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Sofort, Hier und Jetzt XCIII

Sofort, Hier und Jetzt XCIII,

was ist, wenn der Präsident der mächtigsten Nation der Welt nur noch nach kriminellen Taten beurteilt wird – und nicht nach Grundprinzipien seiner Politik?

Was ist, wenn der mächtigste Präsident der Welt triumphiert, nur weil er – keine Verbrechen begangen und nicht gegen Gesetze verstoßen hat?

Was ist, wenn in der mächtigsten Demokratie der Welt demokratische Spielregeln und Kriterien auf dem Boden des Rechts keine Rolle mehr spielen?

Dann ist das Ende nahe herbeigekommen, der Geist der Demokratie verschwunden, das Gerippe bewegt sich mechanisch auf der Stelle. Während über unbewiesene Verbrechen jahrelang spekuliert wird, begeht der Präsident vor den Augen der Weltöffentlichkeit einen flagranten Rechtsbruch, der mit internationalem Schweigen quittiert wird. Er tritt das Völkerrecht mit Füßen und liefert die Golanhöhen der Macht Israels aus. Die oppositionelle Tätigkeit der Demokraten begnügt sich mit polizeilichen Verdächtigungen. Die politische Auseinandersetzung wurde marginalisiert.

Ist das bisherige Idol aller Demokratien dem Exit nahe, droht seinen Vasallen, Bewunderern und Plagiatoren das gleiche Schicksal.

Amerika war, nach dem Zweiten Weltkrieg, ideales Vorbild, souveräner Erzieher und väterlicher Freund der westlichen, ja, aller Demokratien in der Welt. Kein Hemingway, kein Gary Cooper, keine Hippiebewegung als Vorbild aufmüpfiger Jugend, kein Jazz, Pop, keine Weltuntergangs- und messianischen Endzeitphantasien à la Hollywood, keine Globalisierung und KI, keine elektronische Weltvernetzung, kein digitaler Überwachungshorror, kein Allmachtswahn als Beherrschung des Weltalls und Verwandlung ins Unsterbliche ohne das zweite Kanaan, vom Himmel erwählt und zum finalen Triumph berufen, das sein Gottvertrauen auf seinen Geldscheinen verewigt: In God We Trust.

Seit Beginn der Trump-Epoche konzentriert sich die Empörung der Öffentlichkeit – an der täglichen Leine medialer bad-news-Besoffenheit – auf kriminelle Taten des Verdächtigen.

Lange wird sich der Rüpel im Weißen Haus nicht halten, unsere Enthüllungen wird er nicht überleben, dafür werden wir sorgen, wir unbestechlichen Beobachter, Zeitungen und TV-Kanäle. Nun stehen sie betroffen, Vorhang zu und alle Fragen offen. Entweder war es

  naive Oberflächlichkeit und krankhafte Selbstüberschätzung – oder es war geniales auf die falsche Fährte führen, um bei rechtlicher Nichtschuld eine Politik durchzupeitschen, die dem bisherigen Bild Amerikas nicht zu entsprechen scheint.

Warum „scheint“? Trump war es nicht, der das „gute Amerika“ in seine Bestandteile zerlegte. Sein Sieg wird sich nicht nur auf sein eigenes Land beschränken. Was vorauszusehen war: nun steht Trump vor den Toren Germaniens und fordert Einlass. Seine deutschen Bewunderer – hier FDP und BILD – können ihre klammheimliche Freude ab jetzt an die große Glocke hängen.

«Das ist der beste Tag in der Präsidentschaft von Donald Trump, für Donald Trump!», sagte der FDP-Außen-Experte Alexander Lambsdorff. «Er hat gewonnen ohne sich mit einer ausländischen Macht verschworen zu haben.» Damit sei klar: «Trump hat die Wahl fair gewonnen. Es ist Zeit, dass die Amerikaner jetzt wieder nach vorne gucken.» (…) Bei den Republikanern sehe ich die große Chance, dass Trump es noch einmal wird.“ (BILD.de)

Europa war den amerikanischen Trumpisten allzu lange ein Ärgernis. So viel Völkerverständigung und Musterhaftigkeit in demokratischen Werten und universellen Menschenrechten: das war dem aufkommendem Nationalegoismus des bible belt – dem Brutkasten aller Trumpanhänger – auf die Dauer unerträglich. Der Verfall der deutschen Demokratie, unter sorgsamer Nachlässigkeit und Wurstigkeit der deutschen Kanzlerin, hat nur ein einziges Ziel: die Rückkehr zum himmlischen Vater. Die Frommen in Amerika sehen den Zerfall Deutschlands und der EU mit Wohlgefallen. Schon die junge EG war den Biblizisten aus Amerika ein satanisches Gebilde.

