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Von vorne XI

Von vorne XI,

was wäre, wenn Amerika sich aus der NATO zurückzöge? Dann schlüge die Stunde der Kanzlerin:

Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen„, hatte die Kanzlerin vor zwei Jahren in einem bayerischen Bierzelt gefordert und damit eine Diskussion angestoßen, die seitdem nicht verstummt ist. „Strategische Autonomie“ ist das neue Schlagwort der Europapolitik, die EU hat es zum offiziellen Ziel ihrer Verteidigungspolitik erklärt.“ (SPIEGEL.de)

Globale Wirtschaft, „Freihandel“ genannt, kennt keine Autonomie. Da muss jeder von jedem abhängig sein, die Großen selbstverständlich auf Kosten der Kleinen, doch irgendwie klingt alles gleichberechtigt und fair.

Globale Feindschaft, die endlich für klare Verhältnisse sorgt und den altmodischen Frieden hinter sich lässt, kennt keine Autonomie. Entweder schützt der Große Bruder, doch wenn der keine Lust mehr hat, muss man sich selber schützen. Das kostet. Brexit-England und Frankreich müssen die entstehende Atomlücke mit eigenen Beständen ausgleichen. Deutschland sackt ab, inzwischen auch wirtschaftlich.

Worüber man alternativlos nachdenkt, gar Planspiele anstellt: das will man selbsterfüllend herstellen. Planspiele über eine Weltfriedensordnung sind spurlos verschwunden. Planspiele über Kriege tun, als seien sie neutral und apolitisch:

„Uns geht es nicht um Visionen“, sagt der IISS-Militärexperte Bastian Giegerich, „uns geht es um Fakten.“

Militärexperten und Medien müssten sich prächtig verstehen, denn beiden geht es nicht um Meinungen und Willensbekundungen, sondern um unbefleckte Fakten.

„Es fehlt an U-Booten, Flugzeugträgern, an Flugzeugen zur U-Boot-Bekämpfung. Um dieses Defizit zu beseitigen, müssten die Europäer nach den Berechnungen des IISS zwischen 94 Milliarden und 110 Milliarden Dollar investieren. Die Kosten für

Materialerhalt, Training und Personal kämen noch dazu.“

Die Welt kann es sich nicht erlauben, die Naturzerstörung zu beenden: zu teuer. Die Welt aber kann es sich erlauben, teure Waffen anzuschaffen und bedenkenlos mit der Zerstörung der Natur fortzufahren.

Milchmädchenrechnung: da Erhaltung der Natur und der Menschheit zu teuer ist, sollte man es sich was kosten lassen, beide hopsgehen zu lassen.

Kriegsspiele sollen keine Visionen sein, sagen die nüchternen Militärstrategen. Friedliche Visionen hingegen sind Träume von Hans-guck-in-die-Luft-Guckern. Moment, Kriegsvisionen sind auch Träume: Alpträume. Der Volksmund nennt sie Apokalypsen. Militärexperten können das nicht wissen.

„Es geht nicht darum nachzuweisen, dass die Europäer strukturell unfähig wären, sich selbst zu verteidigen“, schreiben die Londoner Forscher in ihrer Studie. Das militärische Defizit sei lösbar, „allerdings nur in einem Zeitraum von ein bis zwei Jahrzehnten“. 

Natürlich geht es nicht darum, die Europäer zum Waffengang zu entmutigen. Das wäre ja unverantwortlich meta-faktisch und parteiisch. Es geht darum, endlich Probleme zu lösen. Jawoll, die Lösung von Problemen ist machbar, Herr Nachbar. Auf Kosten der Selbstausrottung? Na und? Gelöst ist gelöst.

Friedliche Probleme sind unlösbar: zu komplex. Komplexe und sündhaft teure Waffen hingegen sind einfach zu bedienen: auf den Knopf drücken – und schon brennt‘s in der Welt. Das ist keine Träumerei, das ist Effektivität, du Fortschrittsfeind.

