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Von vorne XIV

Von vorne XIV,

die Menschheit im Rückwärtsgang. Und wir dachten, wir wären schon weiter? Wie kann der Mensch auf ein früheres Stadium zurückfallen?

Fortschrittswahn ist linear und lässt keinen Rückschritt zu. Wer nicht mitkommt oder zurückweicht, kommt unter die Räder.

Technischer Fortschritt lässt sich messen. Einen humanen Fortschritt darf es heute nicht geben, denn er würde vergleichbare Lernwege voraussetzen. Das aber wäre Uniformierung des unvergleichlichen Ichs. Bemerkungen über Reife oder Unreife wären unangebracht, wenn Entwicklungen anhand objektiver Kriterien nicht beurteilt werden können.

Solange Schule herrscht, dominiert Test- und Prüfungszwang. Da wird alles miteinander verglichen und zensiert, nur das Wesentliche nicht: demokratische Reife. Der Nachwuchs soll auch nicht demokratisch sein, er soll vergleichbar fungibel und industrie-kompatibel gemacht werden. Hier herrscht keine Angst vor Uniformität. Mit Kindern und Abhängigen kann man‘s ja machen.

Was ist demokratische Reife?

Die Fähigkeit, die Welt wahrzunehmen,
selbstbestimmt über ein lebenswertes Leben nachzudenken,
und mit dem faktischen Zustand der Welt zu konfrontieren,
die eigene Sicht der Dinge mit anderen zu vergleichen
und um die beste Wahrheit zu kämpfen,
den Mut aufzubringen, unter wachsamer Selbstprüfung das Faktische dem für richtig Gehaltenen anzunähern
und, ausgestattet mit diesen Fähigkeiten, Verantwortung zu übernehmen für das eigene Leben und das der Menschheit.

Verantwortung übernehmen heißt, nach getaner Tat erleichtert und

selbstgewiss zu sein, wenn die Tat sich dem humanen Ziel näherte – und selbstkritisch-erschrocken, wenn der eigene und allgemeine Zustand der Welt vom Ziel abkam, um es danach erneut zu versuchen und aus seinen Irrungen und Wirrungen zu lernen.

Sollten diese Kriterien stimmen, ist das einstige Land der Denker zu einem Land der Geistesabwesenden verkommen.

Wird die Welt wahrgenommen? Davon kann keine Rede sein, sonst hätte die mehr als 200 Jahre anhaltende Naturbeschädigung längst von jedem bemerkt werden müssen. Die Welt wird touristisch geflutet, aber nur zum eitlen Zweck, etwas erlebt zu haben, was der Nachbar nur aus Reisemagazinen kennt.

Wird über ein lebenswertes Leben nachgedacht? Davon kann keine Rede sein. Denken ist Frucht eines selbstbestimmten Lebens und der Fähigkeit, die Autoritäten des Zeitgeistes aus Distanz in Frage zu stellen. Ein lebenswertes Leben ist ein gutes, ein moralisches Leben. Dass Wohlstand und gutes Leben nicht zusammenfallen und Moral identisch ist mit Würde: bei solchen Sätzen schüttelt sich der Zeitgeist vor Grausen.

Mut zu eigener Meinung erfordert Angstfreiheit vor den Fürsten der Welt. Furchtlosigkeit wird durch Entfachen von Existenz- und Versagensängsten schon in jüngsten Jahren verhindert. Anpassen, unterordnen, aufsteigen in höhere Etagen, seine minderwertige Herkunft hinter sich lassen: das ist das Gesetz des Erfolgs.

Ziel der Politik ist nicht die Herstellung eines guten Lebens für alle Gesellschaftsschichten – die dadurch belanglos wären –, sondern die Luxurierung erfolgreicher Machteliten. Gutes Leben ist nur möglich auf den Gipfeln. Unten muss gedarbt werden in Elend und Bedeutungslosigkeit.

Verantwortung übernehmen? Davon kann keine Rede sein. Ursachenforschung als Zuschreiben von Schuld ist verschwunden. Eliten, die alles unter Kontrolle haben, sind nur zuständig für Lorbeeren. Die Schuld an allem liegt bei jenen, die nicht mal die Macht besaßen, die kleinsten Kleinigkeiten zu bestimmen. Oder sie liegt an Zufälligkeiten und ehernen Gesetzen der Geschichte. Wer Oben angekommen ist, hat Schuld und Versagen hinter sich gelassen.

