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Von vorne VIII

Von vorne VIII,

doch, Frau Baerbock, wir brauchen philosophische Proseminare. Die Zeit drängt? Eben deshalb.

Ein Schlachtfeld, eine Wüstenei der Begriffe. Die Deutschen schlagen aufeinander ein, als wären sie von Sinnen. Das Gute daran: der Kampfgeist erwacht. Das Verheerende: niemand sagt, wovon er redet.

Noch herrscht autistischer Individualismus: jeder schurigelt die Sprache, als sei sie ein persönliches Eigentum. Solange Sprache nicht kommunistisch, das Eigentum aller, ist, sprechen wir von Postmoderne. Da der Streit um die Wahrheit jetzt beginnt und das Privatistische sich dem Getümmel der Agora stellt, ist das Ende der Postmoderne abzusehen.

Vertreter des Neoliberalismus verwechseln autistischen Individualismus mit dem demokratischen. Unter Autisten sind Porschefahrer signifikant hoch vertreten. Individualismus ist für sie die Umkehrung des völkischen Prinzips: das Volk ist alles, du bist nichts. Ergo: du bist alles, das Volk ist nichts.

Da das Völkische in der jüngsten Geschichte unmenschlich wütete, ist die Reaktionsdefinition verständlich – aber falsch. Das Volk der Völkischen war nicht der demos der Demokratie.

Das Gegenteil des Missbrauchten ist nicht das Wahre. Sprache ist unschuldig, von Menschheitsverbrechern darf sie nicht ewig geschändet bleiben. Die Sprache muss von den Spuren der Unmenschen befreit werden.

Warum wird der Begriff Volksherrschaft gemieden wie die Pest? Weil Volk und völkisch voneinander abhängen. Fürsprecher des Volkes werden unterschiedslos als Populisten diffamiert.

Wer es wagt, die Dinge des Volkes anzusprechen, zu deuten, zu vertreten, wird als gefährlicher Populist bekämpft. Dabei wäre es die Pflicht jedes Demokraten, nicht nur seine eigenen Interessen zu verfolgen, sondern die Vorstellungen des ganzen

Volkes – sofern er sie für richtig hält. Gute Interessen müssen unterstützt, schlechte bekämpft werden.

Hier die Stimme eines autistischen Individualisten, der nicht unterscheiden kann zwischen dem solistischen Ich mit Seligkeitsegoismus und dem gesellschaftlichen Ich der Polis:

„Es ist eine Hinrichtung jenes Ichs, wie es den freien Westen zusammenhält. Die Freiheit des Individuums wird vorsichtig ausradiert. Das Ich und der Egoismus, Gier und (Ehr)Geiz werden als neoliberale Dekadenzerscheinungen gegeißelt. Es geht – endlich – um das Große und Ganze, und einmal mehr fehlt diesem Land eine unbestechliche Neigung zur Mäßigung und Vernunft. Nach dem rechtsradikalen Quark wird der linksradikale Quark aus den vergangenen Jahrhunderten neu serviert.“ (WELT.de)

Die Fähigkeit, Ich zu sagen, war das Ergebnis des ersten Freiheitskampfes in Europa. Erst musste das Ich von der Herrschaft einer oberen Schicht befreit werden und seine eigenen Gedanken und Bedürfnisse entwickeln, damit das Wir der Demokratie Gestalt annehmen konnte. Das demokratische Wir führte nicht zum Untergang des Ichs, sondern zur Kooperation aller Ichs zum Nutzen des ganzen Volkes. Das Individuum wurde zoon politicon.

Hier entstand das Problem, das uns noch heute beschäftigt. Wird die Herrschaft einer adligen Vorherrschaft aufgebrochen, treten keine uniforme Ichs an das Licht der Öffentlichkeit, sondern schwächere und stärkere, selbstbewusstere und zurückhaltende.

Es begann ein Wettlauf, welche Ichs sich in der freien Öffentlichkeit am besten durchsetzen würden. Der Wettbewerb wurde entschieden durch Gründung der Demokratie: alle Männer waren gleich und frei.

Das Ideal der Gleichheit und Freiheit galt anfänglich nicht für Frauen und Sklaven. Erst nach vielen Kämpfen und philosophischen Auseinandersetzungen wuchs die männer-zentrierte Demokratie über sich hinaus und entwickelte sich zur Gleichheit aller Menschen: das war die Geburtsstunde der kosmopolitischen Menschenrechte.