Fortschritt und Freiheit gehören zusammen, behauptet die WELT. Wirtschaftlicher oder humaner Fortschritt? Ach, ist doch dasselbe:

„Diesem Versuch, die historische Uhr zurückzudrehen, müssen die demokratiebewussten Kräfte in Politik und Gesellschaft ein unzweideutiges Bekenntnis zu Freiheit und Fortschritt entgegensetzen und klare Konzepte zu ihrer Verteidigung entwickeln. Sonst kommt der Bundesrepublik ihr Wertekompass abhanden.“ (WELT.de)

Freiheit war das Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung – ohne jeden technischen Fortschritt. Inzwischen wurden technischer und humaner Fortschritt zusammengelegt, aber so, dass letzterer überflüssig wurde. Nun gibt es nur noch technischen Fortschritt, der jeden humanen zertrümmert: das ist wahrer Fortschritt.

Parteien und Medien sind technische Fortschrittsbewunderer (jedes neue Smartphone eine Sensation), aber Gegner des moralischen Fortschritts. Wir brauchen keine besseren Menschen, sondern eine bessere Politik – so Grünen-Vorsitzender Habeck. Das ist augustinische Menschenverachtung und theologische Obrigkeitsverklärung. Im irdischen Teufelsreich gibt es nur lernunfähige Sündenkrüppel, wahre Politik wird von Obertanen gemeistert.

Im Mittelalter waren es Priester, die zwischen Himmel und Menschen vermittelten. Einen direkten Draht nach Oben hätten die Verdammten dieser Erde nicht verkraftet. Heute sind es die Medien, die den Klerus abgelöst haben. Was Obrigkeiten zu vermelden haben, verkraftet der Pöbel nicht. Die Vermittler müssen filtern, erklären und ad usum delphini (für begriffsstutzige Untertanen) präparieren:

„Die AfD wollte ihre Inhalte ungefiltert an den Mann bringen, sich eine eigene Öffentlichkeit schaffen – ohne kritische Nachfragen der Presse. Die Idee, selbst die Deutungshoheit über das politische Geschehen zu haben, unabhängig zu sein von Presse und Rundfunk – sie scheint auch für andere Parteien attraktiv zu sein.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Deutungshoheit darf es für niemanden geben. Wer etwas zu sagen hat, soll es direkt sagen, sodass sich jeder seine Meinung bilden kann. Ohne Vorkauen und volkspädagogisches Zubereiten, das die Unteren ent-mündigt.

Stand da wirklich, die Presse würde „kritisch nachfragen“? Wie können sie kritisch sein und der Wahrheit die Ehre geben, wenn sie sich weder mit einer guten noch mit einer schlechten Sache gemein machen? Sie zitieren kritische Fragen. Selbst dürfen sie keine Position vertreten. Das wissen beide Seiten und spielen Pingpong miteinander. Wenn jede Seite die Floskeln der anderen auswendig kennt, ist gut interviewen.

„Ich bin Optimist“, erklärte Weltökonom Straubhaar in einem philosophischen Gespräch (3-Sat). Wie das? „Ich bin Ökonom, Ökonomie ist die Kunst der Knappheit. Nicht die Jugend wird die Welt retten, sondern die kreative Wirtschaft.“

Wieder ist quantitativer Fortschritt – hier mit Mitteln des Reichtums – identisch mit fortschreitender Humanität. Die Anmaßung, sich die Überfülle der Welt unter den Nagel zu reißen, wird als Fähigkeit definiert, aus Wenigem Viel oder aus Nichts Alles zu machen. Vertraut dem Fortschritt – und alles andere wird euch zugetan.

Irgendetwas an dieser kühnen Behauptung muss falsch sein. Schwimmt die Welt – pardon, das EINPROZENT – nicht in unermesslichem Reichtum, während die globalen Probleme gen Himmel schießen?