Die Massen fliehen aus den Kirchen, die Eliten geben sich immer frömmer. Sie brauchen den Schutz der Soutanen, weil sie nicht schuld sein wollen am Verderb des Landes. Sollte erneut Not übers Land kommen, wollen sie gerüstet sein für die Heimkehr des Herrn. Wenn schon die Kategorie „Schuld & Ursache“ eliminiert werden soll, ist eine höhere Instanz nötig, in der alle Schuld vergeben und vergessen wird.

Wofür steht Trump? Für das, was die deutsche Schlechtmenschen-Fraktion als Inbegriff ihrer Weltinteressen betrachtet: für die Verabschiedung aller universellen Moral als Grundlage einer friedlichen Menschheit. Dieses Modell war Old School, Nachkriegszeit, Aufatmen nach der Katastrophe, streberhaftes Angeben in der Disziplin: wir haben verstanden, wir müssen uns ändern.

Schnee von gestern! Der idealistische blaue Blick muss sich einer „sich schnell wandelnden“ Welt anpassen. Die ungläubige Welt zeigt wieder ihr Raubtiergesicht und muss mit Raubtiermethoden im Zaum gehalten werden. Nicht mehr die UN-Charta ist die Leitidee der kommenden Zeiten, sondern das biblische Herrschaftsmotto: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.

Wer sich dem amerikanischen Führungsanspruch nicht unterwirft, darf sich über biblischen Zorn nicht wundern. America first heißt, jeder ist für seine Seligkeit allein zuständig. Im Verdrängungswettbewerb der Himmelssüchtigen kommt die eigene Seligkeit an erster Stelle.

„Wisst ihr nicht, dass die, die im Stadion laufen, zwar alle laufen, jedoch [nur] einer den Siegespreis erhält? Lauft so, dass ihr [ihn] gewinnt!“

Nur einer. Nur ein Amerika, nur ein Westen, nur ein Kapitalismus. Den zweiten schon fressen die Hunde. Der Verfall Amerikas begann mit dem Ende des New Deal Roosevelts und der Übernahme des Neoliberalismus. Roosevelt hatte seine neue Wirtschaftsordnung mit den Worten beschrieben:

„Aus der ganzen Nation schauen Männer und Frauen auf uns, die von der politischen Philosophie der Regierung vergessen wurden, um Führung und eine gerechtere Chance auf einen Anteil am nationalen Wohlstand zu bekommen. Ich verpflichte mich zu einer Neuverteilung der Karten für das amerikanische Volk. Das ist mehr als eine politische Kampagne. Das ist ein Ruf zu den Waffen. Was auch immer wir tun, um unserer maroden Wirtschaftsordnung Leben einzuhauchen, wir können dies nicht längerfristig erreichen, solange wir nicht eine sinnvollere, weniger ungleiche Verteilung des Nationaleinkommens erreichen … die Entlohnung für die Arbeit eines Tages muss – im Durchschnitt – höher sein als jetzt, und der Gewinn aus Vermögen, insbesondere spekulativ angelegtem Vermögen, muss niedriger sein.“ (Wiki)

Vor Zeiten nannte man eine nach Gerechtigkeit strebende Wirtschaftspolitik links. Seitdem links und rechts einerlei sein sollen, wurde die Gerechtigkeit auf dem Altar der Neoliberalen geopfert. Zuerst in Amerika – dann in Deutschland, das seinem vorbildlichen Bruder in allen Dingen hinterherschleicht.

Von 1950 bis spätestens 1990 war Amerika „ein gütiger Hegemon“ (Emmanuel Todd, Weltmacht USA, ein Nachruf). Als die Zeit des wohlwollenden Patrons vorüber war, übernahmen F. Hayek und M. Friedman das Ruder, um den Staat zu vertreiben und den Markt als göttliche Instanz auszurufen.

Markt gehört zu jenen Begriffen wie Geschichte, Heilsgeschichte, Evolution, Gehirnstruktur oder DNA, die die fehlbaren Menschlein an ihrer eisernen Hand dorthin führen, wohin diese nicht unbedingt wollen – allein, sie werden nicht gefragt. Die Instanzen über ihnen wissen es besser.

