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Von vorne IX

Von vorne IX,

würde die Menschheit ihre seit unendlichen Zeiten erlittenen Demütigungen und Schmerzen in einen einzigen geballten Schrei verwandeln, wäre das Leben der Gattung gefährdet. Das Universum würde beben vom Widerhall des Unerträglichen. Es wäre grauenvoller als die Klage des Frommen, als er entdeckte, dass kein Gott sei. Der Lärm wäre so unermesslich, dass er umschlüge ins stumme Nichts des Weltalls:

Da kreischten die Mißtöne heftiger – die zitternden Tempelmauern rückten auseinander – und der Tempel und die Kinder sanken unter – und die ganze Erde und die Sonne sanken nach – und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermeßlichkeit vor uns vorbei. „Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!« Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Kennt ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? – Zufall, weißt du selber, wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber schreitest und eine Sonne um die andere auswehest, und wenn der funkelnde Tau der Gestirne ausblinkt, indem du vorübergehest? – Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alles! Ich bin nur neben mir – O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche Brust, daß ich an ihr ruhe? – Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein?…“ (Jean Paul, Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei)

Menschen wollen ihre eigenen Schöpfer sein und sind dabei, sich in ihre Würgeengel zu verwandeln. Wer glaubt, die Welt erschaffen zu haben, hält sich für berechtigt, die Welt hinter sich zu liquidieren.

Erlöser bringen das Schreien der gepeinigten Welt durch ihr göttliches Wort zum Verstummen. Der Jubel der Erlösten soll das Schreien der gequälten Natur für

immer ersticken.

„Wenn diese schweigen, werden die Steine schreien.“

Erlösen heißt, die Schmerzensschreie der gequälten Kreatur in Jubel verfälschen.

„Und sie schrien mit lauter Stimme: Wie lange, heiliger und wahrhaftiger Herr, richtest du nicht und rächst unser Blut nicht an denen, die auf Erden wohnen?“

Der siebente Tag war Ruhetag des Herrn. Die Verfluchten werden keine Ruhe finden:

„Und der Rauch ihrer Qual wird aufsteigen von Ewigkeit zu Ewigkeit; und sie haben keine Ruhe Tag und Nacht.“

Die Erlösten aber werden alle irdischen Mühen abschütteln und in die ewige Ruhe eingehen:

„Denn wer in seine Ruhe eingegangen ist, ruht auch von selbst von seinen Werken wie Gott von den seinigen. So wollen wir uns nun eifrig bemühen, in jene Ruhe einzugehen, damit nicht jemand aus Ungehorsam zu Fall komme.“

Schöpfer und Geschöpf waren beide erschöpft. Für beide war das Leben auf Erden eine Überforderung. Freude, Lust am Dasein, beglückendes Schauen der Natur: das war für die Seinen nicht vorgesehen. Untertan machen, Ausrotten, Berge versetzen, endlose Werke vollbringen, Arbeiten, Verändern, keinen Stein auf dem anderen lassen: das war das Los der Bestraften, die für ihre Bosheiten büßen mussten. Wenn sie die Welt verlassen, hinterlassen sie eine malträtierte, tote Natur.

Und für solche Seins-Vandalen, die wir selbst sind, sollen wir Mitleid und Empathie aufbringen? Selbstmitleid ist in der Psychologie der Erdenherrscher nicht vorgesehen. Mitleid mit Erdenschändern, wo doch Zorn und Empörung angemessener wären?

Der Schöpfer ist ein Gott des Zorns und der Rache. Menschen dürfen sich nicht rächen, denn „die Rache ist mein, spricht der Herr.“ Zorn und Rache werden alle treffen, die vor Ihm nicht die Knie beugen:

„Ihr Natterngezücht, wer hat euch gelehrt, dass ihr dem zukünftigen Zorn entrinnen werdet?“

Die Geschichte der Gattung ist eine einzige Abiturprüfung, die niemand bestehen kann. Nur bei seinen Lieblingen guckt der Klassenlehrer durch die Finger. Gerecht? Nur der Klassenlehrer bestimmt, was Gerechtigkeit ist – das, was er selber tut. Sprache ist von Oben geprägt. Definitionen der Menschen sind belanglos, ja, eine Überheblichkeit.

