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Sofort, Hier und Jetzt LXXXIV

Sofort, Hier und Jetzt LXXXIV,

es fehlt das Ziel.

„Bayern ist unsere Heimat. Deutschland unser Vaterland. Europa unsere Zukunft.“

Bayern können keine Christen sein. Sonst müssten sie ihre Heimat höhern Orts ausfindig machen:

„Denn das Reich, in dem wir Bürger sind, ist in den Himmeln.“ „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“

Der Herr der bayrischen Kreuze „hatte keinen Platz, wo er sein Haupt hinlegen konnte.“ Auf Erden war er ein Flüchtling. Ein Heer schrecklicher Marterln ändert nichts daran.

Mütter werden durch „Vaterland“ ex-matriiert. Europa ist keine lebendige Gegenwart, die Welt als Heimat aller Menschen existiert nicht mal in Zukunft.

Damit fällt Bayern – oder Deutschland, ja, die ganze westliche Welt – mehr als zwei Jahrtausende hinter den kosmopolitischen Standard zurück, den die Griechen in die Welt brachten:

„Ich weiß, dass mein Vaterland die Welt ist.“

„Der Weise ist Bürger zweier Staaten: des großen Weltstaats, dessen Grenzen sich nach der Bahn der Sonne bemessen, und des andern, den ihm der Zufall der Geburt zugewiesen hat.“

„Wir sollten nicht in Staaten und Bevölkerungen getrennt leben, die ihr je besonderes Recht haben, sondern glauben, dass alle Menschen unsere Volksgenossen und Mitbürger sind. Es sollte nur eine Lebensform und eine Staatsordnung geben, wie eine zusammenweidende Herde nach gemeinsamem Gesetz aufgezogen

  wird. Der Gott, der diesen Staat zusammenhält, in dem es keine Tempel oder Götterbilder gibt, ist die Liebe.“ (Äußerungen kynischer und stoischer Philosophen)

Das Christentum übernimmt die Hauptbegriffe der Griechen – und verfälscht sie ins Gegenteil. Eros, Liebe zur Menschheit als kosmopolitische Verbundenheit, wird zur Agape, zur Hilfeleistung für einen zufällig von Gott vor die Füße geworfenen Leidenden – ohne politische Folgen. Eine Schicksalsgemeinschaft zwischen Helfern und Hilfsbedürftigen, Erwählten und Verworfenen, gibt es nicht. Hat man das Gröbste getan, kann man sich des Hilfsbedürftigen elegant entledigen. So funktionieren Brot für die Welt, Misereor und die gesamte Entwicklungshilfe, die allesamt nur Katastrophen mildern, aber keine politischen Veränderungen herbeiführen wollen.

Die zwei Staaten des Weisen, in Einheit verbunden, spaltet Augustin in zwei konträre Gebilde, die bis zum Tage der messianischen Wiederkehr in mörderischem Streit liegen – durch göttlichen Befehl in Scheinfrieden aneinander gefesselt, bis der teuflische Staat in die Hölle wandert und der göttliche in den Himmel.

Die friedliche Menschheitsherde, von gemeinsamer Liebe und Vernunft geleitet, wird zur Lämmerherde, die vom göttlichen Hirten am Ende aller Tage für immer getrennt wird:

„Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit und werden vor ihm alle Völker versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zu seiner Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!“

Dass die Guten die Rechten und die Bösen die Linken sind, bestimmt noch heute die parlamentarische Sitzordnung. Aus universeller Vernunft wird ein Gottessohn, der die Menschheit in alle Ewigkeit zerspaltet. Den Verdammten dieser Erde zu Hilfe kommen ist kein Gebot politischer Gerechtigkeit. Es ist eine Situationsaktion, die nicht einmal den Schwachen selbst gilt, sondern einem unsichtbaren Fabelwesen. Ohne dieses hätten es die Armen und Leidenden gar nicht verdient, dass man ihnen zu Hilfe eilt. Almosenempfänger sind bloße Hilfs-Objekte oder Mittel, um die Seligkeit zu gewinnen.

Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Und was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden in die ewige Pein gehen, aber die Gerechten in das ewige Leben.“

Dem Hirten, dem Richter über die Welt mit dem flammenden Schwert, ist die Rettung eines auserwählten Schafes wichtiger als die Bergung der ganzen Herde oder gesamten politischen Gemeinde. Das gilt gleichermaßen vom verlorenen Groschen, wie vom verlorenen Sohn. Man muss verloren gegangen sein, dass man rettungswürdig wird.

„Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, so er der eines verliert, der nicht lasse die neunundneunzig in der Wüste und hingehe nach dem verlorenen, bis daß er’s finde? Und wenn er’s gefunden hat, so legt er’s auf seine Achseln mit Freuden. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freuet euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen.“

Das sind die Verworfensten: Menschen, die der Buße nicht bedürfen, weil sie sich selbst Rechenschaft ablegen und aus Fehlern lernen können. Sünder sind vernarrt in ihre Schuld, damit sie von Erlösern abhängig bleiben. Mündige Menschen sind in der Lage, ihre Fehler und Versäumnisse zu analysieren und angemessene Schlussfolgerungen zu ziehen. Übernatürliche Instanzen – überflüssig. Heteronome haben keine Selbstwahrnehmung. Sie müssen sich diktieren lassen, was sie getan haben, um von Strafe und Barmherzigkeit abhängig zu bleiben.

Der Himmel pickt sich seine Favoriten willkürlich aus der Herde. Politische Vernunft sorgt für das ganze Volk – durch Einrichten humaner Strukturen, die nicht kalt sind, wie agapöse Feuerzungen lästern, sondern der Devise folgen:

Der Mensch ist dem Menschen etwas Heiliges. Dieses All, das du siehst, das die göttliche und menschliche Welt umfasst, bildet eine Einheit: wir sind Glieder eines großen Körpers. Die Natur hat uns als Verwandte erzeugt, aus denselben Stoffen und zu denselben Zwecken. Nach ihrem Gesetz ist es schlimmer, Schaden anzurichten als zu erleiden. Nach ihrem Befehl sollen wir hilfsbereit sein. Erst dieser tätige Zusammenhalt der Menschen gibt dem Leben eine sichere Grundlage und seinen wahren Gehalt. Denn das Menschenleben beruht auf Wohltun und Eintracht; nicht Einschüchterung (terror), sondern gegenseitige Liebe verbindet die Menschen zu Genossenschaftlichkeit und gemeinsamer Hilfeleistung.“

Waren das nicht Worte Senecas, eines der reichsten Männer Roms und Erzieher Neros, der das Gegenteil dessen tat, was sein Lehrer ihm vermittelte?

Sind Moralisten nicht so perfekt wie ihre Reden, wird ihre Ethik von fürwitzigen Deutschen verabscheut. Gleichzeitig plädieren sie für Verantwortungsethik, die sich mit reiner Moral nicht plagen muss, sondern machiavellistische Skrupellosigkeit bevorzugen darf. Christen sollen vollkommen sein, sündigen aber dürfen sie wie der Teufel: wird ihnen doch allemal vergeben, wenn sie zerknirscht das Haupt beugen.

Die Deutschen feierten ein ganzes Jahr lang nicht nur den hasserfülltesten Antisemiten ihrer Geschichte, sondern den größten Feind der Moral. Niemand weiß, was Rechtfertigung ohne Werke, allein durch Glauben bedeutet. Werke sind moralische Taten. Die muss man sich radikal abgewöhnen und zum heiligen Sünden-und-Vergeben-Spiel übergehen. Gott hat die größten Sünder lieb, nicht die Gerechten, die auf ihre Autonomie stolz sind.

Christliche Botschaft prahlt mit ihrer Nächstenliebe, die alle griechische Moral in den Schatten stellen würde: „Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr Besonderes? Tun die Heiden nicht dasselbe? Ihr aber sollt vollkommen sein wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“

Eine selbstbewusste kosmopolitische Herde ist keine uniforme Masse wie im real existierenden Sozialismus. Der moderne Genie-Individualismus will, dass jeder Einzelne originell sei. Lernen als Nachahmen von Vorbildern – das Lernen der Kinder – ist als „epigonale Imitation“ verpönt. Eine utopische Weltgesellschaft, in der jeder derselben Vernunftmoral folgte, wäre für moderne Originalisten eine gesichtslose Despotie. Auf technisches Plagiieren und Uniformieren hingegen können sie sich problemlos einigen.

Heiden wollen alle Menschen zu Brüdern und Schwestern machen. Christen denken nur an ihre Brüder. Heiden wollen den gerechten Menschheitsstaat für alle. Christen denken nur an ihre separate Gemeinde, deren Haupt Christus ist. Christus ist das Haupt der Gemeinde, aber Scharfrichter der ganzen Welt.

