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Sofort, Hier und Jetzt LXXXVIII

Sofort, Hier und Jetzt LXXXVIII,

wo man hinblickt: Verfall, Dekadenz, Untergang. Die bewährteste und älteste Demokratie Europas zerfleischt sich. Die EU spaltet sich. Die Polarisierung der deutschen Gesellschaft verschärft sich. Alles in der Welt lässt sich ertragen, nur nicht eine Reihe von schönen Tagen.

Sollte es abwärts gehen mit dem deutschen Wohlstand, steht der Untergang des Abendlandes vor der Tür. Man klagt, staunt, rätselt, schämt und ängstigt sich – nur eins tut man nicht: man denkt nicht.

Gründe für den Verfall? Ja, gibt es denn Gründe? Niemand kommt ins Grübeln.

Nichts ohne Ursachen: verrät sich hier nicht der Wille zur diktatorischen Kausalität? Wer benennbare Ursachen will, will sie eliminieren. Zukunft wird totalitär, wenn sie alternativlos und eindeutig die Irrtümer der Vergangenheit vermeiden will.

Gibt es denn Eindeutiges, Unmissverständliches, Zwingendes? Nur im Einmaleins. Darüber hinaus ist all dies von Übel. Selbst die Physik ist ins Schwanken gekommen. Wahr-scheinliches kennt sie, Wahres aber ist nichts als Reduktion kognitiver Dissonanz. Kinder und Tölpel ertragen nicht die Vieldeutigkeit der Realität.

Eure Rede sei Jaja, Neinnein, alles andere ist von Übel: das war die Rede eines charismatischen Wirrkopfs, der keinen Satz ohne Widerspruch formulieren konnte. Doch die Widersprüche beruhten nicht auf Schwächen, sie waren gewollt.

Dank der unvereinbaren Gegensätze gelang es dem Christentum, die heidnische Welt zu besiegen. Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Wer Vieles und Widersprüchliches bringt, wird jedem bringen, was er benötigt, um seine Sicht der Dinge als göttliche Offenbarung zu präsentieren. Nichts Menschliches und

  Unmenschliches gab es, das auf höhere Weihen verzichten musste.

Wer Herr ist über die Widersprüche, der ist Herr über die Welt. Wer sich der Logik beugen muss, muss sich zusammenreißen. Wer sich der Logik einer eindeutigen Moral unterwerfen muss, hat sich auseinanderzusetzen mit Unmoral, Heuchelei und Bigotterie.

Die Amoral will er ausrotten, weil sie dem Menschen das Leben zur Qual und Hölle macht. Will er sie mit Gewalt ausrotten, ist er Platon, Mussolini, Stalin oder Hitler. Will er sie mit friedlichen Argumenten, Disputen und methodischen Entscheidungen überwinden, ist er Demokrat.

Der Neoliberalismus traut sich nicht, offen faschistisch zu sein, weshalb er mit Waffen nicht direkt tötet, sondern indirekt in Armut verkümmern und verrecken lässt.

Der Faschist ist ehrlich, er will viele ausrotten, um wenigen die Herrschaft über die Erde zu verschaffen.

Der Neoliberale lügt sich in die Tasche. Dass er die Tüchtigen und Glücklichen unermesslich reich macht, rechtfertigt er mit dem unbeabsichtigten Kollateralnutzen, aus den Höhen des göttergleichen Eldorado würden ständig goldene Almosen herunter-trickeln, um die Verlierer knapp über Wasser zu halten – oder auch nicht.

Das Christentum ist eine dialektische Lehre, der Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs gilt nicht für die Offenbarung Gottes.

Bevor die Griechen die Sätze der Logik in Stein meißelten, gab es eine dialektische Vorbereitungsepoche. Die Wirklichkeit erschien den Vorläufern der griechischen Aufklärung wie ein Panoptikum der Widersprüche, die man ertragen müsse. Doch in scharfen Formulierungen des Widerspruchs lugten bereits die ersten Umrisse des ausgeschlossenen Dritten hervor. Der verwirrende Schein wollte durchschaut und in seinem Ursprung erkannt werden.

Aus dem Widerspruch der Jahreszeiten wurde der Zyklus der Zeit. Das Widereinander wurde zum verlässlich-wiederholbaren Nacheinander. Einerseits noch traditioneller Mythos, andererseits beginnender Logos der Vernunft.