Zu Gottes Gerechtigkeit gehört Erbarmen. Erbarmen ist kein Mitleid, sondern willkürliches Abgehen von einer Norm, die für alle gilt. Gott tritt neben sich selbst und vergisst einen Augenblick, was er sonst verkündigt. Er misst mit zweierlei Maß. Dass sein Sohn stellvertretend die Schuld der Welt trägt und dafür die Strafe büßt, ist ein ent-würdigendes Unternehmen. Jeder autonome Mensch trägt selbst Verantwortung für seine Taten, er lässt sich von niemandem vertreten. Schlechte Taten sind tadelnswert, auf die guten darf er stolz sein. Aus schlechten kann er lernen, um sie in gute zu verwandeln.

Böse Taten, die nicht erklär- und verstehbar wären, gibt es nicht. Was erklärt und verstanden werden kann, kann auch verändert werden. Vater und Sohn degradieren alle Menschen zu logos-unfähigen Wesen. In der Erlöserreligion ist die Würde des Menschen nicht nur antastbar, sie ist gar nicht vorhanden. Weshalb christliche Parteien und Menschenwürde zusammenpassen wie CO2 und Lebensqualität.

Autonome Menschen können sich selbst ernähren, ihre Probleme gemeinsam lösen – wenn sie Vernunft walten lassen. Wundertäter brauchen sie nicht. Gläubige träumen davon, durch gnädigen Zauber ernährt zu werden, wenn Gott seine Verfluchung der Arbeit zurücknimmt.

„Darum sage ich euch: Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr denn Speise? und der Leib mehr denn die Kleidung? Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie? Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie derselben eins. So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr euch tun, o ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden? Nach solchem allem trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr des alles bedürfet. Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen. Darum sorgt nicht für den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“

Kein Sein zur Sorge, keine Vorsorge, kein rationales Planen, keine Verantwortung: das ist die biblische Lieblingsstelle von Wolfgang Thierse, der das Geheimnis der politischen Verantwortungslosigkeit der Berliner Frommen-Regierung verrät:

„Erst später habe ich gelernt, dass dies eine wunderbare Einladung zu einer bestimmten Art von Sorglosigkeit ist, und zwar zur Absage an die Selbstüberforderung – alles selbst leisten zu müssen oder zu können – und die Selbstüberschätzung, dass man auch alles zustande bringt. Für einen Politiker ist das eine wunderbare Einladung.“ (Politikerbibel)

Thierse spricht seiner Kanzlerin aus dem Herzen. Sich ja nicht übernehmen, wenn man weiß, dass die eigentliche Arbeit von Gott geleistet wird. Nur zur Tarnung werkelt der Fromme im Schweiße seines Angesichts, in Wirklichkeit liegt er auf der faulen Haut – und lässt seinen Gott walten. Wo keine Würde ist, gibt es auch keine Mündigkeit. Das Grundgesetz dient als irdisches Pantomimentheater, welches Demokratie vortäuscht, doch eine Theokratie ohne Mitwirkung des Menschen ist.

Warum stolpern die christlichen Demokratien bedenkenlos in jede Fortschrittsfalle? Warum bevorzugen sie die „minderwertige, aber notwendige“ Verantwortungsethik und verschmähen die „tugendhafte, aber unrealistische“ Gesinnungsethik? Warum interessieren sie sich nicht für die langfristigen Folgen ihres Tuns, weshalb sie Nachhaltigkeit zur Farce machten? Weil ihr himmlischer Vater sie zu dieser Hallodri-Haltung autorisiert hat. Nach außen die Fleißigen, nach innen Nichtsnutze. Diese spirituellen Tachinierer kommen daher als umsichtige Eliten – und verurteilen das Volk zu Dummköpfen und Drückebergern.