Die Idee der Demokratie ist ein Virus, der sich nach allen Seiten ausbreiten will. Hat ein Gemeinwesen von der Freiheit gekostet, begnügt es sich nicht mehr mit der Freiheit weniger. Die Freiheit der Stärkeren steckt die Schwächeren an, ihre Fesseln abzuwerfen.

Eine humane Idee ist zugleich ein selbsterfüllendes Ideal. Das hat die Geschichte der Demokratie bewiesen, die beileibe nicht durch imperiale Macht, sondern trotz allem durch Ansteckungskraft ihre heutige Verbreitung gefunden hat.

Da Freiheit nicht leicht zu lernen ist und jedes Individuum autonom denken und handeln muss, verläuft die Entwicklung in Pendelbewegungen. Nach dem 2. Weltkrieg gab es eine eminente Demokratisierung der Völker. Inzwischen wurde sie abgelöst von einer gegenläufigen Regression.

Das neue Gehäuse der Demokratie war nicht perfekt. Auf dem Papier waren alle gleich. Jeder hatte eine Stimme in der Volksversammlung, jeder konnte in die demokratischen Beratungs- und Entscheidungsgremien gewählt – oder gelost – werden. Die Griechen zogen das Los dem Wählen vor, weil sie alle Demokraten für fähig hielten, ihre Aufgaben in der Polis zu erfüllen: learning by doing.

Gleichwohl existierten noch immer die reichen und adligen Klassen, die zwar ihre politische Dominanz verloren hatten, nicht aber ihre überlegene Bildung, ihr stolzes Selbstbewusstsein und ihre wirtschaftliche Überlegenheit.

„Immer der Erste zu sein und voranzustreben den anderen“: das Wettbewerbs-Motto des homerischen Adels durchdrang auch die neue Demokratie. Wie konnte man der Beste sein wollen, wenn alle gleich sein sollten?

Das Beste musste neu definiert werden. Es durfte nicht mehr das Mächtigste sein, das sich auf Kosten anderer durchsetzt, sondern das Beste, das allen nützt. Was nützt einer freien Gesellschaft, in der nicht mehr die Faust dominieren darf? Der treffliche Gedanke, das bestechende Argument, die unwiderstehliche Logik, leider auch die überlegene Rhetorik, die dem Streitgespräch aus dem Wege geht und die Massen mit verführerischen Worten übertölpelt.

Im Kampf zwischen Dialog, der durchaus mit einer „blamablen“ Niederlage enden konnte, und dem Opium einer wohltönenden Suada, zog der argumentierende Zweikampf gegen die Massenwirkung einer betörenden Rede den Kürzeren. Beim Zuhören in der Menge besteht keine Gefahr des Gesichtsverlusts.

Man braucht ein souveränes Selbstbewusstsein, um dem edlen Wettkampf eines Dialogs nicht auszuweichen. Obgleich Sokrates oft genug angepöbelt wurde wegen seiner dialogischen Hebammenkünste, gab es dennoch viele Griechen, die der Mühe eines Streitgesprächs nicht auswichen. In Athen herrschte eine kindliche Freude am Streiten. Ihr Griechen seid ewige Kinder, hatte ein ägyptischer Priester zu ihnen gesagt. In der Moderne ertragen es nicht mal Intellektuelle, im gedanklichen Wettbewerb den Kürzeren zu ziehen.

„Der Poststrukturalist Roland Barthes wendet sich im Rahmen seiner Kritik am Logozentrismus auch gegen die sokratische Mäeutik; er sieht in der Vorgehensweise des Sokrates das Bestreben, «den anderen zur äußersten Schande zu treiben: sich zu widersprechen».“

Als Logozentrismus diffamieren die Modernen die urdemokratische Regel: Logos, der überlegene Gedanke, soll sich durchsetzen. Das nützt auch jenem, der im Kampf der Geister „unterlag“. Auch er profitiert vom Sieg der Wahrheit, die ihn von seinem Irrtum befreien kann. Freilich gehört ein starkes Selbstbewusstsein dazu, aus einer „Niederlage“ einen „Sieg“ zu machen.