Wie Christus das Haupt des Mannes, ist der Mann das Haupt der Frau. Margot Käßmann ist es vorbehalten, die Gleichberechtigung der Geschlechter als Creation des Heiligen Geistes zu präsentieren.

Die christliche Gemeinde ist eine Nachahmung des platonischen Idealstaats. Die totalitäre Herrschaft der Weisen verwandelte sich in die totalitäre Herrschaft des Messias.

Universelle Werte sind mit selektiver Nächstenliebe nicht vereinbar. Weshalb es unmöglich war, dass Menschenrechte christlichem Boden entstammen.

Ohne universelle Menschenrechte keinen Weltfrieden. Da Nächstenliebe nur inneren Seelenfrieden als Vorwegnahme des Reiches Gottes will, kann sie Frieden auf Erden nicht schaffen.

„Die moderne Friedensidee entbehrt der Begründung in der Heiligen Schrift. Wenn sich ihre Verkündiger dennoch auf Bibelworte berufen, ist das nur möglich durch Missdeutung der Bibelstellen: keine verwirft den Krieg mit der Begründung, dem Willen Gottes zu widerstreiten. Krieg und Frieden erscheinen vielmehr gleichberechtigt, unter gewissen Umständen als notwendig.“ (Hans Prutz, Die Friedensidee)

Einerseits:
„Selig sind die Friedfertigen“. Warum? „Denn sie werden das Reich besitzen“. Die Friedlichen werden die Herrschaft über die Welt erringen. Eine aparte Belohnung für die Demütigen und Anspruchslosen.

Andererseits:
„Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen gegen seinen Vater und die Tochter gegen ihre Mutter und die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert.“

Nicht nur die Menschheit wird gespalten, sondern jede Familie. Wer erwählt ist, hat mit seiner verworfenen Verwandtschaft nichts mehr zu tun.

Wie trefflich, dass C-Parteien und Klerus die Familie als christliche Erfindung ausgeben. Um das Weib kapitalismustauglich zu machen, muss es als Heimchen am Herd diffamiert werden, damit es als Heimchen im Männerbezirk seine Erfüllung finden kann. Wäre Familie eine christliche Invention, dürfte die Frau nicht dem heiligen Bezirk entfremdet werden.

Vergessen wir nicht: der heidnische Satz des Widerspruchs wurde vom Heiligen Geist nie diplomatisch anerkannt. Gott unterwirft sich nicht der Logik der Verdammten.

Es fehlt das Ziel. Welches Ziel? Das Ziel einer friedfertigen Menschheit. Diese Utopie halten alle Christen, die an das Reich Gottes glauben, für eine perfide Erfindung des Teufels. Selbst Popper verfiel der Verwerfung der Utopie durch seinen Freund Hayek, der den Hölderlinsatz: „Wer den Himmel auf Erden verwirklichen will, produziert stets die Hölle“, falsch deutete. Hölderlin meinte den christlichen Himmel, keine Utopie durch Vernunft. Welchem Kurs sollte Poppers Stückwerktechnologie folgen, wenn nicht dem fernen Ziel des Friedens?

Der moderne Westen ist weit hinter die Menschenrechts- und Friedensideen der Griechen und Römer zurückgefallen. Soviel zum Fortschritt und zur Überlegenheit der Modernen über die Alten. Man könnte konstatieren, die Moderne leidet unter paranoider Selbstverblendung.

Es fehlt das Ziel. Es fehlt der gemeinsame Kurs, auf den die Menschheit sich verständigen könnte.

Allmählich spricht es sich herum: der deutschen Politik fehlt es an Visionen – wie Stephan-Andreas Casdorff im Presseclub sagte. Ein törichtes Wort von Helmut Schmidt, der Poppers Utopieverbot blind folgte – und alle Visionen landeten in der Psychiatrie. Ganz allmählich erscheint ein Lichtlein am Horizont.

Die gegenwärtige Weltlage wird von zwei konkurrierenden nationalen Riesen beherrscht. China und Amerika belauern sich, um den Gegner in allen Bereichen zu überrunden. Dirk Kurbjuweit, SPIEGEL, hat relevante Fragen gestellt und die Antworten als Pro und Contra zweier Bücher zur Debatte gestellt. Es handelt sich um das chinesische Buch von Kishore Mahbubani „Hat der Westen verloren?“ und um die amerikanische Entgegnung „Der Dschungel breitet sich wieder aus“ des neokonservativen Autors Robert Kagan.

