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Ludwig XV. hatte im Siebenjährigen Krieg das Angebot einer Erfindung abgelehnt, mit der er die englische Flotte hätte vernichten können, da er erkannte, dass sich die Waffe auch gegen andere Völker, auch gegen sein eigenes Land, richten konnte. Er wollte die Schrecken des Krieges nicht vermehren.

Präsident Roosevelt sah das potentielle Verhängnis der Atombombe, dennoch ordnete er den Bau der „schrecklichen Vernichtungswaffe“ an. Niemals erwog er die Möglichkeit, diese Waffe nicht einzusetzen und folgte allein dem Ziel, „als erster eine Atomwaffe zu produzieren und von ihr Gebrauch zu machen.“ (zit. nach Friedrich Wagner, Die Wissenschaft und die gefährdete Welt)

Was ist der Unterschied zwischen dem französischen Kaiser und dem amerikanischen Präsidenten? Fortschrittsglaube, Fortschrittsoptimismus, Fortschrittswahn, Fortschrittsfatalismus?

Seit Beginn der Moderne ist Fortschritt zum Dogma geworden. Es soll vorangehen, es soll sich alles verändern. War denn alles unerträglich geworden? Gab es keine Konservativen, die etwas bewahren wollten? Kann es denn konservative Parteien geben, wenn alles über den Haufen geworfen wird?

Die Konservativen der Gegenwart sind radikale Fortschrittler. Angela Merkel treibt, nach einigen Startproblemen, die Digitalisierung voran, als bereite sie dem Herrn den Weg. Nur ihre Bildungsministerin dozierte, der neue Mobilfunkstandard 5G sei nicht an jeder Milchkanne notwendig. Nachdem die Milchkannen protestierten, nahm die ungebildete Ministerin Vernunft an – vorausgesetzt, Vernunft und Fortschritt seien identisch. Wären sie nicht identisch, müsste Vernunft gegen Fortschritt agitieren. Da niemand agitiert, kann das nur bedeuten: die Deutschen haben keine Vernunft – oder Vernunft und Fortschritt befinden sich in unauflöslicher Ehe.

Was gibt’s zu bewahren, wenn das Alte zertrümmert werden muss? Den Glauben. Der Glaube soll bleiben, wie er ist – natürlich dem veränderten Zeitgeist

angepasst. Auch er verändert sich, wird aber als unveränderlicher angebetet. Solche versöhnten Unversöhnlichkeiten gehören zu den Geheimnissen des Glaubens, die Hegel dialektischen Fortschritt nannte.

Fortschritt als Humanisierung der Verhältnisse oder Demokratisierung der Völker: daran glaubt niemand mehr, seitdem ein vorwitziger Amerikaner japanischer Herkunft es wagte, das Ende der Geschichte einzuläuten. Er wollte sagen: es gibt zwar noch viele Probleme, ihre Lösung aber ist abzusehen. Die Menschheit hat ihre Marschroute festgelegt. Ihr Ziel ist das Reich der Freiheit – nicht, was Marxisten darunter verstehen, sondern demokratische Kapitalisten. Das Ende der Geschichte war eine Blasphemie am Dogma endlosen Fortschritts, der kein Ziel, kein Innehalten, anerkennt.

Für Unendlichkeitsfortschrittler darf es keinen Haltepunkt geben. Ein solcher wäre für sie der Beweis, dass auch der Mensch zum Tierreich gehört und keinen Geist haben kann.

Doch wohin geht die Reise, wenn sie endlos sein muss? Ist diese Frage für standfeste Progressdenker eine Zumutung? Wenn es schon kein Telos, keinen Zielpunkt gibt, könnte man dann wenigstens sagen, in welche Richtung die Wanderung durch die Wüste gehen soll? Von Wanderung kann natürlich keine Rede mehr sein, es handelt sich um eine beschleunigte Fahrt in diversen Maschinen, die automatisch in eine garantiert unbekannte Zukunft rasen. Alles, was bekannt ist, gehört zum Alten, das vernichtet werden muss.

Lässt sich also die Frage: Fortschritt, wohin des Wegs, nicht beantworten?