Der Postmoderne fehlt dieses starke Selbst, weshalb sie die Lehre von der objektiven Wahrheit verwarf und jedem seine unfehlbare subjektive Wahrheit zusprach. Auf diesem Gelände kann es keine Streitgespräche geben. Es gibt nur noch rhetorisches Palavern – wie in deutschen Talkshows – oder sentimentales Verschmelzen der Herzen, das jederzeit ins Gegenteil umkippen kann.

Eris, Göttin des Streits, musste sich in zwei Wesen spalten: „eine schlimme, die Krieg und Streit hervorruft und eine gute, die in friedlichem Wetteifer Arbeit und Wohlhabenheit fördert.“ (Nestle)

Aus der friedlichen Eris entwickelte sich der edle Wettstreit um die Wahrheit im philosophischen Dialog.

In der Moderne gibt es nur noch eine Art der Konkurrenz: den Kampf um höhere Macht per Technik, Wirtschaft oder Waffen. Der Streit der Gedanken ist fast abhanden gekommen. An seine Stelle trat das Emittieren parfümierter Wortkaskaden, das man heute Feuilleton nennt.

Will sich ein Journalist auszeichnen, muss er seine Fakten und Geschichten rhetorisch verpacken. Meinungsstarke, engagierte Artikel werden als Gemeinmachen mit einer guten oder schlechten Sache verworfen. Rudolf Augstein hätte heute keine Chance mehr, zum Inbegriff eines schreibenden Intellektuellen zu werden.

Versteht sich, dass die Adligen ihren Machtverlust in der Polis nicht widerstandslos hinnahmen. Äußerlich zwar ergaben sie sich den Erfordernissen der neuen „Pöbelherrschaft“. Doch intra muros unternahmen sie alles, um den demokratischen Rahmen zu sprengen.

Demokratie beruht auf der Moral freier selbstbestimmter Menschen, die in der Volksversammlung durch Abstimmen die notwendigen Entscheidungen treffen. Was voraussetzt, dass die einstigen Machthaber ihre Entscheidungsgewalt verloren haben. Da Entscheidungen per Mehrheit gefällt werden, entscheidet die neue demokratische Qualität durch überlegene Quantität.  

Eine Volksversammlung besteht aus dem Austausch von Argumenten – und der Abstimmung durch die Macht der Mehrheit. Verliert der Altadel eine Abstimmung, kann er leicht behaupten, der Pöbel habe sich nur zusammengerottet, um ihm zu schaden.

Der Pöbel fühlte sich moralisch überlegen, wenn die Elite das Nachsehen hatte. Die Eliten hingegen fühlten sich durch Abstimmungen nur äußerlich bezwungen, an ihrem Selbstgefühl der Besten änderte das nichts.

So entstanden zeitgleich zwei Naturrechte:
das Naturrecht der Schwachen, das an die allgemeine Vernunft aller Menschen appellierte – und das Naturrecht der Starken, die darauf beharrten, die Besten, Schönsten und Wahrsten zu sein.

In der Schrift „Vom Staate der Athener“ wurde die Demokratie als Verfassung zum „Vorteil der schlechten Leute“ dargestellt, die die besoldeten Ämter an sich reißen und sich auf Kosten der „rechten Leute“ – die ihnen geistig weit überlegen seien – amüsieren würden.

Der Hass der Oligarchen (oligoi = die Wenigen) auf die Demokraten steigerte sich nicht selten zum Schwur: „Ich will dem Volke feindlich gesinnt sein und, so viel ich kann, zu seinem Schaden beitragen.“  

Es war nicht nur quantitative Überlegenheit, die die Schwachen auszeichnete. Die Starken und Schwachen bevorzugten auch verschiedene Mittel, um ihre Vorstellungen durchzusetzen.

Proxenos, ein „Schwacher“, wollte sich einen großen Namen machen, sich Macht und viel Geld erwerben. Doch nicht auf ungerechtem Wege, sondern rechtmäßig und moralisch.