Hayek warnt vor Eingriffen des unwissenden und fehlbaren Menschen in den unfehlbaren Markt. Ausgerechnet Hayek, der davor warnt, den Himmel auf Erden zu installieren, um nicht die Hölle zu erhalten, predigt die unfehlbar-göttliche Ordnung des Marktes. Die Hölle ließ nicht lange auf sich warten. Der Mensch sollte nicht so tun, als kenne und beherrsche er die Gesetze des Marktes. Das würde zur Ineffizienz, ja, zur Zerstörung der Welt führen. Der Mensch dürfe nicht so tun

„als wüsste er, was wahr ist, als könne er die Wahrheit zum eignen Wohl verwenden. Er muss vertrauen, dass der Markt gut ist und über, nicht unter ihm steht. Tut er das nicht, öffnet er die Tore zur Unterdrückung, ja zur Zerstörung der Zivilisation. Was bleibt, ist die Antwort Hiobs: Demut, Gehorsam und Gottvertrauen.“ (M. Dellwing, Globalisierung und religiöse Rhetorik)

Das ist calvinistische Selbstlähmung, infiziert vom Rausch der Siegesgewissheit. Calvinistisches Vertrauen in die Kompetenz überlegener Eliten fordert auch H. Müller im SPIEGEL:

„Wo aber letztlich die Bürger als Wähler entscheiden, brauchen sie zumindest ein grundlegendes Verständnis für die wichtigsten Fakten. Dafür ist es nicht erforderlich, alles zu wissen. Es genügt, wenn Fachleute in Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Medien das Vertrauen der Bürger genießen, das Relevante zu thematisieren und korrekt wiederzugeben. Wissensgesellschaften basieren auf Arbeitsteilung. Nicht jeder muss alles wissen. Aber er muss wissen, wem er vertrauen kann.“ (SPIEGEL.de)

Denken unterliegt keiner Arbeitsteilung, so wenig wie demokratische Verantwortung. Denken heißt alles mit allem verknüpfen und allen Denkverboten methodisch misstrauen. Das muss kein Misstrauen gegen böse Absichten sein, sondern Mitwissen um die Irrtumsfähigkeit aller Sterblichen. Wie kann man wissen, wem man vertrauen kann, wenn man dessen Kompetenz nicht einschätzen und würdigen kann?

Methodisches Misstrauen ist Kritisieren, ein Wort, das in der Versenkung zu verschwinden droht. Dieses Misstrauen ist nicht einseitig. Jeder Mensch, der sich nicht für unfehlbar hält, wird Wert legen auf gegenseitige Überprüfung.

Es waren die deutschen Gelehrten, die im Banne Platons sich für jene Weisen hielten, die keiner Kritik mehr bedurften. Weshalb sie die Weimarer Demokratie als Herrschaft der Unwissenden und Machtgierigen ablehnten.

Aus Weisen wurden Experten. Kommt ein Experte zu Worte, ist die Debatte beendet. Überprüfen heißt nicht, alles wissen müssen. Aber präzise fragen, um das angebliche Wissen der Eliten zu durchleuchten.

Nichtexperten haben oft eine fruchtbare Distanz zu den Weisheiten der Fachleute. Hätten sie Mut, könnten sie fragen wie unbefangene Kinder. Die Quizidiotie der Tittytainment-Industrie verbreitet die Ansicht, der Mensch müsse ein abfragbares Lexikon sein. Er muss nichts wissen – aber wissen wollen, indem er fragen kann. Ich weiß, dass ich nichts weiß, ist kein Glaubensbekenntnis zur Dummheit, sondern Voraussetzung des Suchens und Staunens.

In vielen TV-Gesprächen werden Experten vorgestellt mit den Worten: der beste Experte auf dem Gebiet XY ist… Wie können das ausgerechnet jene beurteilen, die sich von diesen Experten belehren lassen müssen? Es ist professionelle Hybris der Journalisten, die sich dieser Mixtur aus Überlegenheit und Unterordnung bedient.