Insofern im Verborgenen des Fortschritts das Heilige existiert, lässt sie sich sehr wohl beantworten: zur Stadt auf dem Goldenen Berg. Die Experten streiten, ob es das irdische Jerusalem oder ihr Urbild im Jenseits ist. Doch ob irdisches oder überirdisches Jerusalem: eins bliebe gleich. Die jetzige Natur müsste vollständig vernichtet werden, damit das Neue entstehen kann.

Endloser Fortschritt und Naturerhaltung sind wie Feuer und Wasser. Fortschritt lebt davon, die Natur überflüssig zu machen oder zu eliminieren, was aufs Gleiche hinauskäme.

Wer Natur retten will, müsste demnach den Fortschritt stoppen, das heilige Schatzkästlein herausoperieren und den Frommen zum bloßen privaten Gebrauch zurückgeben. Fortschritt ist nur möglich durch Anbetung des Heiligen; wer Fortschritt überprüfen oder stoppen will, muss das Heilige aus der Politik entfernen.

In der Aufklärung waren technischer und moralischer Fortschritt noch eine Einheit.

„Und was für ein Schauspiel bietet dem Philosophen das Bild eines Menschengeschlechts dar, das von allen Ketten befreit, der Herrschaft des Zufalls und der Feinde des Fortschritts entronnen, sicher und tüchtig auf dem Wege der Wahrheit, der Tugend und des Glücks vorwärtsschreitet, ein Schauspiel, das ihn über die Irrtümer, die Verbrechen, die Ungerechtigkeiten tröstet, welche die Erde noch immer entstellen und denen er selbst zum Opfer fällt. So findet er den Mut, seine Mühen mit der ewigen Kette der menschlichen Geschicke zu verknüpfen, die Betrachtung erfüllt ihn mit der Freude, etwas bleibend Gutes bewirkt zu haben. Dass Beseitigen der beiden wirksamsten Ursachen der Verwahrlosung, nämlich des Elends und des allzu großen Reichtums, die Dauer des gewöhnlichen Lebens der Menschen verlängern und sie einer beständigeren Gesundheit und robusteren Konstitution versichern müssen.“ (Condorcet)

Moralische und technische Vervollkommnung verschwimmen ineinander. Nicht lange und die technische wird den Zwillingsbruder aus dem Nest werfen und allein dem historischen Sieg entgegen gehen. Freilich, die Aufwärtsentwicklung sprengt bereits das Endliche:

„Die Möglichkeiten der Vervollkommnung des Menschen werden unbegrenzt sein.“

Grenzenlosigkeit und Unendlichkeit waren die Viren des Jenseits, die das Endliche eines Tages vernichten werden.

Moralische und technische Vervollkommnung waren ohne Wahrheit nicht möglich. Ihre Identität war die Wahrheit. Der moralische Mensch entfaltet seine humanen Fähigkeiten, der technische die Gaben der Natur, um ein sorgenfreies Leben zu führen – ohne sie zu zerstören.

Inzwischen ist die Wahrheit zerstört, die Moral zertrümmert, der technische Fortschritt zum Despoten der Geschichte geworden.

Für die Aufklärer war Technik eine Gabe der Natur, die ihre moralische Vervollkommnung unterstützen würde. In diesem Punkt haben sie sich geirrt, ihren Irrtum müssen wir korrigieren, um ihren ursprünglichen Glauben an die Humanität wieder aufzunehmen und von der technischen Despotie zu befreien.

Die Floskel von der Aufklärung der Aufklärung wurde von Religiösen benutzt, um die Aufklärung wieder ins Revier des Glaubens zurückzuführen (Picht). Vollendete Aufklärung sei Erkenntnis ihrer Grenzen, die sie nur überschreiten könnte durch Heimkehr zur Offenbarung. Hier liegen die Wurzeln der deutschen Legende, Denken und Glauben, Aufklärung und Gegenaufklärung seien eins.