Menon hingegen, ein „Starker“, war in der Wahl seiner Mittel skrupellos. Geradheit und Wahrhaftigkeit waren ihm gleichbedeutend mit Torheit. Lüge, Täuschung und Meineid galten ihm als kürzester und bester Weg zur Erreichung seiner Zwecke. Wer an Moral festhielt, war in seinen Augen ein Schwächling und ungebildeter Tropf. Machiavelli tat nichts anderes, als das griechische Naturrecht der Starken zu reaktivieren – aber nicht in offener Form, sondern im Modus der Heuchelei.

Man sieht: alles wie heute. Die Starken verspotten die Moral und benutzen alle amoralischen Mittel, um das Volk ihres Weges zu führen. Der Anstand nach außen muss freilich gewahrt werden. Die Doppelmoral der modernen Eliten ist Pflicht. Nach außen Pathos, nach innen skrupelloser Machtgewinn.

Die Alten machten aus ihrer „Amoral“ kein Hehl, denn für sie war es die Moral der Überlegenen. Zwei Wahrheiten standen sich hier gegenüber. In modernen Demokratien wären solche Klüfte des Denkens undenkbar. Hinter den Kulissen ist alles erlaubt, in der Öffentlichkeit aber muss geheuchelt werden, dass sich die Balken biegen.

Die deutsche Kanzlerin überdeckt ihre Widersprüche und Brutalitäten mit dem Schein der Demut und Nächstenliebe. Das deutsche Volk ahnt die Staatsraison der Heuchelei – und gibt sich dennoch zufrieden. Nach dem biblischen Motto: fröhliche Sünder hat Gott lieb, vergeben sie sich ihre Sünden, indem sie sich vergeben lassen.

Für Heribert Prantl, SZ, ist Merkel, seine Schwester im Glauben, ohne Fehl und Tadel:

„Angela Merkel benimmt sich trotz ihrer vielen Regierungsjahre vorbildlich: Sie bleibt sehr arbeitsam und sie lässt die Eitelkeit nicht heraushängen. Sie hat sich, wie sie es formuliert, „vorgenommen“, ihre Ämter in Würde zu tragen und sie auch in Würde zu verlassen – und versucht, das auch so zu praktizieren. Das unterscheidet sie von ihren Vorgängern: die selbstverständliche Selbstverständlichkeit der Pflicht. Sie regiert und regiert und regiert nach ihrem gewohnten Takt. Sie macht keine Mätzchen, dreht keine Pirouetten, bleibt bei der Sache.“ (Sueddeutsche.de)

Kein einziges Wort der Kritik, nur wahrnehmungslose Hymnen. Früher wurde die Frau als Heimchen am Herd gescholten. Die Kanzlerin ist zum Weltheimchen aufgestiegen. Gleichwohl gilt für sie noch immer der paulinische Satz: das Weib schweige in der Gemeinde. Fleißig und stumm erfüllt sie ihre Pflichten am Herd, auch wenn das ganze Haus in Flammen steht. Ihre Pflichten bestehen aus dem, was die Eliten ihr auftragen: Wettbewerb, Fortschritt und Macht über Europa. Die Klimagefahren lassen sie kalt, die Apokalypse ist das Werk des Herrn, das kein Mensch verhindern kann. Utopische Entwürfe sind ihr verwehrt, nur Gott regiert das Tun der Menschen.

Bei Machiavelli ist Heuchelei Staatsraison. Das unterscheidet ihn von den Alten. Die Heuchelei ist dem Christentum geschuldet, das zwar keine Nötigung zur moralischen Vorbildlichkeit kennt, aber aus Rücksicht auf die gradlinige Moral der einfältigen Massen tun muss, als ob das Gute eindeutig wäre.

Wie steht die christliche Lehre zur antiken Moral? Sie übernimmt beide Naturrechte, entreißt sie ihrer Autonomie und definiert sie als göttlichen Willen. Mit anderen Worten: die christliche Ethik ist antinomisch: sie erlaubt alles, wenn es nur im Gehorsam gegen Gott geschieht. Eine widerspruchsfreie Ethik kennt die Schrift nicht. Kein Satz, zu dem es nicht einen diametralen Gegen-Satz gäbe. Der heilige Machiavellismus zeichnet alle Erlöserreligionen aus, weshalb sie zu allen moralischen und amoralischen Taten autorisiert sind. Wenn sie sagen können: Deus lo volt, ist das Böseste vom Himmel genehmigt. Was hat das mit Himmlers Posener Geheimrede zu tun? Alles.