Wie der Nichtwissende den Experten befragt, so müssten die Deutschen ihre amerikanischen Lehrer befragen. Doch deutsche Auslandskorrespondenten fragen nur nach regionalen Merkwürdigkeiten. Sie streiten nicht. Wenn ihnen die Meinung eines Fremden seltsam vorkommt, wird sie präsentiert wie eine exotische Extravaganz, nicht als Meinung von Freunden, die so wichtig ist, dass man sie auch bestreiten kann.

Die Urideologie der Amerikaner begann als „Bruch mit der verderbten Alten Welt. Sie wollten sich als Land der Freiheit, der unbegrenzten Möglichkeiten und der moralischen Überlegenheit unabhängig von Europa entwickeln.“ (Todd)

Weshalb die Urdemokratie in Griechenland süffisant zur Seite geschoben wurde. Moralische Überlegenheit über Deutschland ist heute einfach zu haben, das Land Luthers legt auf Moral keinen Wert. Auf moralische Phrasen im Bereich der Kitas und Schulen durchaus, aber nicht auf die Verwirklichung der Moral im Leben.

Im Schulgesetz stehen folgende Sätze: „Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung. Die Jugend soll erzogen werden im Geist der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des Anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen (…) zur Völkergemeinschaft und zur Friedensgesinnung.“

Was wird aus diesen hehren Worten? Eine um sich greifende Moralpleite. Die Amoralisten dürfen jubeln. Streng genommen müssten sie auch gegen die theoretische Moral in den Schulen vorgehen. Was aber ist das Ergebnis der hochmoralischen Erziehung?

„Aus den oben geschilderten Situationen zeigt sich ganz klar, dass das vornehmste Ziel der Erziehung bei vielen Schüler*innen längst nicht ansatzweise erreicht ist. Es fehlt gewaltig an Respekt gegenüber ihren Mitschüler*innen, aber auch gegenüber den Lehrer*innen. Es fehlt die Achtung des eigenen oder fremden Eigentums. Es fehlt Toleranz gegenüber Homosexuellen oder Menschen anderer Kulturen. Es fehlt an Verantwortung und dem Verantwortlichsein für das eigene Verhalten. Verantwortung gegenüber dem Zustand des Lernorts und dem Gemütszustand der Mitmenschen. Es fehlt an dem Gemeinschaftsgedanken, der das eigene Wohl nicht ausschließlich als oberste Priorität setzt.“ (ze.tt)

Solange Amerika der gütige Hegemon war, vertrat er universelle Werte. Alle seine Kinder waren gleich, niemand sollte bevorzugt oder benachteiligt werden. Seit Amerika aber den Neoliberalismus und die Beschädigungs- und Vernichtungskonkurrenz einführte, verriet es den Universalismus.

„Weltreiche müssen uns durch ihren Universalismus in Worten und Taten davon überzeugen, dass der Satz gilt: Wir sind alle Amerikaner. (Eben dies meinte Kennedys Satz an der Berliner Mauer: ick bün ein Berliner.) Tatsächlich ist es ganz anders: Wir werden nicht mehr als Amerikaner behandelt, sondern als Untertanen zweiter Klasse – denn zum Unglück für die Welt ist die Abwendung vom Universalismus die Haupttendenz im gegenwärtigen Amerika.“ (Todd)

Schon der Umgang mit Ureinwohnern und schwarzen Sklaven verstieß gegen universelle Gleichheit, wenngleich mit der selbstauferlegten Pflicht, die dunklen Flecken peu à peu zu beseitigen. Universalismus als utopisches Lernziel ist inzwischen abgeschafft.

„Die Festigkeit des Bandes zwischen Amerika und Israel ist neu, das hat es in der Vergangenheit nicht gegeben. Die Parteinahme für Israel ist die sichtbarste Manifestation der Abkehr Amerikas vom Universalismus und der Hinwendung zur ausgrenzenden Betrachtung. Außenpolitisch kommt das in der Zurückweisung der Araber zum Ausdruck, innenpolitisch bei der mangelhaften Integration und fortwährenden Diskriminierung der Schwarzen. Das Unrecht, das den Palästinensern tagtäglich angetan wird durch die israelische Besatzung ihrer Gebiete, ist ein täglicher Verstoß gegen das Prinzip der Gleichheit, das zur Basis der Demokratie gehört. Wie Israel einen schlechten Weg eingeschlagen hat, billigt Amerika, das sich ebenfalls auf einem schlechten Weg befindet, das immer gewalttätigere Vorgehen Israels gegen die Palästinenser. Amerika glaubt immer mehr an die Ungleichheit der Menschen und immer weniger an die Einheit des Menschengeschlechts. Wenn Israel heute Unrecht tut, nimmt die Führungsmacht der westlichen Welt keinen Anstoß mehr.“ Schreibt Emmanuel Todd, Enkel eines österreichischen Rabbiners.