Steigt einer vom Pöbel auf, um ihnen Konkurrenz zu machen, wird er als Freund des Volkes oder Populist geschmäht. Versprechen sie selbst dem Volk das Blaue vom Himmel – natürlich im Modus irdischer Sorge und Mühe, die jede Utopie als heidnische Vermessenheit verwirft – sind sie die fleißigen und umsichtigen Hirten des Seins. Was auch immer sie tun, auf ihnen liegt der Glanz der Erwählung: das ist meine geliebte Tochter Angela, an der ich mein Wohlgefallen habe.

Gott kennt kein Mitleid mit seinen verkommenen Kreaturen. Seine irdische Brut versteht er nicht, er richtet und verflucht sie, wie noch nie ein Schöpfer seine Marionetten verflucht hat.

„Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer denn kein zweischneidig Schwert, und dringt durch, bis daß es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und keine Kreatur ist vor ihm unsichtbar, es ist aber alles bloß und entdeckt vor seinen Augen.“

Alles nackt, sichtbar und entblößt, so werden bei der Vergewaltigung einer Frau Männerphantasien wahr.

Gott kennt kein Mitleid. Er kennt nur Erbarmen. Erbarmen ist ent-würdigende, ent-mündigende Gnade. Eigentlich hättest du die Guillotine verdient, mein Gutester, aber ich will mal alle Augen zudrücken.

Das hebräische Wort für Barmherzigkeit „bedeutet auch Mutterschoß / Gebärmutter“. (Wiki)

Das führt uns auf die verschüttete Spur der Urbedeutung:

„Der Herr hat sein Volk getröstet und sich seiner Armen erbarmt. […] Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht.“

Geschlechterkampf in Urfacon. Der Mann neidet der Frau die Fähigkeit, ihre Kinder behütet in der Gebärmutter aufwachsen zu lassen – ohne Unterschied von reich und arm, von tüchtig oder träumerisch, intelligent oder begriffsstutzig.

Mütter kennen kein Erbarmen, denn unterschiedslos lieben sie die Früchte ihres Leibes. Kaum machen diese den ersten Atemzug, kommen die Väter und brandmarken sie mit Taufe, Konfirmation, IQ-Tests, Bevorzugung der Knaben und Benachteiligung der Mädchen. Wollen Frauen den Männern ebenbürtig werden, müssen sie werden wie sie: gierig, überheblich, hastig, unfähig zum guten Leben.

Wenn die Menschheit sich anschickt, die Flatter zu machen – sollten wir kein Mitleid mit ihr aufbringen? Keine Empathie, Sympathie, Anteilnahme, kein Einfühlungsvermögen? Ist es nicht ein ungeheurer Verlust für den Planeten, wenn ihr bestes Gewächs, die Krone der Schöpfung, den Bach runter geht?

Während die jungen Generationen auf die Straße gehen, um ihr Recht auf ein gutes Leben einzufordern – wie ist die Reaktion der Alten? Verstehen sie den Zorn und die Ängste ihrer Kinder? Können die Jungen ihrer Sympathie und Empathie sicher sein?

Im Gegenteil. Aus allen Ecken und Enden wird vor Mitgefühl und übermäßiger Empathie gewarnt.

Beginnen wir mit Historiker Münkler, der Mitgefühl im Kampf gegen Terrorismus für kontraproduktiv hält:

„Wir gehen nach Anschlägen heute schnell wieder zur Tagesordnung über, die Opfer verschwinden aus der Erinnerung. Das ist durchaus notwendig, um politisch richtig zu handeln. Der wenig pietätvolle Reaktionsmodus mürrischer Indifferenz verschafft die dafür erforderliche Zeit, indem er von unmittelbarem Reagieren dispensiert.“ (WELT.de)

Kein Verstehen, keine Gefühlsduselei mit Opfern und Tätern aus dem In- und Ausland. Nur der mürrisch-interesselose Kämpfer gegen das Böse ist der coole Anwalt des Guten. Solche Forderungen werden von allen Schlechtmenschen unterschrieben, die sonst den Appell der Moral ablehnen. Innenpolitisch und auf elitärer Ebene ist Koketterie mit der Amoral eine nationale Auszeichnung, außenpolitisch und auf Pöbelebene muss das Böse mit aller Härte bekämpft werden.