„Eines, das allein Weise, will nicht und will doch wieder mit dem Namen des Zeus benannt werden.“ (Heraklit)

Man kann nicht zugleich wollen und nichtwollen – es sei, man will sich selbst widersprechen. Ambivalenzen gibt es zuhauf, wenn der Mensch von widersprüchlichen Elementen geprägt wird. Der Westen strotzt von Antagonismen und Widersprüchen: griechischer und religiöser Geist, die inkompatibel sind, prägen seit 2000 Jahren die Ambivalenzen des Abendlandes.

Friede den Erwählten, Vernichtung den Verworfenen. Hoffnung für die Frommen, höllische Angst für die Gottlosen. Nächstenliebe für Feinde, ewiger Hass den Verfluchten.

Der Mythos wird symbolisch gedeutet: Traditionalisten als auch die neuen religionskritischen Denker sollen auf ihre Kosten kommen. Symbolisch heißt, Begriffe sind vieldeutig und sollen es auch bleiben. Menschen, die sich im realen Leben widersprechen, sollen sich mit ihnen identifizieren können. Zeus ist personeller Gott – zugleich Symbol für die höchste, abstrakte Naturkraft.

Symbole sind vieldeutige Kompromisse. Der überlieferten Religion kann man treu bleiben und sie dennoch kritisieren. Heraklits symbolische Deutungen, von Stoikern und dem jüdischen Denker Philo übernommen, sind die heutigen Standardmethoden der Theologen, die sich der Heiligen Schrift verpflichtet fühlen, dennoch jeden Zeitgeist nach Möglichkeit mit biblischen Deutungen einhegen – selbst wenn er den Buchstaben der Schrift eindeutig widerspricht.

Früher galt die Lehre von der Verbalinspiration der Schrift: jeder Buchstabe war von Gott diktiert und ergo unfehlbar. Diese Verbalinspiration musste erstmal aufgeweicht werden zur Realinspiration. Nicht jedes Semikolon ist unfehlbar, Gott wollte nur die Sache des Heils vermitteln. Die Sprache des Heils war göttlich-unfehlbar und menschlich-fehlbar zugleich.

Der Abschied von der Verbalinspiration war eine große Befreiung. Man musste nicht sklavisch jeden unverständlichen oder widersprüchlichen Buchstaben verteidigen. Andererseits war die Freiheit trügerisch, trotz Deutungswillkür war der Bezug auf Gottes Wort absolut verbindlich.

Das ist die Situation der Kirchen in der Gegenwart. Niemand glaubt mehr, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat. Dass Jesus aber ans Kreuz genagelt, getötet und wieder auferstanden ist, muss von allen geglaubt werden.

Von diesen Dingen, den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten, von Verbal- und Realinspiration, verstehen die Gemeinden nichts. Sie werden dumm gehalten – und gefallen sich in dieser Rolle.

Die meisten Christen, sofern sie Demokraten sind, fühlen sich der universellen Menschenrechtsmoral verpflichtet. Da sie die Bibel nicht kennen und nicht kennen wollen, gehen sie stillschweigend davon aus, dass ihre ethischen Vermutungen auch in der Bibel stehen.

Einst galt es, den Glauben aus heiligen Texten abzuleiten. Das hat sich heute ins Gegenteil verkehrt. Die Frommen projizieren ihre humanistische Sicht in die unbekannte Schrift – und werden ärgerlich, wenn ihr „ganz persönlicher Glaube“ als nicht bibel-begründet angezweifelt wird. Sie halten sich für Christen – besonders, wenn Fremde und Andersgläubige ins Land strömen –, fühlen sich dennoch erhaben über die Buchstabenklauberei der Kanzelredner.

Angela Merkel, in der Familie eines lutherischen Kanzelredners aufgewachsen, hat die symbolische Sprache des Vaters so verinnerlicht, dass sie den Unterschied zwischen scharfer Logik und verschwommener Kompromisssprache nicht kennt. Ihr Durchmogeln mit ambivalent-wolkigen Formeln ist ihr in Leib und Blut übergegangen.

Philo, ein großer Bewunderer Platons, blieb dennoch ein frommer Jude. Das gelang ihm mit Heraklits symbolischer Hermeneutik (Deutungskunst). Die Weisheit Platons konnte er sich nur dadurch erklären, dass der Heide insgeheim von Mose gelernt haben musste. Die ganze heidnische Weisheit musste auf Gottes Offenbarung beruhen.