Da die grüne Bewegung unter das Regiment der Frommen geriet, um die Schöpfung zu bewahren und nicht die Natur, standen gläubige Naturwissenschaftler bereit, um die Ökologie heim zu holen. Unter ihnen Klaus Michael Meyer-Abich, Schüler von Friedrich von Weizsäcker und Georg Picht, der in seinem Buch „Wege zum Frieden mit der Natur“ die ökologische Aufklärung über sich selbst aufklären wollte – indem er alles in die Hände des Schöpfers legte:

„Da wir nicht das Subjekt der Geschichte sind, steht der Frieden mit der Natur nicht in unsrer Macht. Wir entsprechen, wie Martin Heidegger einmal sagte, nicht durch eigenmächtige Weltveränderung, sondern nur in Erwartung des Erscheinens eines Gottes dem kaum zu denkenden Sein des gegenwärtigen Zeitalters. Jenseits der Eigenmächtigkeit haben wir uns im Namen jenes Subjektes (= Gottes) zu fragen, was wir tun sollen. Könnte hinter der gesamten Entwicklung, so verworren sie dem Betrachter vorkommen mag, nicht doch ein verborgener Plan der Natur stecken, sich mit uns fortzutreiben und mit uns letztlich ein bestimmtes Ziel zu erreichen?“

Meyer-Abich beruft sich auf eine markante Stelle bei Kant:

„Man kann die Geschichte der Vollendung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich – und zu diesem Zecke auch äußerlich – vollkommene Staatsverfassung zustande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann.“ (Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht)

An dieser Stelle ist Kant der von ihm propagierten Autonomie des Menschen untreu geworden, indem er ihn zum Schützling der Natur machte, die ihn besser leitet, als er je könnte. Wenn man will, könnte man von einer Theodizee der Natur sprechen. Die Irrwege, die der Mensch tun muss, sind untergründige pädagogische Wege der Natur, die den Menschen zu seinem Besten führen wollen.

Goethe hat die gütige Anonymität der Natur so beschrieben: „Der Mensch in seinem dunklen Drang ist sich des Weges wohl bewusst.“ Der Gott der Christen, gütig zu wenigen, schrecklich zu vielen, wird von der gütigen Natur abgelöst, die zu allen Menschen gütig ist. Das ist ein Fortschritt über die selektive Religion hinaus ins Universelle – doch leider blieb der Mensch eine von Wohlwollen geleitete Naturmarionette. Autonom aber wäre er, wenn er seine Lern- und Suchbewegungen durch eigene Vernunft selbst bewerkstelligte. Vernunft ist eine Gabe der Natur.

Meyer-Abichs Natur wird ihm peu à peu zur Schöpfung, die auf biblischen Wegen unterwegs ist zu einem Neuen Himmel und einer Neuen Erde:

„Die Natur leidet und sie leidet dadurch, dass nicht alles natürlich, sondern vieles nicht gut ist, was in der Sinnenwelt passiert. Die Natur wirkt durch uns auf ein Ziel hin, das noch nicht erreicht ist. Auf diesem Wege zu einem Neuen Himmel und zu einer Neuen Erde soll auch die Menschheit ihren Beitrag leisten. Es liegt an uns, ob die Natur die Chance wahrnimmt, die sie in uns hat. Die Natur, die sich mit uns forttreibt, ist noch nicht dort, wohin es sie treibt. „Die endgültig manifestierte Natur liegt nicht anders wie die endgültig manifestierte Geschichte im Horizont der Zukunft.“ (Bloch) Die Natur kann ihre Ziele verfehlen, dann sind Naturprozesse nicht natürlich.“

Ökologische „Naturrettung“ wird mit geschickten Wendungen zurückgeführt in Naturerlösung durch den Menschen – im Auftrag Gottes.

„Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes. Sintemal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit ohne ihren Willen, sondern um deswillen, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung. Denn auch die Kreatur wird frei werden vom Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß alle Kreatur sehnt sich mit uns und ängstet sich noch immerdar.“

Marxismus und Christentum treffen sich: der Mensch erlöst die Natur von ihren Sünden und Widersprüchen, die unvermeidbar sind und durchgemacht werden müssen. Sünden benötigt die Natur, um vom Menschen erlöst zu werden, dialektische Widersprüche braucht er, um einen Motor zu haben oder eine Motivation, um die Natur vorwärts zu bringen. Die Natur braucht den Menschen mehr als der Mensch die Natur.