Als Ronald Reagan den Neoliberalismus einführte, begann er gleichzeitig, das amerikanische Reich des Guten gegen das sowjetische Reich des Bösen abzuheben. Wer nicht für uns, die Guten, ist, ist gegen uns und böse. Der einstige Friedenstifter Amerika wurde zum potentiellen Gegner der ganzen Welt, die sich der Herrschaft der Guten nicht unterwerfen wollte.

Bis zu Bush Senior, der eine neue Weltordnung – nämlich die alte des gütigen Hegemon – stiften wollte, gab es ein Hin und Her. Ab 9/11 und Dabbelju Bush war das gütige Amerika dem religiös regredierten Gegner aller Ungläubigen gewichen. Amerika wird „zur Speerspitze einer Revolution gegen die Gleichheit, und für einen oligarchischen Umbau, der alle Eliten elektrisiert. Inzwischen steht Amerika nicht mehr für den Schutz der liberalen Demokratie, sondern für noch mehr Geld und Macht für die Reichsten und Mächtigsten.“ (Todd)

Das trennt Amerika zunehmend von Europa. Von welchem? Dem Europa der vorbildlichen Nachkriegszeit und der sozialen Marktwirtschaft. Im Jahre 2002 schrieb Todd: „In Europa herrschen die Werte des Agnostizismus, des Friedens und des Ausgleichs vor, die der amerikanischen Gesellschaft dieser Tage fremd sind.“

Agnostizismus mag für Frankreich stimmen, in Deutschland werden die politischen Eliten immer frömmer. Wie viele führende Politiker sind allein im Zentralkomitee der deutschen Katholiken oder in den Führungsgremien der EKD.

Das Fazit Todds über die USA: „Amerika ist von einer friedenschützenden zu einer räuberischen Macht geworden.“

Doch den Glauben an Amerika hat er nicht aufgegeben: „Was die Welt braucht, ist nicht, dass Amerika untergeht, sondern dass Amerika wieder es selbst wird, ein demokratisches, liberales, produktives Land.“

Inzwischen gibt es in Amerika einen linken Aufbruch, der Deutschlands Linke beschämen könnte. Bleibt abzuwarten, ob er sich gegen Trump und die Oligarchen der eigenen Partei durchsetzen kann.

Trump hingegen verstärkt hemmungslos den Partikularismus seiner Erwählungs- und Verfluchungspolitik, indem er die Golanhöhen der Hoheit der Israelis unterstellt. Vor aller Welt verbünden sich zwei demokratische Nationen zu einem Gewaltduopol, das ungehemmt Menschen- und Völkerrechte bricht. Putins Besetzung der Krim wird hier von denselben Medien an den Pranger gestellt, die den Landraub der Golanhöhen mit windigen militärstrategischen Argumenten rechtfertigen:

„Trumps Anerkennung der Annexion des Golan ist ein wichtiges Signal an die Syrer, den Iran genauso wie an die Palästinenser: Wie viele Kriege müssen arabische Staaten eigentlich gegen Israel führen und verlieren, bis sie den Anspruch auf das Gebiet verspielen?“ (WELT.de)

Schuld sind immer die Araber. Dass Israel sich ständig fremdes Land aneignet, zudem immer mächtiger wird, zusammen mit den USA geradezu übermächtig, wird mit keinem Wort erwähnt. Wenn in Zukunft nur noch geostrategische Gründe zählen, können wir das Völkerrecht abschaffen. Clemens Wergin schreibt für die moralallergische WELT, die selbstverständlich eine Moral vertritt: wer Macht hat, hat Recht. Das war die These Carl Schmitts, eines führenden Juristen des Naziregimes.

Merkwürdig, dass israelische Juden, sonst allergisch gegen die antisemitische Projektion eines weltbeherrschenden Judentums, sich auf einmal vor aller Welt ihrer Macht über das „Ohr Trumps“ rühmen. Wenn sie ein Herz und Seele mit Amerika sind, gehören sie selbst zu den führenden Mächten der Welt.