Längst gibt es kein Halten mehr. In der Deutung der Schrift durch externes Projizieren bleibt kein Stein auf dem andern. Früher belehrte Gott seine Gläubigen, heute belehren die Gläubigen ihren Gott – dennoch in der trügerischen Annahme, sie seien gehorsame Empfänger der Botschaften Gottes. Die Schrift ist zum magischen Buch geworden, dem jeder die unfehlbare Botschaft entnehmen kann, die er für seine Zwecke benötigt.

Das Buch ist zum beliebigen Wünsch-dir-was geworden. Was Heraklit und andere vorsokratischen Heiden sich ausdachten, um ihr neues Denken verträglich zu machen mit dem herkömmlichen Mythos, wurde zur Grundlage der Gegenwarts-Theologie. Wo sie sich am frömmsten fühlen, stehen die Gläubigen fest auf heidnischem Boden.

„So wahrt Heraklit auch dem irrationalen Element der Religion sein relatives Recht“:

„Der Herr, dem das Orakel in Delphi eigen ist, spricht nichts aus und verbirgt nichts, sondern er macht Andeutungen.“

Wenn Autoritäten nur in Andeutungen raunen, können die Zöglinge das Kunststück vollbringen, in Freiheit wie in Unterwerfung ihre Meinungen zu entwickeln. Der Inhalt ihres Glaubens klingt autonom, die Begründung bleibt heteronom.

„Die Möglichkeit einer allegorischen (oder symbolischen) Deutung des Mythos drängte bei vielen die Wahrheitsfrage in den Hintergrund und erleichterte es ungemein, das Doppelspiel des frei denkenden und dennoch gläubigen Menschen zu treiben, zum Schaden der Wahrhaftigkeit.“ (Wilhelm Nestle)

Die Sprache deutscher Intellektueller und Edelschreiber ist durchweg symbolisch-allegorisch. Jeder darf sich das Seine denken. Widerlegungen gelten als anmaßende Besserwisserei. Die Wirklichkeit sei unendlich, jeder Deutungsversuch unvermeidlich subjektiv. Eine objektive Wahrheit gebe es nicht.

Was die Gegenwart prämodernen Griechen verdankt, nennt sie – postmoderne Philosophie. Wähnte sich bereits die frühe Moderne den Alten überlegen (in den querelles des ancients et des modernes), wie erst die Postmoderne. In Wirklichkeit ist sie der hundertste Aufguss der heraklitischen Zweideutigkeit.

Erst Sokrates verwandelte die Dunkelheiten seiner Vorläufer in strenge Logik und Moral. In den wichtigsten Dingen des Lebens muss man Farbe bekennen. Er hatte keine Angst, sich mit Göttern und der Welt anzulegen. Das brachte ihm die Anklage vor dem Volksgericht ein, das ihn zum Tode verurteilte.

Eine große Minderheit sah ihn unschuldig und hätte ihn am liebsten freigesprochen. Doch die Schärfe der sokratischen Apologie ließ keinen Ausweg. Moderne Gelehrte vermuten, auch suizidale Motive hätten mitspielen können, warum der Kompromisslose seine Richter provozierte.

Jesu Wort: eure Rede sei Jaja, Neinnein, ist eine Übernahme von Sokrates, aber ohne den geringsten Versuch, die heilige Lehre durch dialogisches Durchforsten widerspruchsfrei zu machen. Hier müssen wir noch des Protagoras gedenken, dessen markante These: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, eine hohe Ähnlichkeit mit der Postmoderne aufweist.

Protagoras wird den Sophisten zugerechnet, den Weisen – im Gegensatz zu den Philosophen, den bloßen Freunden der Weisheit. Sophisten traten als Wanderlehrer auf, die gegen Geld allen Lernbegierigen die Welt erklärten. Berüchtigt wurden sie wegen ihrer „Framing-Künste“, alle Dinge so darzustellen, wie es der Einzelne wollte. Vor Gericht konnten die sophistischen Advokaten jede Anklage oder Verteidigung nach Belieben ins Gegenteil verkehren.

Sokrates und Platon werden als bedingungslose Verteidiger einer objektiven Wahrheit und Gegner der sophistischen Rhetorik dargestellt.