Deshalb Fortschritt. Die Natur ist unvollendet, nur der Mensch kann sie zur Vollendung bringen durch Fortschritt. Alles, was er tut, dient der Heilung der Natur. Ist Natur unvollendet, muss die Schöpfung eine unvollendete sein. Aus der creatio ex nihilo wird eine creatio continua. Der Mensch wird aus einer unvollendeten Kreatur zu einem Mitarbeiter Gottes, ohne den das Schöpfungswerk ewig unvollendet bliebe. Das Geschöpf muss das missratene Werk des Schöpfers korrigieren. Fortschritt ist die Überwindung von Gottes Fehl durch die Genialität des Menschen, der sich über Gott erhebt.

Wir blicken nicht zurück, wenn wir zurückblicken. Da Vergangenheit nicht vergangen ist, muss sie als Gegenwart im Modus der Vergessenheit betrachtet werden. Der lernende Mensch lernt aus allen Zeiten, die ihm gleichzeitig werden, im Modus der Anamnese. Wir können es uns nicht leisten, die langen Zeiten des Zurückliegenden zu negieren. Könnte es nicht sein, dass vergangene Zeiten klüger waren?

Der platte Widerspruch des Satzes: jaja, früher war alles besser, muss durchaus nicht richtig sein: jaja, in der Zukunft wird alles besser sein. Beide Sätze sind in ihrer Abstraktheit dämlich. Ob etwas besser war, muss nicht geglaubt, sondern erforscht und verglichen werden. Will man vergleichen, muss man wissen, was man zu vergleichen hat. Niemand wird sagen, heutige Demokratien würden die Polis von Athen übertreffen. Warum lernen wir nicht von ihr? Niemand wird sagen, die chinesische und griechische Philosophie sei der modernen unterlegen.

Gegenwärtig haben wir keine Philosophie. Das unabhängige Denken ist tot. Würden die Menschen ihre Zeit in kritischer Distanz wahrnehmen und durchdenken, gäbe es Grundsatzdebatten in Tiefenschärfe.

An den Talkshows kann man das gedankenlose Mitlaufen deutlich sehen. Fällt ein philosophischer Grundbegriff, wird sofort abgelenkt in die Niederungen endloser Fakten und Zahlen. Stets muss eine wilde Horde eingeladen werden, damit jeder über jeden herfällt. Das Gespräch muss ohne Erkenntnisgewinn bleiben. Unvorstellbar, dass die Kontrahenten sich streiten und einigen könnten. Jeder gegen jeden und die Moderatorin über allen.

Skepsis ist das eiserne Ziel der Plapperathleten. Die griechische Skepsis war ein sokratisches „Wir wissen nicht und können nicht wissen“ in metaphysischen Fragen. Das moralische Ziel des Lebens – das Meeresglück der Seele – wurde durch keine Skepsis in Frage gestellt.

Moderne Skepsis bezieht sich seltsamerweise nur auf die Humanität des Menschen. Ist der Mensch wirklich zur Menschlichkeit fähig? War er nicht allezeit Sünder vor dem Herrn? Warum sollte man ihn verändern, wenn er doch unveränderbar böse ist?

An dieser Stelle gibt’s merkwürdigerweise kein Bedürfnis nach Veränderung. Ebenso wenig in Dingen des technischen Fortschritts. Alles muss bleiben, wie es seit Francis Bacon immer war. Nur Maschinen müssen sich stellvertretend für die Menschen verändern. Ein neues Smartphone aus Amerika und alle deutschen Gazetten liegen flach vor Bewunderung. Maschinen sollen sogar wieder Seele haben, wenn man WELT-Maschinisten folgen darf.

Am skeptischsten werden die Fortschrittsgläubigen, wenn es um Demokratie und universelle Moral geht. Sind wir nicht zu eingebildet, wenn wir unser westliches System für das überlegene halten?