Wie kam es zur Allianz Amerika-Israel? Unmittelbar nach Kriegsende wurde der Holocaust in Amerika tabuisiert. Die Neigung der Amerikaner, aus Deutschland geflüchtete Juden aufzunehmen, war überschaubar. Thomas Mann wollte in seinem Gastland gar ein antisemitisches Land erkennen. Nach dem Krieg scheuten die Juden das Image der ewigen Opfer, der Holocaust wurde verdrängt. Die Beziehungen zum jungen Staat Israel waren angespannt. Die jungen Zionisten, zumeist aus osteuropäischen Staaten, verdächtigte man sowjetrussischer Prioritäten.

Erst der 6-Tage-Krieg veränderte alles. Aus Opfern wurden Helden, die sich in biblischen Kreisen Amerikas wachsender Beliebtheit erfreuten. Nach dem Zeitplan der Endzeit würde der Messias erst kommen, wenn die Juden zuvor den christlichen Glauben angenommen hätten. Obgleich das fundamentalistische Christentum in sich antisemitisch ist, begann hier ein strategischer Philosemitismus – dem kritische Juden bis heute misstrauen.

Wer die Juden nur um eigener Glaubensvorteile willen anerkennt, kann kein echter Freund der Juden sein. Er ist Antisemit im Gewande des Philosemitismus. Dieselbe bigotte Rolle spielen auch die Gazetten des Springerverlags, die sich um das subjektive Wohlergehen kritischer Israelis einen Dreck scheren. Wie viele aufrechte Juden leiden an ihrem Unrechtsstaat, der den moralischen Prinzipien eines Hillel nicht im Geringsten entspricht. Auch nicht dem Universalismus der UN-Charta.

Wie entstand die christlich-jüdische Koalition in den USA? Die aufmüpfigen Hippies entfernten sich vom Glauben ihrer Eltern. Es entstand ein „säkularer Humanismus“, wie der jüdische Theologe Alan Mittleman die sexuelle und sonstige Toleranz der Jugend abschätzig nannte. In dem Buch „Gott und Politik in USA“, herausgegeben von Klaus M. Kodalle, nimmt er 1988 aus jüdischer Sicht Stellung zur beginnenden amerikanisch-israelischen Symbiose. Zuerst war die Annäherung der jüdischen und christlichen Fundamentalisten. Dann kam die Anerkennung der beiden Staaten. Alle jüdisch-christlichen Gruppierungen erlebten die Abkehr der Jugend von der Religion als aggressiven Akt. Begründung:

„Der säkulare Humanismus treibt in seiner inneren Logik auf den Totalitarismus zu. Sollte es misslingen, den Raum des Öffentlichen wieder mit religiösen Legitimationsmustern zu besetzen – wie das die politisch engagierten Evangelikalen versuchen – so wird das Gemeinwesen unaufhaltsam in den Totalitarismus abgleiten. In einer Welt ohne transzendente Wahrheit rückt die technologische Rationalität zur einzigen Norm auf. Außenpolitische Doktrinen, die einer „Befreiung“ der Dritten Welt das Wort reden, und radikal einseitige Vorschläge zur Rüstungskontrolle werden von der Mehrheit der Juden als direkt gegen ihre Interessen gerichtet angesehen. Die Juden fühlen sich im Stich gelassen von Institutionen, auf deren Entwicklung sie einst entscheidend Einfluss genommen haben, als Beispiel seien die Vereinten Nationen erwähnt.“ (In Klaus-Michael Kodalle)

Als die christlichen Theologen Amerikas ihre instrumentelle Nähe zu den Juden bemerkten, gab es kein Hindernis mehr, die Vernunftheirat der Bruderreligionen zu beschließen. Bis heute hält sie an. Doch ewig wird sie nicht halten. Spätestens, wenn klar geworden ist, dass die Symbiose auf einem Missverständnis beruhte und die Juden nicht daran denken, sich jesuanisch taufen zu lassen, werden die uralten Hassgefühle hochkochen.