Versteht sich von selbst, dass Deutschland sich an der überfälligen Weltdebatte nicht beteiligt. Hierzulande will man es sich mit niemandem verderben. Freies Denken aber beruht auf Angstfreiheit, zumindest auf der Fähigkeit, seine Ängste wahrzunehmen, um sich von ihnen nicht dumm machen zu lassen. Außer Produkten vom Fließband hat Deutschland der Welt nichts mehr zu bieten. Der Geist in Neugermanien ist abhanden gekommen und wartet, dass er sich dem Sieger des Gigantenduells unterwerfen kann.

Das Buch von Kishore Mahbubani „entwirft eine Weltordnung, in der nicht mehr der Westen dominiert, sondern China die Nummer eins ist. Das darf nicht sein, findet Robert Kagan. Sein jüngstes Buch heißt zu Deutsch ungefähr: Der Dschungel breitet sich wieder aus. „Amerika und unsere gefährdete Welt“ lautet der Untertitel. Der Dschungel, das sind bei Kagan die anderen, die nicht westlichen, die autoritären Staaten, die Menschenrechte nicht achteten und sich insgesamt aggressiv verhielten. Sie könnten die Weltordnung bestimmen, würde sich der Westen nicht dagegen wehren.“ (SPIEGEL.de)

Kishore Mahbubani gründet seine Argumentation auf Geschichte: „Rund 1800 Jahre lang, bis 1820, seien China und Indien die größten Ökonomien der Welt gewesen. Dann kamen 200 Jahre westliche Dominanz, die in Mahbubanis Augen eine „Abweichung“ vom Geschichtspfad war. Diese Phase sei bald vorbei, China werde wieder die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt sein, die Normalität kehre zurück.“

Warum hat China seine Vorherrschaft verloren? Weil es die logischen Fähigkeiten der Griechen nicht gekannt habe. „Es ist jedoch nicht zu bestreiten, dass Asien und vor allem China ökonomisch rasant aufholen. Mahbubani führt das auf das „größte Geschenk des Westens an den Rest“ zurück, die Kraft des Zu-Ende-Denkens (reasoning), der Logik, der wissenschaftlichen Methode. Europa hatte dieses Erbe des alten Griechenland lange vergessen, bis es in der Renaissance wieder auftauchte und die Grundlage für den europäischen Aufstieg schaffte. Inzwischen, so Mahbubani, sei dieses Denken beim Rest eingesickert und befördere dort den Fortschritt in der Technologie, der Wirtschaft und der Politik. Die meisten Anführer in Asien hätten verstanden, dass es auf gutes, rationales Regieren ankomme, dass sie ihren Völkern verantwortlich seien, nicht umgekehrt.“

Eine falsche Analyse. Die Griechen haben Logik und wissenschaftliches Denken entwickelt, nicht aber den technischen Angriff auf die Natur. Erst die Christen verknüpften griechische Rationalität mit christlicher Naturunterwerfung.

Zudem: wie kann man verantwortungsbewusst regieren, ohne demokratisch zu regieren? Dass China verantwortungsbewusst regiert wird, würden alle chinesischen Systemkritiker vehement verneinen. Unter ihnen der Regisseur Jia Zhangke, der seinem Land vorwirft:

„Die Werte der Jianghu, die Ehrlichkeit und die Loyalität, gehen in der rasanten Entwicklung Chinas verloren. In meiner Geschichte geht es darum: Wenn alle diese Kernwerte verloren gegangen sind oder sogar zerstört wurden – wie lebt man dann weiter?“ (SPIEGEL.de)

China war ein friedliches Reich der Mitte, das auf den Pfeilern seiner alten Philosophen ruhte, die in grundlegenden Dingen den griechischen ähnelten. Es fühlte sich identisch mit dem Kosmos und lehnte Expansionismus und grenzenloses Fortschritts- und Machtdenken ab. Eben dies wird dem alten China vom amerikanischen Ökonomie-Historiker David Landes in seinem Buch „Wohlstand und Armut der Nationen“ vorgeworfen:

„Dieser Mangel an Austausch und Herausforderung, dieser Subjektivismus erklärt, warum keiner der Fortschritte gesichert war. Das Wissen der Europäer war für China nicht nur befremdlich und insgeheim kränkend. Mit seinem Überschwang und Enthusiasmus, mit seinem Drängen und seinem Wettkampffieber, mit seiner schonungslosen Hingabe an Wahrheit und Effizienz lief es dem chinesischen Denken diametral zuwider.“

Wahnhafter kann die Selbstidolisierung des Westens nicht sein. Um Effizienz ging es in der Tat, um Wahrheit aber ging es – nach Galilei – nicht mehr. Es ging um bloßen Nutzen und um Herrschaft über Mensch und Natur. Da Natur als unerkennbar definiert wurde, konnte Übereinstimmung mit ihr kein Kriterium sein.