Die meisten Christen haben sich von dieser Doppeldeutigkeit theoretisch emanzipiert, an die Stelle der heiligen Antinomie setzten sie die Logik der antiken Menschenrechte. In ihrem Gefühlsleben aber treiben noch immer Reste der heiligen Alles-ist-möglich-Haltung, wenn nur ein Priester oder eine Pastorentochter durch kopfnickende Bescheidenheit die Heuchelei absegnet.

Kapitalismus ist ein Erbe des Naturrechts der Starken – mit gelegentlichen dekorativen Anteilen des Naturrechts der Schwachen. Alles ist gut, was Macht durch Reichtum einbringt, doch zur Besänftigung der Massen ist Almosengeben verbindlich. BILD lobt über die Maßen das Ehepaar Gates, das seinen unermesslichen Reichtum mit guten Werken absichert. Früher nannte man das Ablass-Handel.

Die Botschaft des Kapitalismus ist: die wirklich Guten sind die Reichen. Sie sind nicht nur die Tüchtigsten (Naturrecht der Starken), sondern auch die Freigebigsten (Naturrecht der Schwachen). Das galt auch für die reichen Spender nach dem Brand von Notre Dame. Da jubelten deutsche Gazetten: nun sieht es die ganze Welt, die Reichen sind die Besten. Die Schwachen und Armen bringen es zu nichts und haben nichts zu spenden. Die Schmähung der Ärmsten ist kein Privileg des Kapitalismus, Marx und seine linken Anhänger überbieten sich in Verachtung des Lumpenproletariats.

Die Deutschen sind unfähig, einen demokratischen Sozialismus von einem totalitären zu unterscheiden. CDU-Kretschmer wirft SPD-Kühnert vor, einen DDR-Sozialismus zu propagieren. Fast alle Kritiker Kühnerts unterstellen ihm, er wolle zurück in den real existierenden Sozialismus. Was faschistisch oder totalitär ist, weiß man im ehemaligen SS-Staat nicht mehr.

Schließt alle Schulen und Universitäten. Entweder wissen Lehrer und Dozenten es auch nicht oder sie belügen ihre Schüler und Studenten vorsätzlich.

Kühnert tat nichts anderes als verdrängte Grundsätze aus dem Programm seiner Partei oder der Gewerkschaften in Erinnerung zu rufen. Dafür wird er von seinem Parteigenossen Gabriel als Wiedergänger Trumps geschmäht. Das ist keine Heuchelei mehr, das ist kollektive Paranoia.

Popper hat den platonischen Urfaschismus als Zwangsbeglückung einer uneinsichtigen Bevölkerung mustergültig herausgearbeitet. Warum ist er spurlos aus der Arena verschwunden?

Kühnert wolle, so BILD, den besten Staat der Welt vernichten. Merkwürdig: an einem Tag ist die BRD für BILD das Paradies, am nächsten das pure Gegenteil:

Gestern konnte man lesen: „Deutschland ging es noch nie besser als heute. Es ist ein Paradies im Vergleich zu den allermeisten Ländern der Welt. Auch im Vergleich zu jedem anderen politischen System.“

Heute ist die Welt zur Bühne Satans geworden: „Wir leben in einer scheiß-bösen Welt. Ich fürchte, die Welt wird immer böser“.

Woanders konnte man lesen, wir hätten überhaupt keinen Kapitalismus, sondern eine soziale Marktwirtschaft. Soll man hier lachen oder heulen?

Einen Kapitalismus ganz ohne Staat gibt es nirgendwo. Selbst Hayek legt Wert darauf, dass Polizei und Müllabfuhr vom Staat bezahlt werden – damit die reichen Glücksritter entlastet sind. Stets wird der Staat als nimmersatte Institution angesehen, die sich anmaßt, die Glücklichen und Erfolgreichen im Dienste der Neidhammel zu melken. Das Soziale muss Sache des Staates, die Wirtschaft muss privat sein.

Von Luthers Obrigkeit über den Absolutismus, das Bismarckreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich bis zur Berliner Demokratie ist für die Deutschen alles Staat. Man glaubt es nicht. In einer Demokratie gibt es keinen Staat – außer als weisungsabhängige Beamtenschaft oder Regierung.