Sollte sich der Mensch zu einem reifen, human gesinnten Naturwesen entwickeln wollen, müsste er die Lernstufen angeben, die er zu überwinden hätte, um zu sagen: Hier bin ich Mensch, hier darf ich‘s sein. Die Menschheit müsste eine intensive globale Debatte beginnen: was müssen wir zusammen lernen, um eine friedliche Weltgesellschaft zu werden?

Bislang sind die Eliten nur einhelliger Meinung im Vorantreiben des technischen Fortschritts. Der Fortschritt dient dem Eskapismus der Eliten ins Weltall einerseits, der wirtschaftlichen Überlegenheit und perfektionierten Überwachung abhängiger Massen andererseits.

Von einem Fortschritt in Demokratie darf nicht gesprochen werden. Als ein Amerikaner in der Welt nur noch Demokratien erkennen wollte, wurde er im hartgesottenen Deutschland zum Träumer ernannt.

Denken als Theorie und Praxis ist abhanden gekommen. Die moderne Praxis ist Anpassen an unabänderliche Schicksalsmächte, die Theorie wurde zur Magd der schlechten Praxis.

Früher war Deutschland ein Land der Denker, allerdings keiner politischen – es sei, um die Herrschaft der Fürsten als gottgewollte Obrigkeit zu stabilisieren. Die meisten deutschen Denker fühlten sich für das politische Los ihrer Landsleute nicht verantwortlich. Ihre Denkgebäude mussten originelle kristalline Gebäude aus der Höhe sein, die mehr nach Kathedrale rochen als nach einem politischen Marktplatz.

Philosophie ist für Deutsche – pardon, war für Deutsche – eine geniale Creation. Mit der Realität der Menschen hatte sie selten zu tun. Lieber ein unverwechselbares System, als eine politische Mündigkeitserklärung des Menschen. Ein philosophisches System musste – als Nachfolgerin der Theologie – eine Offenbarung von Unten sein.

Da kein einziger deutscher Denker zum Widerstand gegen die politischen Mächte aufrief, gewöhnte man sich daran, das Denken dem Himmel und den Spatzen zuzuordnen. Nicht mal Karl Marx, der am feurigsten auftrat, appellierte an seine proletarischen Erwählten, dem Schicksal in die Speichen zu greifen. Dazu waren sie nicht autorisiert. Nur die Heilsgeschichte der materiellen Verhältnisse war berufen, sie an die Startlöcher zu rufen.

Gottlob war die Geschichte nie bereit, die Fanfaren zur Eröffnung der Entscheidungsschlacht ertönen zu lassen. So konnten deutsche Revolutionäre sehr wild und verwegen aussehen – und dennoch gehorsam ihrer Maloche nachgehen. Da wurden Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse aufgerufen, dass einem die Ohren klingelten, gleichwohl gestattete die Geschichte, dass man als Spießer stets ins Heimische zurückkehren durfte.

Lernen und Handeln in Mündigkeit: das war weder bei Hegel noch bei Marx möglich. Nicht mal beim aufgeklärten Kant, der die überlegene Natur engagierte, um den trägen Untertanen auf Vordermann zu bringen. Auch Nietzsches verwegenen Übermenschenparolen und Weltpolitik-Perspektiven gelang es nicht, eine einzige deutsche Provinz-Regierung mit Zarathustras Jüngern zu besetzen. Nur Wandervögel, die quer durch die Tundra zogen, erhitzten sich am nächtlichen Lagerfeuer an den Losungen des Moral- und Gottesmörders.

Und dennoch waren die Deutschen nicht ewig zur folgenlosen Innerlichkeit verdammt. Eines Tages, nach vielen Demütigungen und Niederlagen, erscholl der ersehnte Ruf aus der Höhe der Vorsehung und entzündete ihre aufgestaute innere Glut zum fürchterlichen Weltenbrand.

Regredieren kann nur, wer weiß, wohin er progredieren soll. Was, wenn Progress allein den Maschinen vorbehalten wird? Der Mensch, geboren vom Weibe, ist out. Er kann nicht mehr, darf nichts können und ist verurteilt zum Stillstand und Verfall. Ihm bleibt nichts als das Erfinden von Stellvertretern, die seine Ehre retten, indem sie für ihn intelligent und erfolgreich sind.