Im Kampf zwischen Rhetorik und Philosophie hat in der abendländischen Geschichte nicht die Liebe zur Wahrheit gewonnen, sondern die sophistische Redekunst, zu der alles gehört, was heute unter Framing, Nudging und Konditionierung gehandelt wird.

Politiker, die was werden wollen, müssen in einer Rede ihr Publikum faszinieren, damit es mindestens 10 Minuten lang applaudiert. Der Sieg der Massen-Rhetorik über die intime Dialogkunst ist vor allem der rhetorischen Kanzelpredigt des Klerus zu verdanken, der mit allen Raffinessen die Gemeinde zur Erleuchtung bringen muss.

Tatsächlich beginnt der „postmoderne“ Prozess der Relativierung schon bei den Sophisten. Den meisten ging es nicht um die Wahrheit der Rede, sondern um deren politischen Nutzen.

Protagoras selbst ist noch kein bedenkenloser Worteverdreher oder willkürlicher Subjektivist. Mit großer Wahrscheinlichkeit wollte er lediglich auf individuelle Vorstellungen und Empfindungen hinweisen. Den objektiven Grund der subjektiven Eindrücke ließ er auf sich beruhen.

Bei Sokrates beginnt, nach Nietzsche, die Dekadenz der kategorischen Moral. Nietzsche hasste den ungriechisch-hässlichen Herumtreiber. Mit diesem Feind alles Edlen, Vornehmen und Starken begönne der endgültige Abstieg der Griechen. Nicht der Demokraten, sondern der Aristokraten. Sokrates habe den Sklavenaufstand der Moral initiiert und der Herrschaft des Pöbels Tür und Tor geöffnet.

Was ist Sklavenaufstand der Moral? Die Minderwertigen und Schwachen hätten den Aufstand gegen die Vornehmen und Starken begonnen. Deren Moral: gut sei, was vornehm und mächtig macht, hätten sie in pöbelhafte Gleichmacherei verschandelt. Aus Neid auf die Privilegierten erfanden sie eine Ethik der uniformen Masse.

Sklaven, Loser und Degenerierte hätten den demokratischen Egalitarismus, das „Naturrecht der Schwachen“, eingeführt, um Eliteklassen und das „Naturrecht der Starken“ abzusetzen. Demokratie und universelle Moral seien décadence, Verfall einer einst vornehmen Adelsgesellschaft. Der Sieg der Minderwertigen über die Edlen habe Demokratie erst möglich gemacht.

In der Demokratie haben die Sklaven über die Herren obsiegt. Der elende, arme, ohnmächtige, niedere, leidende Mensch habe den Vornehmen, Gewalttätigen und Starken besiegt. Der strahlende, unskrupulöse, mit sich in allen Dingen identische, nichts bereuende Übermensch habe gegen den mitleidigen, unvornehmen, rachsüchtigen Schwachen verloren. Demokratie ist ein Zeichen des Untergangs. Wenn Untermenschen die Macht über die Übermenschen erringen, steht die Gesellschaft vor dem Abstieg.

Die Stimme dieses Pöbels war Sokrates. Seine Philosophie sagte immer dasselbe: die Wahrheit, dass es nur ein wirkliches Unglück gibt, schlecht oder ungerecht zu handeln. Und nur ein wirkliches Glück, gut oder gerecht zu handeln. Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun; der gute Mensch ist stärker als der böse. Dieser kann keinem einen wirklichen Schaden zufügen.

Für Sokrates ist dies unbedingte Wahrheit und Norm, die ohne himmlische Belohnung Gültigkeit besitzt. Ethik beruht auf den Pfeilern der Autonomie. Es handelt sich nicht um göttliche Gebote, die strikt befolgt werden müssen, sondern um Erfordernisse der eigenen Vernunft.

Wie die heutigen Deutungskünste der Theologen auf Heraklit und den Stoikern beruhen, so ist die gegenwärtige Hatz auf die Moral eine Wiederholung der Kämpfe der Sophisten gegen die Sokratiker.