Quantitativer Fortschritt ist Fortschritt in Macht, sei es wirtschaftlicher oder technischer Art. Jeff Bezos, Reichster der Welt, will auf den Mond, um dort zu bleiben: prima Idee, um die ehrenwerte Gattung derer, die nie den Hals voll kriegen, für immer loszuwerden.

Da die Natur schon bis auf die Knochen abgenagt ist, wollen Amerika und Luxemburg – ein reizendes Paar – gemeinsam die Bodenschätze im Weltall ausbeuten. In diesem Zusammenhang wäre es auch sinnvoll, auf die immensen Gefahren des Schwarzen Lochs hinzuweisen, um die deutsche Sucht nach schwarzen Löchern zu dämpfen.

Europa nagt nicht am Hungertuch – und dennoch will sich der Eindruck des rasenden Fortschritts nicht einstellen. Könnte es sich etwa ums exakte Gegenteil handeln?

„Man spricht von einer Invasion, von einem biblischen Exodus nach Europa. Dabei reicht es aus, einen Blick auf die Zahlen zu werfen: Von den 60 Millionen Flüchtlingen in der Welt hat eine Million bisher die Länder der Europäischen Union erreicht. Das sind nur 1,2 Prozent der EU-Bevölkerung. Die meisten syrischen Flüchtlinge leben heute im Libanon, in Jordanien und in der Türkei. Es gab keine Invasion, wir sind nicht umzingelt, wir sprechen von Flüchtlingskrise, um nicht sagen zu müssen, dass wir es mit einer humanitären Krise von epochalen Dimensionen zu tun haben. Und um nicht zu sagen, dass Europa an der größten Herausforderung seit seiner Gründung kläglich scheitert.“ (WELT.de)

Die deutsche Bootsbauerin Zoe „rettete Hunderte Menschen. Insgesamt barg die „Iuventa“ nach eigenen Angaben 14.000 Menschen aus dem Mittelmeer. Für Zoe und die neun anderen Beschuldigten steht viel auf dem Spiel. Es geht um 20 Jahre Haft und hohe Geldstrafen. Auch gegen andere NGOs wie „Save the Children“ und „Ärzte ohne Grenze“ laufen inzwischen Ermittlungsverfahren. Retten tut derzeit fast niemand. Seitdem die „Iuventa“ festgesetzt wurde, sind schätzungsweise fast 3000 Menschen auf dem Mittelmeer ertrunken.“ (bento.de)

Müsste eine Lebensretterin für ihren vorbildlichen Einsatz in den Knast wandern, wäre Europa mit seinen Werten am Ende. Und dies unter den Augen einer Kanzlerin, die mit einer einzigen Alibitat in die Geschichtsbücher drängt. Nun geschieht das Gegenteil – keine Angela ist da.

Auch im Europa-Wahlkampf ist die Kanzlerin abgetaucht. Da ein schlechtes Ergebnis für ihre Partei erwartet wird, will sie wegen Abwesenheit nicht dafür haftbar gemacht werden.

Die Medien beklagen die voraussichtlich niedere Beteiligungsquote der Deutschen an der Wahl. Ja, sind denn EU-Belange durch die Medien vermittelt worden? Jahrelang werden europäische Inhalte am Rande serviert. Prominente Europäer wie Timmermanns – oder europäische Journalisten – sind in deutschen Talkshows nicht zu entdecken. Der deutsche Sauerteig gärt am liebsten selbstreferentiell. Früher nannten sie es nationalistisch oder völkisch. Kurz vor der Wahl ballern die Spiel&Spaß-Kanäle ihr Publikum mit Europa zu. Einen Tag nach der Wahl ist das Thema wieder vergessen.