Regression ist unvermeidlich, wenn der Fluß des Lernens nicht ungehindert fließen kann. Taucht plötzlich ein Hindernis auf, das unüberwindbar scheint, wird alles gestaut und dorthin zurückgeschickt, woher es kam. Regredieren heißt zurückfallen auf eine frühere Stufe der Lerngeschichte, die zu einer Stufe der Torheit wird, weil ihre Entwicklung zur Klugheit mit Gewalt gestoppt wurde.

Freuds Psychoanalyse beruht auf dem methodischen Vorgang der Regression als Erinnerung, um die biografische Entwicklung transparent zu machen – damit sie sich nicht wiederholen muss. Was bedeutet, dass der leidende Mensch ohnehin kein Progredierender sein konnte. Seine Entwicklung war zum Stillstand im Modus der Wiederholung gekommen.

An welche Lerngeschichte dachte Freud? „Wo Es war, soll Ich werden.“ Wo Dunkel und Bewußtseinslosigkeit herrschten, sollte Helligkeit einziehen. Licht in die Dunkelheit: das waren Metaphern der Aufklärung.

Der junge Freud war Aufklärer. Doch als er den Ersten Weltkrieg erlebte, glaubte er nicht mehr an die lichtbringende Vernunft des Menschen. Mehr als sein bürgerliches Leben zu fristen, war nicht mehr drin. Zu stark waren die Kräfte primitiver Uranafänge des Menschen, die ihn nie aus den Fängen ließen.

„… die primitiven Zustände können immer wieder hergestellt werden; das primitive Seelische ist im vollsten Sinne unvergänglich.“ (Freud)

Kein leicht verständlicher Satz. Primitiv ist „einfach“, heute verfälscht zu „unzivilisiert“. Primitive Menschen sind Wilde, die zur Entwicklung einer Hochkultur unfähig sind. Die Primitiven aber sind die einzigen Menschen auf der Welt, die in der Lage sind, mit der Natur in Eintracht zu leben – solange die Natur es will.

Wenn moderne Ökologen die Rettung der Menschheit von der Fähigkeit abhängig machen, einträchtig mit der Natur zu leben, so haben sie – ob sie wollen oder nicht – diese Wilden als Vorbilder vor Augen.

Umso schlimmer für diese Naturbewegung in den Augen ihrer Gegner, wenn es darauf hinausliefe, die moderne Kultur aufzugeben und in den Zustand der Wildheit zu regredieren. Lieber bei einer Bachkantate in einer prächtigen Kirche untergehen als in einem Baumhaus ohne Aufzug nachhaltig vor sich hin zu dämmern.

Primitiv war für Freud das primäre Triebleben, das der christlichen Erbsünde nicht unähnlich ist. Es hat nichts anderes im Sinn, als Mutter zu beglücken und den Vater von der Tenne zu fegen. Triebe sind nicht salonfähig und müssen ständig an die Leine. Das ist der Job der Gouvernante, die Freud Ich nennt.

Pardon, es muss ein Gouverneur sein, denn nur ein Mann besitzt die Autorität, Urwaldtriebe an die Leine zu legen. Frauen schaffen das nicht, dazu fehlt ihnen das starke, selbstbewusste Ich.

Doch auch das männliche Ich ist zu schwach, um die wilde Brut zu domestizieren. Also muss es noch eine andere Instanz geben, die dem Ich sagen muss, was Triebe dürfen oder nicht. Das Über-Ich. Hätte der Mensch kein Über-Ich, wüsste er nicht, was gut und böse ist. Das Über-Ich muss Gottes Stimme sein, die dem moralischen Dummkopf sagen muss, was Gut und Böse ist.

Wer genauer hinhört, weiß, dass die Entdeckung von Gut und Böse – weiblich sein muss. Erst Evas Sündenfall brachte den Menschen die Erkenntnis vom Guten und Bösen. Für die Einen ist das Weib eine verfluchte Hexe, für die anderen die Urmutter alles Guten. Denn erst der Mut zur Sünde war die Voraussetzung der moralischen Urerkenntnis. Ohne Sünde keinen Fortschritt. Ohne Böses keine Entwicklung des Menschen ins Grenzenlose.

Für die Wilden muss das Primitive die Voraussetzung ihrer naturverträglichen ewigen Lebensfähigkeit auf Erden sein. Für Freud und die Moderne ist primitiv alles, was unterdrückt und ausgerottet werden muss.