In einem SPIEGEL-Artikel hat Dirk Kurbjuweit den Unterschied zwischen der Weimarer und der heutigen Demokratie herausgearbeitet. Weimar legte noch viel Wert auf das Volk, im Grundgesetz wird das Volk zum bloßen Wahlvolk degradiert. Sie sprechen von einer repräsentativen Demokratie. Doch eine solche gibt es nicht. In Wahrheit handelt es sich um eine Oligarchie, die tut, als ob sie den Willen des Volkes ausführte. So in Amerika.

In Deutschland ist durch das Gewissen der Gewählten gesichert, dass die Gewalt nur vom Volke ausgeht, um schnell in den Händen der Abgeordneten zu landen. Deutschland ist zur Parteien-Oligarchie geworden – an der Kette der deutschen Industrie. Noch heute sind Politexperten überzeugt, dass Sachverstand nur bei den Eliten sein kann:

„Ich möchte die repräsentative Demokratie ungern aufgegeben sehen. Plebiszite können zur Stunde der Wutbürger werden. Ein gewisser Sachverstand hilft bei den Entscheidungen der Bundespolitik. Aber auf lokaler Ebene spricht nichts dagegen.“ (SPIEGEL.de)

An allen Ecken und Enden wird das Volk abgeräumt. Es kann nichts, bringt nichts, ist zu dumm, zu neidisch, zu missgünstig. Amoral, für die Reichen das Revier ihrer individuellen Freiheit, soll die Armen per negativem Vorbild oder Abscheu zum Gehorsam disziplinieren: die Letzten werden die Ersten sein, die Ersten auf Erden gehen vor die Hunde. Ihr Einfältigen seid besser als die Reichen. Da schlugen sich die Reichen lachend auf die Schenkel, dass niemand mehr ihnen die Herrschaft auf Erden streitig machte. Den Himmel überließen sie gern den Spatzen und Träumern.

In einer selbstbewussten Demokratie kann es keinen Markt geben, der die Merkmale einer höheren Ordnung aufwiese. Was auf dem Marktplatz geschieht, muss Verhandlungssache von Freien und Gleichen sein. Schon der unschuldige Tausch ist unfair, wenn ein Mächtiger dem Ohnmächtigen den Preis diktieren kann.

Der amerikanische Feminismus weiß mehr über Marktwirtschaft als alle deutschen Eliten zusammen:

„Unser Wirtschaftssystem wird uns als „freie Marktwirtschaft“ angepriesen, aber nahezu sämtliche Wirtschafts- und Politikwissenschaftler haben erkannt, dass ein freier Markt – falls es ihn je gab – heute nicht mehr existiert. Das System sichert vielmehr die Herrschaft der Herrschenden. Hinter den Fassaden der Konzerne steht als Stützpfeiler der Staat, der sich aus Steuermitteln finanziert. Wir bezahlen also nicht nur das, was wir kaufen, sondern überdies die Machenschaften der Konzerne.“ (Marylin French)

Ausgerechnet der Erfinder des Kapitalismus beschreibt die Ursituation des Menschen, die vom Kapitalismus zerstört wurde:

„Alle Mitglieder der Gesellschaft bedürfen des gegenseitigen Beistandes … Wo jener notwendige Beistand aus wechselseitiger Liebe, aus Dankbarkeit, aus Freundschaft und Achtung von einem Mitglied dem anderen gewährt wird, da blüht die Gesellschaft, da ist sie glücklich. Alle Mitglieder sind durch die Bande der Liebe und Zuneigung verbunden und tendieren zu einem gemeinschaftlichen Zentrum guter Dienste.“ (Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle)

Zu welchem Fazit kommen wir, wenn wir erkennen, welchen Zustand der Gesellschaft – mit vielen Defekten, dennoch als vitale Utopie – der Kapitalismus zerstört hat?

Kapitalismus ist etwas, was das Humane kaputt macht. „Kaputt“ stammt von „caput“, der Kopf. Etymologisch leitet sich Kapitalismus ab von Kapital, welches sich selbst von lat. „capitalis“ („den Kopf“ oder „das Leben betreffend“) ableitet, dieses selbst geht auf „caput“ – „Kopf“ zurück.“ (Wiki)  

Die Sprache bringt es an den Tag.

 

Fortsetzung folgt.