Pardon, Freiheit ist nicht die Erfindung des Westens, Selbstbestimmung nicht das Privileg der westlichen Zivilisation. Welcher Mensch, wenn er wählen dürfte, würde nicht zur Selbstbestimmung greifen und Fremdbestimmung fliehen? Wer würde nicht Freiheit wählen und das Joch der Knechtschaft abwerfen?

„Trump gehört zu denen, die die Wahrheit an sich loswerden wollen. Es klingt, als hätte diese Idee eine befreiende Wirkung. Aber es ist eine furchtbare, autoritäre Idee. Wenn es keine Wahrheit gibt, dann funktioniert Pluralismus nicht. Kein Rechtsstreit kann geklärt werden, wenn es keine Wahrheit gibt. Die offene Gesellschaft ist eine wunderbare Idee. Aber sie kommt nicht von selbst oder als Resultat wirtschaftlicher Freiheit. Die Kultur spielt eine große Rolle, das Irrationale, die Emotionen. Den meisten Menschen in Osteuropa und Ostdeutschland ging es nach 1989 ökonomisch besser. Aber viele fühlten sich schlechter! Der Grund war, dass wir die Kultur vernachlässigt haben. In der EU verfolgte man das umgekehrte Prinzip: Es wurde ein Binnenmarkt geschaffen, ein auf Vernunft basierender Kontinent sollte Frieden und Wohlstand bringen. Politik und Kultur sollten folgen.“ (Capital.de)

Der englische Historiker Timothy Snyder spricht von elementaren Begriffen, die heute vom Erdboden verschwunden sind. Wahrheit, Kultur, Vernunft. Versteht sich, dass deutsche Journalisten keine einzige Frage stellen, was diese Begriffe zu bedeuten haben. Wird’s grundsätzlich, beginnt das Volk der Dichter und Denker zu verstummen. Wahrheit, das ist ein großes Wort, schrieb ein Ex-Chefredakteur des SPIEGEL.

Im Mantel der Demut werden eherne Grundlagen der Menschheit verraten. Wer sich hinter Skepsis versteckt, darf offen lassen, ob er ein wehrhafter Demokrat, ein leidenschaftlicher Verfechter der Menschenwürde ist. Die Würde des Menschen gibt es hier nur in staatlichen Pastoralen, im Alltagsleben suchst du sie vergeblich. Würde ist korrumpiert durch eine Politsprache, die sie meidet wie die Pest.

In einem Punkt muss Snyder widersprochen werden: Emotionen sind nicht irrational. Sie sind so vernünftig, wie sie nur sein dürfen, wenn ein krankes Gehirn es nicht verhindert. In Emotionen überlagern sich Selbst- und Fremdwahrnehmungen zu einem kostbaren Erkenntnisinstrument, das von der Vernunft lediglich in Sprache übersetzt wird.

Die Epoche der Aufklärung muss fortgesetzt werden durch eine neue Epoche der Philosophie. Fakten haben sich wund gelaufen, postmoderner Perspektivismus hat Wahrheit in Beliebigkeit verzerrt, Anmaßungen einer Welt-Leadership folgen den Spuren messianischer Führer, die das Volk hinausschicken in die Welt, um sie zu erlösen.

Die Berichterstattung über Obama war die Vorwegnahme des Evangelischen Kirchentages. Ist Er‘s, dem wir folgen sollen, oder gibt’s noch einen Größeren? Ein Küsschen mit der Kanzlerin und der Pappkamerad großer Konzerne bekam seinen staatlichen Segen. Die gravierenden Fehler Obamas waren kaum eine Randnotiz wert.

Führerprinzip ist demokratie-unverträglich. Dies in Deutschland sagen zu müssen: wer hätte das für möglich gehalten? Obama wurde zum perfekten Framing zukünftiger „Populisten“, die das Sprechen des Volkes erübrigen wollen indem sie für die dumme Masse sprechen. Wenn eine Schülerin wie Greta Thunberg mit schlichten demokratischen Methoden auf die Gefahren der Welt aufmerksam macht, wird sie als Madonna und Heilige diskriminiert. Wenn ein Ohrenbläser wie Obama sich als Führer zukünftiger Führer aufdonnert, wird er bis ins Kanzleramt gelobt.