Es wird immer verwirrender. Regression ins Primitive war für Freud ein kulturfeindlicher, letztlich naturfeindlicher Akt. Ihre Naturfeindschaft war den Abendländern spätestens seit Alexander von Humboldt bekannt.

Heute wäre Regression ins Primitive ein – Progress ins Naturverträgliche.

Bei Freud haben wir es mit einer religiös überlagerten Regression zu tun, die dem hochzivilisierten Menschen Unheil bringt. Betrachten wir es mit den Augen der naturverträglichen Wilden, müsste die Ökologiebewegung sofort die Lebensqualitäten der Wilden studieren, um den gefährdeten Hochkulturen zu zeigen, wohin die Reise gehen soll – wenn sie denn überleben will.

Betrachten wir Regression und Progression in einem nicht religiösen Sinn, müssen wir über rationale Lernvorgänge nachdenken.

„Und so ist denn Sokrates, indem er Staat und Religion der Ethik unterwarf, diese selbst aber aus dem rationalen Denken ableitete, also ganz aus dem Logos lebte, der Vollender der Aufklärungsbewegung. Die Einsicht in den Wert der wahren und falschen, der wirklichen und der vermeintlichen Güter: das ist der „wissende Mensch“. Richtiges Handeln ist abhängig von der Erkenntnis, nicht von einem äußerlich angelernten Wissen über das, was gut ist, sondern vom Grad der eigenen Einsicht: einerseits in das Wesen des Guten, andererseits der Forderung gemäß: „Erkenne dich selbst.“ (Wilhelm Nestle)

Das also wäre Denken: Einsicht in die Fähigkeit, uns zu einem guten Leben zu verhelfen. Nicht nur im Allgemeinen und Theoretischen, sondern in persönlicher, selbstkritischer Potenz: schau hin, ob du selbst tust, was du anderen predigst. Überzeugen kann nur, wessen Tun und Denken übereinstimmen. Perfect is nobody. Die Erkenntnis der eigenen Fehlbarkeit gehört zur grundlegenden Selbsterkenntnis.

Zum Denken hat sich auch FAZ-Kaube geäußert, merkwürdigerweise in der WELT. Vom Lernen des Lernens hält er nichts. Dass Lernen eine selbstbestimmte Angelegenheit sein muss, scheint ihn nicht zu interessieren. Er hält mehr vom autoritären Pauken, damit die lieben Kinderlein eines Tages Eliten werden, die Deutschlands Wohlstand garantieren.

„Der Denkfehler der Bildungspolitik, es ginge heute einzig um das „Lernen des Lernens“, ist fatal. Unser Autor ist überzeugt: Diese inhaltsleere Ausrichtung führt zu unwissenden Schülern, die nicht mehr fähig sind, schwierige Aufgaben zu lösen.“ (WELT.de)

Schwierige Aufgaben lösen heißt auf keinen Fall: politische Aufgaben lösen. Die sind noch weitaus schwieriger als schwierig, die sind überkomplex, nicht einfach oder primitiv. Womit wir im Allerheiligsten angekommen wären. Schwierige technische und wirtschaftliche Aufgaben sind zu lösen – damit politische Probleme weiterhin unlösbar bleiben können. Von der Politik soll die renitente Greta- und Luisa-Generation sich gefälligst fernhalten. Dafür sind sie – zu primitiv. Schauen einfach nach bei der renommierten Wissenschaft und bilden sich ein, die Welt im freitäglichen Flanieren retten zu können.

Justament in dem Moment, in dem wie ein säkulares Wunder die Jugend aus ihrer fremdverschuldeten Schul-Unmündigkeit auftaucht und ihre Denkfähigkeit in politischer Unbefangenheit und zivilem Ungehorsam zeigt, fühlt sich ein Feuilletonist bemüßigt, sie als unwissende Jugend in die Schulbänke zurückzujagen. Sollen sie erst mal pauken, was „Eiweiße, Säuren, Anionen und Protonen, Mitose und Meiose“ sind.

Kein denkender Mensch wird den Erwerb notwendigen Wissens ablehnen, um den industriellen Missbrauch des Wissens zu entlarven. Vor die Kritikfähigkeit im Einzelnen aber hat Gott die – Fähigkeit zur Kritik an sich gesetzt: den Mut, versteinerte Selbstverständlichkeiten mit dem Hammer zu zertrümmern, Traditionen unter die Soutanen zu schauen, Tabus als Denkverbote zu entlarven. Lernen des Lernens ist – Denken.