Europa kann stolz sein auf seine friedliche Völkervereinigung. Doch je mehr sein einstiger Patron auf Abwege kommt, je mehr gerät das Abendland in Gefahr. Es hat nicht den Mut, seine Vorbildlichkeit gegen die besten Freunde von einst – Amerika und Israel – in Worten und Werken zu verteidigen. Kaum wendet sich Amerika ab und demontiert seine bisherige Leitfunktion, sind die Kinderlein in Gefahr, ihrem eigenen Kurs untreu zu werden.

Israel trumpft jeden Tag aggressiver auf mit seiner menschenrechtsverletzenden Gewaltpolitik – und Europa schweigt. In einer Talkshow moniert eine Israelin „die Menschenrechtsverletzungen oder das aggressive iranische Verhalten“, das von Europa schweigend hingenommen werden würde. Kein Wort der anderen Teilnehmer zu den Menschenrechtsverletzungen Israels. (SPIEGEL.de)

Kritik an Israel wurde inzwischen vollständig mit Antisemitismus synthetisiert. Die Floskel ist nicht mehr zu hören, Kritik am heiligen Land sei ja möglich, nur bitte so, dass man sie nicht ernst nehmen muss. Wenn andere sündigen, darf man auch zuschlagen. Israel, das in seinen zionistischen Anfängen ein musterhaft moralischer Staat werden wollte, hat sich in einen Machtstaat verwandelt. Wer Macht hat, hat recht.

Innerisraelische Kritiker an diesem Kurs werden hier verschwiegen. Netanjahus Bewunderer wie der deutsche Historiker Michael Wolffsohn rühmen dessen Kurs der Völkerrechtverachtung und stellen der ambivalenten deutschen Politik, schwankend zwischen schlaffer Friedfertigkeit und halbherziger Aufrüstung, ein vernichtendes Zeugnis aus:

„Es mag uns in Deutschland und Europa nicht gefallen, aber die Israelis sind mit „Bibis“ Leistungen nicht unzufrieden. Journalisten haben nicht wahrgenommen, dass eine strukturell kontinuierlich wachsende Mehrheit der Israelis zunehmend nationalistisch und religiös eingestellt ist. Das mag gefallen oder nicht. So ist es, und das bedeutet dort: Israel muss ein Jüdischer Staat bleiben. „Rechts“ bedeutet auch: Israels Sicherheitspolitik muss aktivistisch, also hart und konsequent sein. Null-Risiko. Besser kleine, harte Schläge als ein großer Krieg. In Deutschland ist die erste Gedankenverbindung beim Wort „rechts“ immer noch: Nazi oder Fast-Nazi, also ganz schlimm. Selbst CDU und CSU zittern vor diesem Etikett. In Israel bedeutet „rechts“: Protest gegen die alten, überwiegend euro-amerikanischen Oberschichten und deren wohlhabenden Nachfahren in städtischen Nobelvierteln oder Kibbutzim.“ (BILD.de)

Vom selben Autor ist in der WELT zu lesen:

„Trump hat gewonnen, auch Netanjahu. EU und Deutschland haben verloren. Dass ausgerechnet unser wirklich neues Deutschland an jene fatalen Dummheiten aus moralisch durchaus ehrenwerten, doch völlig naiven Gründen anknüpft, stellt der deutschen und europäischen Politik kein gutes Zeugnis aus. Zensur: ungenügend.“ (WELT.de)

Ähnliche Sätze könnte man en masse aus dem biblizistischen amerikanischen Lager zitieren. Amerika & Israel, ein Herz und eine Seele, haben alle Brücken zur UN-Menschenrechtscharta als oberste poltische Devise abgebrochen. Ein Paradigmenwechsel, der verheerende Folgen haben kann.

Die Lehre aus dem Holocaust als unbeugsame Politik der Menschenrechte ist damit gescheitert. Es ist ein historischer Rückfall in Catch as catch can. Deutschland macht sich durch unaufrichtiges Schweigen an diesem Kurs mitschuldig. Über diesen Punkt gibt es hierzulande nicht den Ansatz einer tabulosen Debatte. Loyalität zu Israel wird zur bedingungslosen Farce. Niemand will sich die Finger verbrennen, niemand als Antisemit diffamiert werden. Israels Kritiker an Netanjahus Kurs bleiben ohne Unterstützung.