Nicht China, der Westen setzt auf Subjektivismus, dem objektive Wahrheit schnuppe ist. China hingegen fühlte sich objektiv in Übereinstimmung mit der Natur. Wie kann man mit jemandem konkurrieren, der den Wettbewerb ablehnt? Wettkampf war die Beschönigung für den westlichen Eroberungstrieb. Zur globalen Konkurrenz wurde China mit Kanonenbooten gezwungen. Der Wind hat sich gedreht. Nun wird der Westen mit seinen eigenen Waffen besiegt.

Kishore Mahbubani ist empört über den Vorwurf, er sei ein Gegner der Demokratie.

„Das ist eine böse Unterstellung. Ich glaube wirklich, dass sich alle Gesellschaften auf lange Sicht für die Demokratie entscheiden. Aber ich weiß nicht, wann das sein wird. Alles braucht seine Zeit.“

Zu recht wirft er dem Westen vor, Demokratie mit Gewalt anderen Völkern aufoktroyiert zu haben. Gleichwohl hält er es für richtig, China mit undemokratischen Mitteln zu demokratisieren. Dass sich die unterentwickelten und vom Westen unterjochten Länder über ihre neue Stärke freuen und China innerlich frohlockend Amerika zu überrunden droht, kann ihnen niemand verdenken.

Nur was, wenn eine totalitär überwachte und übermächtige Supernation an der Spitze der Welt steht? Wird sie die Welt tyrannisieren oder sich ihrer uralten Traditionen besinnen und humanisieren? Machteliten sind nicht dafür bekannt, ihre Gewaltherrschaft freiwillig zu beenden.

Der unbekannte Faktor ist das Volk, das seine jahrhundertelange friedliche Geschichte nicht über Nacht verdrängt hat. Wird es eines Tages die Nase voll haben und die maßlosen Funktionäre davonjagen? Das letzte Wort im Reich der Mitte ist noch nicht gesprochen.

Kagan sieht in China, wen wundert‘s, eine eminente Bedrohung:

„Während Mahbubani überall Blumen sprießen sieht, erkennt Kagan vor allem Unkraut. Die liberale Weltordnung sei „wie ein Garten, sie wird ständig von den Naturgewalten der Geschichte belagert, dem Dschungel, dessen Ranken und Unkraut sie ständig zu überwuchern drohen“. Also müsse jemand den Garten pflegen, die Beete jäten, das Unkraut rausreißen. Das könnten nur die USA. Wenn Amerika der Welt nicht die Grenzen setze, so Kagans Grundthese, fühlten sich die Bösewichter der Geschichte frei, böse zu handeln. Das relative Paradies wäre verloren.“

Kishore Mahbubani widerspricht, dass China, dem Westen gleich, einen messianischen Impuls habe. „Das Riesenreich sei glücklich damit, in einer „Welt zu leben, die von multilateralen Regeln und Prozessen dominiert wird“.

Klingt eher nach Wunschdenken. Der Westen kennt nur Macht, die immer mehr Macht haben will. China hat eine andere Tradition. Doch selbst wenn China nicht die Absicht hätte, die Welt zu dominieren wie der Westen: würde Amerika lange genug warten, um sich von der chinesischen Harmlosigkeit überzeugen zu lassen? Oder würde es, weil es nur darwinistische Regeln kennt, dem Riesenreich alles zutrauen und prophylaktisch zuschlagen, um dem worst case zuvorzukommen?

Für den neokonservativen Kagan ist die westliche Freiheit der Natur abgetrotzt. Der Garten muss ständig von Unkraut gejätet werden, damit nicht alle Liberalität überwuchert wird. Hier zeigt sich die religiöse Naturfeindschaft der christlich-jüdischen Triumphalisten. Die heidnische Sünde wuchert allerorten und muss mit Gottes Sichel abgemäht werden.