Was hat Kaube über das Denken zu sagen?

„Die Entgegensetzung von Wissen und Fähigkeiten (Kompetenzen) ist also völlig sinnlos, insbesondere wenn man sich an die zentrale Fähigkeit hält, die in Schulen kultiviert werden kann und die tatsächlich in allen vorstellbaren Zukünften nützlich sein dürfte: Denken.“

Er kann nur den Begriff hinschreiben – und auf einen Hirnforscher verweisen, der die Denkunfähigkeit der Jugend beklagt, indem er volkspädagogisch von „Uns“ und „Wir“ spricht:

„Wir verlassen uns zu sehr darauf, dass für uns gedacht wird. Wir schließen uns zu bereitwillig Meinungen an, die andere bereits vorgeformt haben. Damit leben wir in selbst verschuldeter Unmündigkeit. Wer vage denkt, kann auch nur vage handeln. Denken ist eine Voraussetzung für richtiges Handeln – es ist gleichsam eine überlebenswichtige Dienstleistung unseres Gehirns. Gerade in der heutigen, turbulenten Zeit ist es wichtig, Verantwortung zu übernehmen und selber über anstehende Fragen und die wichtigen Dinge des Lebens nachzudenken.“ (WELT.de)

Und woher die Unfähigkeit zum Denken, Herr Professor?

„Ich denke, es ist eher eine Frage der Trägheit. Die gehört wohl irgendwie zur menschlichen Natur. Beim Denken träge und faul zu sein wird in der buddhistischen Lehre als Ursünde bezeichnet. Ich schätze, dass nur rund zehn Prozent der Menschen selber denken und ihr Leben in die eigene Hand nehmen. Und das ist die Chance der Demagogen. Radikale Gruppierungen und einzelne Politiker können zunehmend völlig faktenfrei argumentieren und dennoch Anhänger gewinnen. Das Schlagwort von der postfaktischen Zeit macht längst die Runde. Wer jedoch aus Bequemlichkeit keinen Wert mehr auf Fakten legt, der geht in eine gefährliche Zukunft. Wir brauchen eine Renaissance der Aufklärung – eine Aufklärung im Sinne Immanuel Kants.“

Wurde das Abendland von Buddha geprägt? Warum zitiert Pöppel nicht Paulus, der die Weisheit der Welt – das Denken der Heiden – als Torheit vor Gott diffamiert? Ist es möglich, dass dem Gehirnforscher die kantischen Tugenden „Mut und Entschließung“ fehlen, um die abendländischen Traditionen zu entzaubern?

Über das ferngelenkte Pauken in den Schulen, den Druck der Eltern zu angepasster Devotheit, scheint der Gehirnforscher nichts zu wissen:

„Nach meiner Einschätzung sind sehr viele der Erstsemester gar nicht studierfähig. Es ist extrem frustrierend zu sehen, was da alles an grundlegendem Wissen fehlt. Eigentlich müssten sich da die Hochschullehrer auf die zehn Prozent Besten konzentrieren.“

Bei solcher Professorenarroganz muss den Studenten jede Lust am Lernen vergehen. Wissenseliten sind unfähig, sich „herabzulassen“ auf die Ebene der Studienanfänger. Mäeutische Dialogfähigkeiten darf man von Genies nicht fordern, die von Krethi und Blödi gar nicht verstanden werden wollen.

Das ist obrigkeitliche „Geistesaristokratie“ à la Max Weber, der von Demokratie im Hörsaal nichts wissen wollte. Wie kompetent Schüler und Studenten sein können, wenn sie ihre politische und intellektuelle Selbstbestimmung wahrhaben, könnte man freitags allerorten miterleben, wenn man es nur wollte.

Die Unfähigkeit wissenschaftlicher Lehrkräfte, die Neugierde und den Denkhunger der Jugend zu entdecken, hängt natürlich nicht zusammen mit dem desolaten Zustand der Wissenschaften im Allgemeinen und Besonderen. Sie sind abhängig von Militär und Wirtschaft, dürfen ihre Erkenntnisse nicht mehr der Öffentlichkeit vermitteln, weil aus Machtgründen alles geheim bleiben muss.