Der Chefredakteur einer deutschen Tageszeitung entpuppt sich als Übermensch à la Nietzsche, der den Sklavenaufstand der Moral verachtet. Er selbst befindet sich bereits jenseits von Gut und Böse. Was gut und böse ist, bestimmt er in grenzenloser Freiheit, einem Gotte gleich, der sich weder logischen noch moralischen Geboten unterwirft. Wer allmächtig ist, steht über allen Gesetzen der Vernunft:

„Moral war bei Kant ein Instrument der Aufklärung. Heute wird sie zum Hexenkessel für Panikmache. Moral hat immer unterdrückt, doch ihre neuen Instrumentalisierungs-Bataillone, die ihre großen politischen Schlachten fast alle verloren haben, nutzen sie zur Diskurserpressung. Reflexionen sollen ausbremst werden. Moral fällt in einem nach der Wiedervereinigung protestantischer gewordenen Land auf fruchtbarsten Boden. Auch das Verschanzen hinter 16-jährigen Aktivistinnen, die Panik wollen, wird vor dem Hintergrund moralischer Anliegen, die vermutet oder unterstellt werden, akzeptiert. Dem mündigen, freien Bürger wird misstraut.“ (WELT.de)

Moral hat immer unterdrückt? Das ist eine erneute Kampfansage gegen den Sklavenaufstand der Moral, mit anderen Worten, gegen die Gleichwertigkeit aller Demokraten und gegen universelle Menschenrechte. Aufklärung war, nicht nur bei Kant, der Sieg der kategorischen Moral über die Vornehmen und Adligen, die ihre Völker nach Belieben ins Elend trieben. Was spricht Kant über Moral?

„Alles Gute aber, das nicht auf moralisch-gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend.“

Dekadenz überall, wohin man schaut. Was sind ihre Ursachen? Der Sklavenaufstand der universellen Moral – oder der Elitenaufstand gegen die strikte Ethik, bei der es keine Unterschiede zwischen Starken und Schwachen, Führungsklassen und abgehängten Massen gibt. Ist Nietzsche, Vordenker der Nationalsozialisten, der Prophet des Untergangs – oder Kant, der Denker der Moral, die unterschiedslos für alle gilt?

Mit der Aufweichung der Moral begann bei den Griechen auch die Aufweichung der Wahrheit, heute Postmoderne genannt. Allmählich spricht sich herum, welche ruinösen Wirkungen die postmoderne Verachtung der Wahrheit mit sich bringt. Gibt es keine erkennbaren und benennbaren Ursachen für die jetzige Krise: wie soll der öffentliche Diskurs laufen? Ein Diskurs ist unmöglich, wenn alle beliebigen Meinungen gleichwertig sind und keine Argumente die vermutliche Wahrheit ermitteln können.

Der postmoderne Philosoph Gerhard Poppenberg wehrt sich in der ZEIT gegen die massiven Vorwürfe, die Postmoderne sei Hauptursache des jetzigen Verfalls:

„Die Frage ist, wie die komplexen Probleme der Zeit anzugehen sind, ohne sie fundamentalistisch und dogmatisch durch vorgebliche Kohärenzkriterien einer festen, gar einzigen Wahrheit auf Eindeutigkeit zu trimmen. Das postmoderne Denken lehrt zu verstehen, warum Positionen eindeutiger Gewissheit den Charakter von Ideologie haben. Möglicherweise wünschen viele Menschen solche Ideologien als feste Orientierungsrahmen und Identitätsmarkierungen. Sie fühlen sich mit der Freiheit des Denkens überfordert.“ (ZEIT.de)

Die Postmoderne begann schon bei den griechischen Sophisten. So taufrisch, wie ihre heutigen Bewunderer sie gern hätten, kann sie nicht sein. Im Reich des Denkens ist es belanglos, wie alt oder neu Gedanken sind. Wir lernen von allen, von denen wir lernen können. Selbst von Jugendlichen, die für die Rettung der Menschheit auf die Straße gehen.

Seit wann ist das Bedürfnis nach Gewissheit ein Zeichen von Dekadenz? Sollen Hauptbegriffe unseres Daseins wie Demokratie, Mündigkeit, Menschenrechte ohne Gewissheit sein? Gibt es keine selbstbewusste Gewissheit über den Wert von Humanität und Menschenwürde?

Es gibt Dinge, über die man sich nicht einigen muss. Fragen des Geschmacks, der Mode und ähnliche Belanglosigkeiten können beliebig bleiben. Doch was die Fundamente unserer Existenz betrifft, stehen wir unter Verständigungspflicht. Wer die Menschheit nicht retten will, will sie vernichten. Tertium non datur, ein Drittes gibt es nicht. Was will der Westen im Kampf gegen Despotien und Diktaturen ins Feld führen, wenn nicht seine felsenfeste Überzeugung von der Qualität seiner Humanität?