Deutschlands Politik ist in vielem bigott. Doch hier schlägt Heuchelei um in verkappten Antisemitismus. Wer wortlos zusieht, wie Israel sein humanes Gründerethos verrät, sodass viele Juden Angst haben vor dem Untergang ihres lange erträumten neuen Staates, der kann kein Freund von ihnen sein. Die Täter, die niemals mehr schuldig sein wollten an ihren Opfern, vergehen sich zum zweiten Mal an dem Volk, vor dessen Überlegenheit sie so lange Neid und Furcht empfanden. Die deutsch-jüdischen Beziehungen müssen von vorne aufgerollt und durchgearbeitet werden.

„An die Stelle der jüdischen Ohnmacht ist die jüdische Macht getreten. Der Wandel des Selbstverständnisses hat mit dieser rasanten Veränderung nicht Schritt gehalten. Wie kann die Demokratie in Israel bewahrt werden, einem Land, das seit 45 Jahren (das sind zwei Drittel seiner bisherigen Existenz) das Westjordanland besetzt hält und dort die demokratischen Regeln nicht gelten lässt? Da wir Juden kaum über unsere neue Macht sprechen, wird uns nicht bewusst, dass diese Macht auch missbraucht werden kann. Stattdessen reden wir uns ein, wir seien die Opfer der Geschichte, die eigentlich nur eine Pflicht haben: das Überleben ihres Volkes zu sichern.“ (Peter Beinhart, Die amerikanischen Juden und Israel)

Amerika und Israel gehören zu den technisch fortgeschrittensten und kapitalistischsten Ländern der Welt. Identisch mit moralischer Vorbildlichkeit?

Auch die Deutschen, nach dem Kriege willige Schüler ihrer Befreier in allen demokratischen und menschenrechtlichen Aspekten, haben eine Kehrtwende vollbracht. Moral ist Old School.

Als gute Hegelianer müssen sie mit dem Weltgeist konform gehen. Das moralische Geseire wird uns noch um all unsere wirtschaftliche Überlegenheit bringen, so krakeelen vor allem BILD &WELT. Die Döpfners und Reichelts gefallen sich in einem Philosemitismus, der sich bei näherem Hinsehen als hinterlistiger Antisemitismus entlarvt. Gegen die existentiellen Sorgen und Ängste israelkritischer Juden sind sie taub und stumm.

Der deutsche Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe, einst links außen, hat ein glühendes Bewunderungsbuch über den Kapitalismus geschrieben. Eine typisch deutsche Biografie. In jungen Jahren edel, hilfreich und gut, im Alter zynisch und machiavellistisch. Ein Werdegang, den sie Wandel zum Realismus nennen. Da der Kapitalismus in Deutschland inzwischen zu bröckeln beginnt, wandert der bewundernde Blick des ehedem Linken  wohin? Ins autoritäre China, dem Traumland marxistischer Jugend.

Plumpe lobt China für seine umsichtige Wirtschaftspolitik. Ein wesentlicher Grund für den Erfolg sei „die starke Stellung der staatlichen Autoritäten“. Hier ändert sich sein Blick auf den Staat. Die Parteiherrschaft kommt besser weg als Regierungen des Westens; es sei denn, diese haben dereguliert wie Margaret Thatcher in den Achtzigerjahren in Großbritannien. Plumpe erwartet wenig mehr von der Politik, als dass sie die Steuern niedrig hält und das Privateigentum sichert.“ (SPIEGEL.de)

Was aber ist für Plumpe das auszeichnende Moment des Kapitalismus?