„Rüstung? Selbstverständlich, sagt Kagan: „Bei allem Gerede von ’soft‘ power und ’smart‘ power ist es letztlich die amerikanische Sicherheitsgarantie, die Fähigkeit, hard power einzusetzen, um potenzielle Angreifer abzuschrecken und zu besiegen, die die wesentliche Grundlage bildet, ohne die die liberale Weltordnung nie überleben könnte.“ Militärische Interventionen kann er sich selbstverständlich vorstellen, sie seien manchmal notwendig, auch mit dem Risiko des Irrtums. Wer eingreife, könne einen Fehler machen. Aber wer nicht eingreife, könne ebenfalls einen Fehler machen.“

Das ist eine unverhohlene Kriegserklärung. Bis hierher und nicht weiter: du von Unkraut wucherndes Heidenland totalitärer Konfuzianer.

Kurbjuweits Fazit:

„Kagans Argumente kommen aus dem Zweifel, dem inneren Widerspruch, er kennt keine perfekten Lösungen, nur weniger schlechte. Wenn man so will, ist das ein Unterschied zwischen einer autoritären und einer liberalen Haltung“

Im Zweifel für die Amerikaner. Doch mit falschen Argumenten. Kagan kennt sehr wohl eine perfekte Lösung: wer sich Gods own country nicht unterwirft wird dazu gezwungen. Wenn nicht anders, mit apokalyptischer Gewalt. Das wird selten offen ausgesprochen, zumeist in subkutanen Schriften jüdisch-christlicher Fundamentalisten.

Kagan kennt keine Zweifel an der Berufung Amerikas, aber er weiß, dass er im Modus des Zweifels schreiben muss. Zweifel an sich sind noch kein Beweise für liberales Denken. Sonst müsste an der demokratischen Liberalität selbst gezweifelt werden. Im Ökonomischen und Technischen kennt der Westen nicht den Anhauch eines Zweifels. Nur seine Feuilletonisten müssen den Zweifel im basso continuo anstimmen, damit die Kritiker der anderen Seite ins Rätseln kommen.

Kagan glaubt felsenfest, dass Weltkonflikte mit Argumenten nicht lösbar sind. Rational-friedliches Denken hält er für leichtsinnig und blauäugig. Völker konkurrieren um Weltherrschaft, nicht um Wahrheiten im philosophischen Seminar.

Der weltberühmte amerikanische Enthüllungs-Journalist Seymour Hersh behauptet in seinem neuen Buch, das Problem der Amerikaner seien nicht die Idiotien Trumps, sondern die verhängnisvolle Dominanz der Neokonservativen. Darüber schreiben die Medien fast nichts.

Die Dinge sollte man naturwüchsig weiter treiben lassen, so Kishore Mahbubani, dann wird niemand China den Sieg nehmen können. Halten zu Gnaden, das Naturwüchsige ist das Autoritäre, erwidert Kagan: eben dies müsse mit aller Gewalt verhindert werden. Das war die Drohung. Eher wird Amerika die Welt zertrümmern als auf Position zwei herabzufallen.

Kurbjuweit sieht nur eine Lösung: „Es fällt schwer zu glauben, dass der Westen eine Weltordnung gegen China durchsetzen kann. Das Ziel muss ein Patt sein, eine friedliche Koexistenz. Die aber Waffen braucht, zur Abschreckung, wie im Kalten Krieg, denn China rüstet stark. So vertrauensvoll, so euphorisch, wie sich Mahbubani gibt, kann der Westen nicht sein. Sonst würde er sich in die chinesische Weltordnung einfügen müssen, und das könnte für einen liberalen Demokraten die relative Hölle sein.“

Der SPIEGEL-Autor hat die überfällige Weltdebatte mit Hilfe zweier Bücher auf eine Höhe gehoben, die es in deutschen Medien bislang nicht gab. Deutsche Geostrategen wie Michael Stürmer vergraben sich gewöhnlich in nationalistischem Autismus ohne Empathie in die Befindlichkeit anderer Länder. Kurbjuweit überwindet den Autismus und lässt Stimmen beider Positionen selbst zur Sprache kommen – ohne seine kritische Distanz aufzugeben.

Die ganze Welt ist unsere Heimat. Nur eine erdumspannende Friedenspolitik kann uns diese Welt herbeiführen. Die ökologische Friedenspolitik der Jugend müsste ergänzt werden durch die ökonomische und entmilitarisierte Friedenspolitik der Mächtigen.

Vernunft ist nicht gegen die Natur, sie wächst im Garten und bringt herrliche Früchte. Il faut, cultiver notre jardin: lasst uns unseren gefährdeten Garten hegen und pflegen.

Das muss das Ziel sein.    

 

Fortsetzung folgt.