Verstehen heißt Verzeihen, Mitfühlen macht schwach. Münkler, Anhänger Machiavellis, will eine effiziente Kriegsführung gegen Hass-Verbrecher und ausländische Feinde.

Im Nichtverstehen und Nichteinfühlen geht Münkler mit gutem Beispiel voran, indem er leugnet, dass der Kampf gegen Terrorismus etwas mit Kultur und Religion zu tun haben kann.

„Sie zeigt, dass die meisten Opfer der islamistischen Anschläge selbst Muslime sind. Das sollte sich vor Augen halten, wer meint, wir hätten es mit einem Kulturkampf oder Glaubenskrieg zu tun.“

Solange Glaubensgenossen angegriffen werden, kann es doch nicht um Glauben gehen, oder? Dem Historiker scheint entgangen, dass Erlöserreligionen sich in zwei Fraktionen gespalten haben. In eine große mit säkularen Moralvorstellungen und in eine kleine fundamentalistische, die am Wortsinn der heiligen Schriften festhält. Die erste Gruppe ist in den Augen der zweiten vom Glauben abgefallen und muss im Namen des Rachegottes bestraft werden.

Kein Deut anders bei Biblizisten, Pietisten und Freikirchen, die den großen Kirchen Abfall vom rechten Glauben vorwerfen. In Amerika und Israel gibt es ähnliche Grabenkämpfe zwischen schriftgläubigen Orthodoxen und liberalen Mitläufern oder historisch-kritischen Schriftdeutern. Der Hass gegen Glaubensbrüder, die nicht am Urtext festhalten, kann größer sein als gegen fremde Andersgläubige, von denen man ohnehin nichts erwartet.

Kein Wörtchen zur Ursachenforschung des Terrorismus. Münkler geht es nur um maschinenmäßige, militante Strategien gegen Feinde. Dass Terroristen den Westen angreifen, weil sie ihm Doppelmoral und Bigotterie vorwerfen: kannitverstan. Deutsche Historiker legten schon immer Wert darauf, Erkenntnisse ihres Fachs nicht für schnöde Gegenwartsprobleme zu nutzen. Das wäre ein Frevel an der „geistesaristokratischen“ Wissenschaft:

„Demokratie, da, wo sie hingehört. Wissenschaftliche Schulung aber, wie wir sie nach der Tradition deutscher Universitäten an diesen betreiben sollen, ist eine geistesaristokratische Angelegenheit, das sollten wir uns nicht verhehlen.“ (Max Weber, Wissenschaft als Beruf)

Dieses szientivische Apartheitsdenken, auch Historismus genannt, beruht auf einer tiefen deutschen Gelehrtenverachtung aller Politik, insbesondere der demokratischen.

Während Historiker sich nicht mit der Gegenwart beflecken, beflecken sich Medien nicht mit der Vergangenheit. Unter Fakten verstehen sie quantitative Ereignisse der Gegenwart. Philosophien und Religionen sind für sie ohne Belang, bei ihrer Spurensuche nach Fakten kommen sie nicht vor. Trotz dieser Unterschiede stimmen Gelehrte und Faktenermittler in einem Punkt überein: beide wollen sich mit Moral und politischem Engagement nicht die Hände schmutzig machen.

Da die Jugendlichen die Straße mit unerhörten Forderungen – „wir wollen leben“ – verunsichern, kann unter ich-schwachen Eltern schnell eine sentimentale Empathie mit den aufrechten Demokraten aufkommen. Dem muss bereits in der Kinderstube vorgebeugt werden. Nicht jedes heulende Kind muss gehätschelt werden.