Vor allem bei der Selektion schlägt das kalte Herz des Kapitalismus. Das „Beste“ hat für Plumpe keine moralische, ethische, soziale oder ökologische Dimension. Es gehe nicht um gute oder schlechte, schöne oder hässliche Waren, sinnvolle oder blödsinnige Angebote, es gehe nur darum, was sich über den Preis am Markt durchsetze.“

Das ist Totalrasur. Sowohl kapitalistisch als Bewunderung amoralischen Reichwerdens wie sozialistisch als Negierung aller autonomen Moral. Utopisten waren für Engels und Marx jene Moralisten, die sich „die Elemente einer neuen Gesellschaft selbst aus dem Kopf konstruierten“, die an die „Vernunft appellierten, weil sie eben noch nicht an die gleichzeitige Geschichte appellieren konnten.“ Ein Utopist habe ein „anderes Ideal, nämlich aus einem abstrakten Begriff, nicht aus der Geschichte selbst abgeleitetes Ideal“. (Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie)

Wenn das amoralische Sein das moralische Bewusstsein bestimmt, muss der Linke dem Sein folgen und seinem Bewusstsein eine Nase drehen. Kant kommt unter die Guillotine. Diese Vernichtung demokratischer Autonomie genießt hier immer noch religiöse Anerkennung. Selbst Neoliberale pflegen Marx zu zitieren, um ihrer nationalen Pietät nachzukommen.

An diesem Punkt werden Sozialisten und Kapitalisten identisch. Nun wissen wir, warum die aus dem Sozialismus stammende Pastorentochter keinerlei Probleme hatte, den Gesetzen des westlichen Kapitalismus zu folgen. Im Wesentlichen fallen Marx und Hayek zusammen.

Plumpe betrachtet die Geschichte des Kapitalismus als Darwin‘sche Evolution. Die Selektion vor allem hat es ihm angetan. Für ihn heißt Selektion: „Die besten Versuche müssen Erfolg haben können.“

Unsinn. Selektion heißt Auslese, die Tüchtigsten gewinnen, die Anderen gehen zugrunde. Das deckt sich nicht mit dem, was Plumpe Variation nennt: „Den Leuten muss erlaubt sein, mit ihrem Kapital und ihren Fähigkeiten etwas auszuprobieren, zu suchen, zu versuchen, zu scheitern, neu zu suchen.“ In der Evolution gibt es keine zweite Chance. Dinosaurier auferstehen nur als Spielfiguren in Kinderzimmern.

Der deutsche Professor outet sich als wirrer Darwinist. Wirtschaft ist für ihn Siegen und Unterliegen, Überleben und Untergehen. Der globale Freihandel ist somit keine Beglückung aller Völker, schon gar nicht aller Klassen. Wenige profitieren, die Mehrheiten krepieren.

Versteht sich, dass der ökologische Gesichtspunkt für Plumpe nicht existiert. Kapitalismus, Beglücker der Menschheit – zugleich ihr Totengräber? Nicht für einen ehemaligen Marxisten, der im Kapitalismus denselben fortschrittlichen Amoralismus fand, den er im Sozialismus schätzte.

„Die objektiven fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewusstsein selbst machen. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.“ (Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft)

Marx, der die Religion überwinden wollte, verwandelte sie lediglich in eine ökonomisch aufgeputzte Heilsgeschichte. Das Reich der Notwendigkeit ist die civitas terrena, das Reich der Freiheit die lange verborgene civitas dei, die sich eines Tages ent-äußern und siegen wird. Die Menschen werden erst am St. Nimmerleinstag frei, wo es keinen Feind mehr gibt, den sie mit selbstbestimmter Moral überwinden müssten. Im Paradies kann jeder den Teufel besiegen – der längst begraben ist.