In einem der intelligentesten Völker der Weltgeschichte gab es weder Schulzwang noch staatliche Philosophenschulen, deren Besuch zum „Aufstieg“ berechtigt hätte. Im Gegenteil: viele Denker waren schärfste Kritiker der Karrieristen und Machteliten. Könnte man sich vorstellen, dass der amerikanische Präsident zu Noam Chomsky ginge, um sich von ihm belehren zu lassen, wie einst Alexander zu Diogenes in der Tonne, der ihm in frecher Unbefangenheit zu verstehen gab: geh mir aus der Sonne?

Wie liederlich man mit Schülern umgeht, beweist ein SPIEGEL-Interview mit einem Experten, dem die Frage gestellt wurde: Waren die Abitur-Aufgaben zu schwer? Wie kann ein Fremder beurteilen, ob ein anderer eine Aufgabe als zu schwer empfindet? Das sind subjektive Einschätzungen, die von anderen nicht „widerlegt“ werden können.

„Alle Fakten, die Schüler für die Lösung brauchen, waren präzise dargestellt, der Text war verständlich formuliert. Auch der Inhalt war nicht sonderlich komplex: Es ging um Gewinnerwartungen der Betreiberin einer Losbude. Die Aufgabe lässt sich mit elementaren stochastischen Mitteln gut lösen. Die Schüler müssen zum Beispiel wissen, was ein Erwartungswert ist, und eine Nullhypothese aufstellen. Das ist Grundwissen und absolut lehrplankonform.“ (SPIEGEL.de)

Das ist Parteinahme für die Schulbehörden. Möglich, dass äußerlich alles nach Lehrplan ging – aber wie war der individuelle Unterricht der Lehrer? Hatten sie die Fähigkeit, das für sie Selbstverständliche ihren SchülerInnen so zu vermitteln, dass es bei ihnen ankam? Haben sie sich vergewissert, dass sie verstanden wurden? Haben sie mit jedem Einzelnen gesprochen oder ging ihr Vortrag über viele hinweg?

Wenn jemand behauptet, er fühle sich überfordert und ein anderer sagt: nö, kann nicht sein, verurteilt letzterer den Ehrlichen zum Simulanten. Hier sieht man in aller Deutlichkeit das emotionale Dauer-Misstrauen in einer deutschen Klasse, den Kampf zwischen denen, die ihren Abhängigen einbläuen wollen, sie besser zu kennen als sie sich selbst  und denen, die sich nicht trauen, ihre wahre Befindlichkeit mitzuteilen. Die einen trauen sich, ihre Überforderung zu gestehen, den anderen fällt nichts dazu ein, als von Oben draufzuknüppeln.

Jetzt sind die Jugendlichen mutig geworden, um ehrlich über sich zu reden – und schon stehen Experten bereit, die ihnen mitteilen, dass sie unfähig seien, in ihrem eigenen Namen zu sprechen. So wird die Jugend ent-mündigt. In ihren eigenen Angelegenheiten kann sie nicht mitreden.

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, heißt auch: habe Mut, arroganten Autoritäten zu widersprechen.

Warum regrediert die Menschheit? Weil sie von kurzsichtigen Machteliten daran gehindert wird, zur globalen Humanität voranzuschreiten. Da jene Großsprecher am besten zu wissen glauben, was ihre Völker bewegt, haben diese lange gebraucht, um sich von dieser Bevormundung zu befreien und ihre Emotionen auf der Straße zu zeigen. Die Völker begehren auf, um sich angestaute Gefühle der Wut und Empörung von der Seele zu schreien.

Allzu lange verharrten die Völker im Zustand unterwürfiger Inkompetenz. Nun wagen sie es, ihre Gedanken und Gefühle zu äußern, ohne sich von Oben zensieren zu lassen.

Der Kopf versteht am schnellsten und eilt den Gefühlen voraus. Also muss er regredieren, um sich mit den hinterher hinkenden Gefühlen zu verbinden. Das kann man Regression nennen. In Wirklichkeit ist es ein Vorzug, wenn der Mensch keine Rolle mehr spielen muss.

Steht Regression im Dienste des „Erkenne dich selbst“, ist Rückschritt ein Fortschritt in Aufrichtigkeit. Lernen der Humanität ohne Aufrichtigkeit ist – zum Scheitern verurteilt.

 

Fortsetzung folgt.