„Lassen wir es zu, dass sie schreien. Nicht weil es ihre Lungen kräftigt. Sondern schlicht weil sie ihre Stimme finden sollen. Empathie ist ein Schlüsselwort in der modernen Erziehung. Aber auch mit ihr kann man es übertreiben.“ (ZEIT.de)

„Hört ihr die Kinder weinen?“ hieß ein viel beachtetes Buch, um der „Schwarzen Pädagogik“ ein Ende zu bereiten. Weinen heißt leiden, leiden lassen gehört nicht zur Humanität der Menschenrechte, auch Kinder sind Menschen. Kinder durften nicht mehr geschlagen werden, es musste alles für das Wohl des Kindes getan werden.

Erwachsene weinen gelegentlich aus Rührung, zumeist aus bitterem Leid. Wem solche Unterschiede fremd sind, sollte sich als seelisch blind und taub betrachten.

Heulende Kinder sollen heute wieder zur Normalität erklärt werden:

„Seien wir also da für unsere Kinder, wenn sie weinen, aber weinen wir nicht gleich mit. Lassen wir es zu, dass sie schreien. Nicht weil es ihre Lungen kräftigt. Sondern schlicht weil sie ihre Stimme finden sollen.“

Ist Schreien ein Relikt aus der Steinzeit? Leben wir noch in der Steinzeit? Haben wir die Steinzeit nicht schon himmelweit überwunden, dass die Kinder nicht mehr heulen müssen? „Ursprünglich war Kindergeschrei darauf ausgelegt, hilflose Steinzeitbabys vor wilden Tieren zu retten.“

Dass Psychiater dauerschreiende Kinder aus therapeutischen Gründen heulen lassen, löste immerhin einen heftigen Streit aus. Nach kurzer Zeit des Heulens und Klagens, so die Begründung der Befürworter, wären die Kinder gründlich geheilt. Natürlich, wenn Kinder merken, dass niemand für ihr Leiden da ist, werden sie aus Überlebensgründen ihre Notrufe an die Welt einstellen. Eine ihrer ersten Erfahrungen in der Welt wird sein: Ruhe ist die erste Babypflicht. Wer dagegen verstößt, wird mit Selbstschädigung bestraft.

Die gegenwärtige Regression ins Religiöse geht einher mit einer Regression ins Nationalsozialistische. Alles, was abhärtet, war das Erziehungsziel der Schergen. Jeder kennt die Parole: Gelobt sei, was hart macht. „…flink wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“.

Es war die Ärztin Johanna Haarer, die Hitlers Parolen in Erziehungsmaximen verwandelte:

„So warnte sie etwa davor, den Säugling tagsüber ständig aufzunehmen, argumentierte, dass das Stillen zur Ernährung des Kindes eingesetzt werden solle und nicht zu seiner Beruhigung, und riet bei nächtlichem Schreien zu unmodifizierter Entwöhnung, einer Methode, die von der American Academy of Sleep Medicine noch heute als Standardverfahren zur Behandlung verhaltensbedingter kindlicher Schlafstörungen empfohlen wird.“ (Wikipedia)

Unmodifizierte Entwöhnung? „Die Methode besteht darin, das Kind, sobald es ermüdet ist, in wachem Zustand ins Bett zu legen und die Nacht über allein zu lassen; Schreien wird ignoriert, außer wenn das Kind, z. B. durch Erbrechen, offenbar wirklich in Not gerät. Wie klinische Studien vielfach gezeigt haben, ist die Methode hocheffizient und führt, wenn sie sachgerecht angewandt wird, dazu, dass das Kind nach 3–4 Nächten aus eigener Kraft ein- und durchzuschlafen vermag. Volkstümlich nennt man die Methode im englischsprachigen Raum „Cry It Out“ (etwa: „ausschreien lassen“).“ (Wiki)

Das also bedeutet die Wiederkehr der Kinderablehnung: Lasst sie schreien, bis sie versteinert sind. Entweder werden sie zu Helden oder sie gehen zurecht unter.

In der Garde der Empathie-Warner darf der Psychologe nicht fehlen:

„Empathie kann uns parteiisch, ja sogar fanatisch machen. Deshalb warne ich vor zu viel Empathie und plädiere für mehr compassion, also Mitgefühl. In unserem Experiment zeigt sich, dass diese besonders empathischen Probanden wollen, dass der Schuldige zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt wird – und dass er leidet. Solche Rachegefühle, die aus Empathie für die Opfer entstehen, können zu Vergeltungsschlägen verleiten, die niemandem helfen.“ (ZEIT.de)

Verächter von Mitleid und Mitgefühl befinden sich in der hehren Tradition von Übermenschen und Faschisten.