Poppenberg verharmlost die Postmoderne zur Freiheit von Pubertierenden, die alle autoritären „Erzählungen“ ihrer Erzieher blind über den Haufen rennen. Die zügellose Freiheit besteht aus wahlloser Zertrümmerung des Überkommenen, aus keinem anderen Grunde, als dass es überkommen ist.

Das Vergangene ist nicht sakrosankt. Was nicht bedeutet, alles früher Gedachte müsse absurd sein. Deutsche Genies wollen alles ex nihilo aus eigener Brust kreiiert haben. Freiheit ist hierzulande die grenzenlose Freiheit der Originalisten, die es ablehnen, sich von anderen belehren zu lassen. Ich bin ich, außer mir gibt es nichts. Das ist die Moral der Übermenschen, Superreichen und Starken, die es ablehnen, derselben Moral zu folgen wie der Abschaum der Gesellschaft.

Poppenberg kann nicht unterscheiden zwischen Wahrheiten, von denen Sein oder Nichtsein abhängt – und bloßen sinnlichen Perspektiven und emotionalen Impressionen.

„Die Postmoderne fasst eine Reihe von Positionen in der Philosophie zusammen, deren wesentliche Gemeinsamkeit in der Kritik an den Paradigmen der Moderne liegt, an deren »grands récits« (»große Erzählungen«), seien es Rationalismus oder Humanismus, seien es Christentum, Marxismus oder gar Nationalismus, seien es Kapitalismus oder Technokratie: nicht nur Skepsis sei ihren Beschreibungen und Erklärungen gegenüber angebracht, auch ihre Ansprüche erscheinen inakzeptabel, ihre Versprechen unattraktiv; auch alle Begriffe, die das Denken in der Moderne geprägt haben (»Einheit«, »Wahrheit«, »Wissenschaft«, »Begriff«, »Sinn«) verfallen dem postmodernen Verdikt, universalistisch und totalitär zu sein.“ (Spektrum.de)

Geht’s noch deutlicher? Die Postmoderne attackiert die „großen Erzählungen“ – schon der Begriff ist eine Verleumdung, hier werden keine Märchen erzählt, sondern Menschheitsfragen debattiert –: Rationalismus, Humanismus, Wahrheit.

Christentum, Marxismus, Kapitalismus und Technokratie, alle Begriffe können in einer freien Gesellschaft kritisiert werden. Aber nicht, weil sie große, sondern weil sie falsche und inhumane „Erzählungen“ sind. Die Postmoderne widerspricht sich selbst, wenn sie Positionen angreift, die sie für verhängnisvoll und unwahr hält. Würde sie ihrer eigenen Lehre treu bleiben, müsste sie alles auf dieser Welt wortlos absegnen.

In Frankreich entstand die Postmoderne als Nachkriegs-Aversion gegen alle großen Begriffe und Philosophien, die im verlorenen Kampf gegen die Nationalsozialisten versagten. Wenn das ganze Gerede von Humanität und Moral nicht die Niederlage gegen die SS-Übermenschen verhindern konnte: weshalb brauchen wir diese Begriffe noch? Weg mit dem ganzen abendländischen Plunder. Dann wurden die großen Besen herausgeholt, um die abendländische Tenne zu säubern. Als die Philosophen versagten, rächten sie sich an ihren Kindern, ihren eigenen Begriffen und Gedanken.

Dekadenz kann die Vorwegnahme einer unvermeidlichen Apokalypse sein. Das wäre die christliche Version des Endes der Heilsgeschichte.

Sie kann aber auch auf der Erkenntnis beruhen, dass die Wohlstandsepoche elementare menschliche Bedürfnisse verschüttet hat: Bedürfnisse nach menschlicher Zuwendung, Freundlichkeit und Lebensfreude. Nicht Sicherheit, sondern die falsche Sicherheit eines technischen und materiellen Tandaradei erlebt ihren gegenwärtigen Bankrott.

Die Zeiten werden schwierig. Vieles muss kollabieren. Anders kann es von Grund auf nicht neu durchdacht oder aufgebaut werden.

 

Fortsetzung folgt.