Die Meinung Alan Mittlemans wurde von dem neokonservativen Intellektuellen Irving Kristol bestätigt:

„Auch nach Kristol hängen die neue positive Einstellung der Juden zu ihrer eigenen partikularen Identität und das erstarkte Selbstbewusstsein im Gemeinwesen mit der Abwendung vom „universalistischen säkularen Humanismus“ zusammen. Die Wende zu einer höheren Wertschätzung religiöser Identität ist zu verstehen als Reaktion auf eine „tiefgreifende moralische und spirituelle Krise, die die gesamte westlich liberal-säkulare Mentalität erfasst hat.“ (ebenda)

Hier sehen wir die religiösen Wurzeln des identitären Partikularismus und Chauvinismus der Gegenwart. Christen und Juden regredierten Hand in Hand zurück in den Schoss ihrer Erwählungsreligionen, die mit demokratischem Universalismus schlechterdings unvereinbar sind. Kristol fühlte sich mit seiner Gegnerschaft gegen agnostischen Humanismus merkwürdigerweise auf Seiten der Aufklärung. Doch Mittleman sah genauer hin:

„Schaut man genauer hin, sind die Werte der Evangelikalen auch jüdische Werte. Indem sich die Juden auf die Seite der Aufklärung und des säkularen Humanismus schlagen, entscheiden sie sich gegen die Werte ihrer eigenen Tradition.“

Obgleich die Neocons sich auf der Seite der Aufklärung sahen, beharrten sie darauf, dass „Politik und Recht abgestützt werden müssten durch die Geltung transzendenter Werte. Die Autorität religiöser Symbole sollte das öffentliche Leben stärken und strukturieren. Rein säkulare Legitimationen für Identität und Orientierung des Gemeinwesens sind unzulänglich, wenn es um das Überleben der Demokratie geht.“ (ebenda)

Welch Zufall, dass die deutsche Böckenförde-Doktrin, die eine christliche Dominanz über demokratische Werte behauptet, in jenem Dezennium formuliert wurde, in dem amerikanische Christen und Juden sich strategisch verbanden. Wieder einmal wandelten die deutschen Vorzugsschüler treu in den Spuren ihrer Vorbilder.

Trump ist nicht der Erfinder des amerikanischen Rechtsrucks. Er ist nur das ordinäre Sprachrohr der mächtig gewordenen Frommen, die kein Problem haben mit amoralischen Fürsprechern ihrer Endzeiterwartung. Am Ende der Geschichte wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Der Messias wird Hölle und Feuer speien. Mit dem lieben Jesulein hat er nichts mehr zu tun – konstatieren selbst fundamentalistische Geistliche. Wenn der Herr selbst seine moralische Maske abwirft: warum sollte seine deutsche Herde Wert auf Moral legen?

In einem amerikanischen Heftchen mit apokalyptischen Szenerien sieht man Luzifer als blonde, weibliche Gestalt. An Schönheit und Weisheit war sie vollkommen. Als sie aber von Gott abfiel, geschah das Schreckliche. Gott sprach zu ihr:

„Du warst ohne Tadel in deinem Tun von dem Tage an, da du geschaffen wurdest, bis sich deine Missetat gefunden hat. Denn du bist inwendig voll Frevels geworden vor deiner großen Hantierung und hast dich versündigt. Darum will ich dich entheiligen von dem Berge Gottes und will dich ausgebreiteten Cherub aus den feurigen Steinen verstoßen. Und weil sich dein Herz erhebt, daß du so schön bist, und hast dich deine Klugheit lassen betrügen in deiner Pracht, darum will ich dich zu Boden stürzen und ein Schauspiel aus dir machen vor den Königen. Denn du hast dein Heiligtum verderbt mit deiner großen Missetat und unrechtem Handel. Darum will ich ein Feuer aus dir angehen lassen, das dich soll verzehren, und will dich zu Asche machen auf der Erde, daß alle Welt zusehen soll. Alle, die dich kennen unter den Heiden, werden sich über dich entsetzen, daß du so plötzlich bist untergegangen und nimmermehr aufkommen kannst.“

Das schöne und kluge Weib ist der Feind Gottes, das von ihm abgefallen ist und zur Strafe dem Amüsement der Mächtigen preisgegeben wird. Amerika wird seinen Rechtsruck nur überwinden, wenn es die Vorherrschaft des Mannes, die satanische Degradierung der überlegenen Frau verwirft, die Erwählungswillkür der jüdisch-christlichen Erlöser ablegt – und zurückkehrt zum aufgeklärten Humanismus der meisten ihrer Gründerväter.

Verständnislos stehen die Deutschen vor diesen amerikanischen Kollektivneurosen. Sie empfinden sich als Anhänger einer Religion, die mit ihrer Charakterentwicklung nichts zu haben kann.

 

Fortsetzung folgt.