Auf Deutschland kommen schwere Zeiten zu. Es sieht so aus, als ob das Land von VW und Mercedes unter die Räder der Konkurrenten kommt, die über das saturierte Land hinwegbrettern:

„Amerika und China erobern die Welt. Deutschland frickelt rum. Und selbst das nicht mehr so erfolgreich wie früher. Lange war Deutschland bei Patenten weltweit unter den Top drei, heute reichen chinesische Unternehmen siebenmal so viele Patente ein wie deutsche. Bei Patenten zur künstlichen Intelligenz haben chinesische Firmen die deutsche Industrie weit hinter sich gelassen.“ (SPIEGEL.de)

Was sind die Ursachen des Niedergangs, der besonders in China und Amerika mit Genugtuung konstatiert wird? Für deutsche Medien gilt noch immer: was amerikanische Kollegen behaupten, ist das Evangelium:

„Wir Deutschen sind längst nicht mehr so gut, wie wir glauben, das deutsche Modell ist so nicht zukunftsfähig. Offen reden darüber die wenigsten, vor allem nicht die Manager der börsennotierten Konzerne, aber die Stimmung ist überall zu spüren: angespannte Nervosität, Sorge, nur selten Optimismus. Das US-Wirtschaftsmagazin „Bloomberg Businessweek“ widmete Deutschland vor wenigen Wochen eine deprimierende Titelgeschichte. Der deutsche „Nachkriegswohlstand droht zu enden, und niemand scheint vorbereitet, etwas dagegen zu tun“, schrieb das Magazin. Die Atmosphäre im Land fühle sich an „wie die letzten Tage einer Ära“. Und der Ökonom Ashoka Mody von der amerikanischen Elite-Universität Princeton, zuvor lange Europa-Direktor beim IWF, prophezeit der Wirtschaftsnation Deutschland den Abstieg in die zweite Liga.“

Es geht nur um die Spitzenplätze der Großen. Was aus den Kleinen wird, bestimmt Darwin: die Letzten beißen die Hunde. Das also ist des Pudels Kern des menschheitsbeglückenden Globalhandels. Dass eine grenzenlose Weltwirtschaft zudem die Natur ruiniert: kein Wörtchen im ganzen Artikel. Im Reich der Ökonomie schweige die Ökologie.

Und wer ist nun schuld am deutschen Untergang? Nach Marx & Hayek können es Menschen nicht sein. Denn im Reich der Darwin‘schen Heils- und Unheilsgeschichte haben sie kein Mitspracherecht. Der rationale homo oeconomicus wird zum Opfer der Geschichte, die ihm kalt den Garaus macht.

Doch halt, wenn … wenn diese Heilsgeschichten nichts als Erfindungen der Menschen wären, um vom eigenen Versagen abzulenken? Wenn es die Menschen selbst wären, die sich als Zauberlehrlinge aufführten und am Ende um Gnade winselten: Besen, Besen, bist gewesen?

Dabei ist es offensichtlich, dass die Deutschen vor Selbstgefälligkeit nicht mehr aus den Augen schauen können. Ihre Sprache haben sie versaut, die Logik in den Wind geschlagen, eins und eins ist für sie knapp drei, Begriffe werden nicht definiert, Wahrheit gibt es keine, Streiten können sie nicht, ihr ewiger Kompromiss hat das Denken vertrieben, ihre Rhetorik das Argumentieren getötet, Ursachenforschung ist flöten gegangen, Zurückblicken ist verboten, Vergangenheit wird verdrängt, die Gegenwart bleibt ein Rätsel, Zukunft flimmert utopisch bis ins Universum, obgleich jede Utopie verboten ist. Schicksalhaft kommen technische Visionen über uns, ob wir wollen oder nicht. Moralische Zielsetzungen sind das Letzte.

Dann wundern sie sich, dass sie keinen BER zustande bringen und eine Kanzlerin benötigen, die sie mit Eiapopeia in den Dämmerschlaf singt.

Eia popeia, was raschelt im Stroh,
Die Fortschrittsfeinde geh‘n barfuß,
Und haben keine Schuh.

Eia popeia, schlag die Ökologen tot,
Sie legen keine Eier,
Und fressen mein Brot.

 

Fortsetzung folgt.