„Mit Recht also stellen wir das Wehklagen von seiten der Männer ab und überlassen es den Weibern. Mitleid ist nicht gegen jeden, der an Hunger oder dergleichen leidet, am Platze.“ (Platon)

Für Nietzsche ist Mitleid Zeichen der Schwäche und des niedergehenden Lebens:

„An seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben.“

Was haben Empathie, ja Sympathie, mit Menschenrechten zu tun? Hätten bestimmte griechische Denker – gegen Platon – kein mitfühlendes Verständnis für Sklaven, Frauen und Fremde entwickelt, wäre es zur Entdeckung der Gleichheit aller Menschen nie gekommen.

Oh doch, es gibt das Phänomen überfließender Affekte, die die Denkkraft behindern. Doch nur, wenn sie lebenslang daran gehindert wurden, sich durch Vernunft durchsäuern zu lassen. Letztendlich ist der Mensch eine Einheit – die er durch Lernen und Reifen mühsam erwerben muss.

Bei glücklichen Kindern und „reinen Seelen“ sind Gefühle durch defekte Erfahrungen nicht beschädigt. Da wir alle durch mehr als 2000 Jahre religiöser Deformation seelisch behindert sind, müssen wir unser Innenleben kathartisch reinigen, um Verstand und Emotionen ins Gleichgewicht zu bringen.

Die griechische Tragödie sollte, nach Aristoteles, das Innenleben des Menschen durch Erregung von Furcht und Mitleid reinigen. Doch die Formel blieb vieldeutig: Reinigen wovon? Von Furcht und Mitleid selbst? Das wäre eine homöopathische Katharsis: Gleiches durch Gleiches. Oder von Furcht, um Mitleid zu empfinden? Oder von Mitleid, um sich vor tragischen Situationen zu fürchten? Eine tragische Situation war eine schuldlos-schuldige. Wie konnte es bei dem scharfen Logiker Aristoteles zu einer derart widersprüchlichen Formel kommen?

Es gibt logische Widersprüche, die sich ausschließen. Es gibt psychische, die sich nicht ausschließen und zur ambivalenten Charakterstruktur führen. Widersprüchliche Gefühle verursachen widersprüchliche Handlungen. Wer mit sich in Einklang kommen will, muss die Ursachen seiner gespaltenen Seele durch Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten minimieren.

Wer heute ins Theater geht, hat keine Chance mehr, kathartisch zurückzukehren. Für das athenische Volk waren Theateraufführungen ein kollektives, tief empfundenes, pädagogisches Mittel, um ihre Entwicklung von der Adelsherrschaft zur Demokratie immer besser zu verstehen.

Aristoteles war überzeugter Demokrat, doch Sklaven und Barbaren waren für ihn keine gleichberechtigten Wesen. Sich in sie einzufühlen und sie als Menschen anzuerkennen, das war ihm verwehrt. Daher seine Unfähigkeit, die Katharsis der Tragödie als emotionale Grundlage zur Anerkennung der Menschenrechte zu betrachten.

Gemeinsame Lernbewegungen der Gefühle und des Verstands gibt es in der Moderne nicht mehr. Bildungsbeflissene sind zu Kulturkonsumenten geworden, die Wert darauf legen, autistische Gedanken und Gefühle zu entwickeln. Ihre Individualität zeigt sich im Genie des Eingeschlossenen und Unüberbrückbaren.

Unsre verdrängten Widersprüche und wirren Gedanken werden wir nicht klären, wenn wir es nicht schaffen, uns besser zu verstehen, miteinander zu streiten, gemeinsam zu leiden und uns miteinander zu freuen. Wenn die Menschheit nicht lernt, an einem Strang zu ziehen, wird sie scheitern.

 

Fortsetzung folgt.