlerin im SPIEGEL gibt einige historische Beispiele für dämonische Einflüsterer:

„Historisch gesehen zogen große Veränderungen im Bereich Information und Kommunikation immer auch große politische Veränderungen nach sich: Die Erfindung des Buchdrucks ordnete die Machtverhältnisse in Europa völlig neu. Ähnlich war es bei der Erfindung des Radios: Hitler und Stalin waren beide Radiogenies. Es dauerte eine Zeit, bis die Briten das durchdacht hatten und als Antwort auf die Polarisierung durch das Radio die BBC ins Leben riefen.“

Das ist heller Wahnsinn. Nicht der Buchdruck, nicht die Erfindung des Radios sind schuldig an Stalin und Hitler, sondern die dämonischen Ideologien, die seit Jahrhunderten in den Gesellschaften die Bevölkerung indoktrinierten: an erster Stelle die Religion mit allen säkularen Transformationen.

Warum ist die Bevölkerung unfähig, Falschmeldungen zu durchschauen? Weil man ihr einbläute, alles, was nach technischer und medialer Kompetenz riecht, muss wahr sein. Die Formel lautet: alles, was von außen kommt, ist vertrauenswürdiger als dein eigenes klägliches Fürwahrhalten. Du bist nichts, das Geniale, Gigantische, Technische ist alles. Alles, was nach Fortschritt aussieht, hast du, ohne zu klügeln, zu übernehmen. Je schneller und kreativer die Botschaften, je unfehlbarer sind sie.

Das gilt auch umgekehrt: alle Humanitäten der Gesellschaft sind, nein, nicht die Früchte der Demokraten, sondern Wirkungen hypostasierter Begriffe. Wie meinen?

Na Begriffen wie Kapitalismus. Einen Kapitalismus, der am Elend der Menschen schuld sein soll, gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, die nach Gesetzen des Kapitalismus handeln. Nicht Begriffe sind schuld, sondern Menschen, die sich diesen Begriffen unterwerfen.

Dasselbe gilt für vorbildliche Begriffe. Nicht das Grundgesetz hat uns eine intakte Demokratie beschert, sondern Menschen, die den Direktiven des Grundgesetzes gefolgt sind. Ebenso ist das Grundgesetz nicht irgendwie vom Himmel gefallen, es wurde von konkreten Menschen erfunden und durchgesetzt. Es war ein Carlo Schmid, der seinen Beitrag geleistet hat, es war eine Elisabeth Seibert, die ohne Wenn und Aber formulierte: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“

„Deutschland ist eines der stabilsten Länder der Welt. Wir können uns glücklich schätzen, in diesem Land der Freiheit, der Sicherheit, des Rechts, der Kultur, des Wohlstands und des Friedens zu leben. Das haben wir ganz wesentlich unserem Grundgesetz zu verdanken.“ (BILD.de)

Wer sich kurz fassen will, kann sich dieser abstrakten Begriffe bedienen. Wenn diese Begriffe aber benutzt werden, um den menschlichen Faktor im Guten wie im Bösen zu verleugnen, werden die Menschen von den Begriffen ent-mündigt.

Wie sollen sich die Deutschen realistisch einschätzen lernen, wenn ihnen nicht bescheinigt wird, worauf sie stolz sein können und wo sie versagt haben? Lernvorgänge im Politischen darf es nicht geben. Also muss auch nicht erforscht werden, was das demokratische Lernen boykottiert. Stattdessen muss alles anonymen Mächten zugeschrieben werden. Sei es als Verdienst, sei es als Schuld. Homo sapiens muss ein ewiger Irrläufer und Vollidiot bleiben.

Weil die Führungsklassen kein mündiges Volk anerkennen wollen, muss die repräsentative Demokratie – die nur eine technische Notlösung großer Völker ist – zur Oligarchie, der Herrschaft von Wenigen, verklärt werden. Die Gewählten, Reichen und Genialen müssen stets das letzte Wort haben. Plebiszitäre Volksabstimmungen müssen abgelehnt werden, das Ergebnis könnte schrecklich sein. Ja, in der Schweiz, da ist es was anderes, da Schweizer standhafte Demokraten sind. In Deutschland droht noch immer die Einführung der Todesstrafe.

„Je komplizierter die Welt, desto stärker die Sehnsucht nach dem Schwert, das den gordischen Knoten durchschlägt. Das Plebiszit ergänzt die repräsentative Demokratie, darf sie aber nicht gefährden oder gar zerstören. In der Schweiz hält die plebiszitäre Komponente die Demokratie lebendig. In England dagegen ist es zu einer besorgniserregenden Blockade zwischen Referendumsmehrheit und einem gespaltenen Parlament gekommen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten mit den Plebisziten in Weimar schlechte Erfahrungen gemacht. Damals haben Plebiszite die Parteien desavouiert und die öffentliche Meinung aufgepeitscht. Deshalb wurde ein Satz von Theodor Heuss viel zitiert, wonach Plebiszite eine „Prämie für Demagogen“ seien.“ (WELT.de)

Das sind Eitelkeiten jener, die sich über „Dummheiten des Volkes“ erhaben fühlen. Von Verblendungen der Eliten wird nie gesprochen.

Was heute Populisten sind, waren früher Demagogen oder Sophisten. Aber: wer hat denn das Volk so verführbar und ignorant erzogen, dass es jedem Rattenfänger von Hameln folgt?

Demokratische Kompetenz ist kein Vorrecht von Eliten, selbst wenn sie gewählt wurden. Sie sind nicht die Einzigen, die Gewissen haben. Gewissen ist nicht dazu da, den Willen des Volkes – den in Praxis zu übersetzen die Abgeordneten gewählt wurden – zu ignorieren. Wer diesen Willen für falsch hält, hätte sich vom Volk nicht wählen lassen dürfen. Wer als Gewählter merkt, dass der Wille des Volkes unverträglich ist mit seiner Meinung, hat gefälligst zurücktreten.

Einerseits brillieren sie mit ihrem subtilen Gewissen, andererseits müssen sie die Kostbarkeit vor jeder Fraktionssitzung abgeben. Nicht das Parlament ist Mittelpunkt der Demokratie; es ist nur die letzte Station der Übersetzung von Volkes Willen in Gesetze und Politik. Kein Volk ist perfekt, seine Eliten am allerwenigsten. Weshalb Demokratien lernfähige Schwarmintelligenzen sein müssen.

Zentrum der Demokratie ist jeder Ort, wo Mündige leben, zusammen arbeiten und lernen, miteinander streiten, sich verständigen und Andersdenkende tolerieren.

Mittelpunkt der Demokratie ist die Freiheit aller Einzelnen als Fürsorge für die humanste Gesellschaft aller Zeiten.

Das Grundgesetz ist ein Manifest politischer Moral; wer Moral von Politik trennt, ist ein Gegner des Grundgesetzes.

 

Fortsetzung folgt.