Gemessen am finsteren Mittelalter hat die Moderne viele humane und politische Fortschritte gebracht. Gemessen am klassischen Athen sind wir zurückgefallen.

Technische Fortschritte sind per se nicht abzulehnen. Doch sie müssen vor ihrer Einführung von den Menschen gebilligt werden, die ihre Vor- und Nachteile abwägen wollen. Alles andere ist totalitärer Fortschritt.

So wenig die Menschen über ihren Tod bestimmen dürfen, so wenig über die Grundelemente ihres Lebens. Das wird nicht zu vermeiden sein, das wird auf uns zukommen: so lauten die calvinistischen Prädestinationssätze einer Gesellschaft, die sich frei wähnt, wenn sie geschlossen hinter internationalen Digital-Führern hinterherlaufen muss.

Vor jeder neuen schreckenerregenden Erfindung hört man dieselben Phrasen gegenüber den „technischen Fortschrittsfeinden“: eine neue Erfindung sei wie ein Messer, man könne mit ihm Brot schneiden, man könne mit ihm aber auch die Kehle eines Menschen durchschneiden. Das sei die freie Wahl des Menschen.

Was geschah? Jedes Messer wurde zur massenhaften Tötung von Menschen benutzt. Das Internet war anfänglich ein geniales Instrument internationaler Vernetzung und Verständigung. Inzwischen wurde es zum höllischen Instrument perfekter Überwachung und massenhafter Gängelung.

Die Strategie ist immer dieselbe: das Neue erst einführen und als Meilenstein unbegrenzten Fortschritts feiern. Dann die Schattenseiten ins Endlose wuchern lassen, dass die Vorteile ins Gegenteil verkehrt werden – am Ende wirkungslos lamentieren. Bis zur nächsten Erfindung, die die Schattenseiten der letzten mit Gewissheit ausradieren werde etc.

Was wäre die Alternative zur ewigen Fortschrittshatz der Moderne, die man sich einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen sollte?

„Die moderne Vorstellung eines beständigen Fortschreitens war der Antike grundsätzlich fremd. Das antike Lebensgefühl ist nicht wie das der Moderne zeitbewusst und dynamisch, sondern zeitenthoben: die Zukunft bringt nicht das ganz Andere, sondern die Wiedekehr des Gleichen.“ (F. Rapp, Fortschritt)

Zeitenthoben ist ein falscher Begriff, ohne Zeit gibt’s keine Natur. Geschichtsenthoben träfe den Sachverhalt. Die Menschen waren keinem Geschichtsdiktat unterworfen, sondern machten ihre Geschichte selbst.

„Der moderne Mensch erdachte eine Philosophie der Geschichte, die sich an Schöpfung, Inkarnation, Gericht und Erlösung orientiert. Die theologischen Prinzipien säkularisierte er und wendete sie an auf eine ständig wachsende Zahl empirischer Erkenntnisse. Es scheint, als ob die beiden großen Konzeptionen der Antike und des Christentums, zyklische Bewegung und eschatologische Ausrichtung, die grundsätzlichen Möglichkeiten des Geschichtsverständnisses erschöpft hätten.“ (Karl Löwith)

Momentan gibt’s keine Alternative zur christlichen Geschichtslokomotive, die unbehelligt von allem Meinen und Wollen der Menschen in den Abgrund fährt.

Wäre eine ewige Wiederholung des Gleichen nicht schrecklich langweilig und unerträglich?

In der Welt dürfen Christen nicht glücklich werden. Durch Unglück, Leid und Verbrechen müssen sie sich die Seligkeit am Ende der Tage verdienen. Wie aber kann die Zerstörung der Natur gestoppt und die Rettung der Menschheit erreicht werden, wenn die Zyklen der Natur durch gewalttätigen Fortschritt am Boden zerstört werden? Die Wiederholung des Gelungenen und die rasende Beschleunigung des Misslungenen zerstören sich.

Ist der Mensch ein Teil der Natur, muss er von ihr lernen, was natürlich ist. Glaubt er sich als Geistwesen über die Natur erhaben, muss er die Kosten der angemaßten Überlegenheit zahlen: mit seinem Untergang.

 

Fortsetzung folgt.