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Sofort, Hier und Jetzt LXXXII

Sofort, Hier und Jetzt LXXXII,

Friedensnobelpreis für das erfolgreiche Apokalypsen-Duo Donald &Kim. Darauf wollen sich, nach unbestätigten Meldungen aus Hanoi & Washington, die beiden Weltstaatsmänner in Vietnam einigen. (Sollte Kim wegen inadäquater Frisur von den Norwegern abgelehnt werden, soll ersatzweise Merkel die kostbare Plakette in Empfang nehmen.)

Nach Erhalt der begehrten Auszeichnung bleiben für beide Parteien alle Optionen offen: vom Einsatz digitaler KI-ller (Kürzel aus KI und Killer) bis zur Erprobung neuer Nuklearraketen, die nicht nur Nordkorea, sondern die entferntesten Flecken in China und Russland erreichen. Die ahnungslos vor sich hin dämmernde Welt soll endlich wissen, auf welche Endsieger der Geschichte sie sich einstellen muss.

Nachdem das Ende der Geschichte unter friedlichen Vorzeichen vom Westen vehement abgelehnt wurde, soll nun das apokalyptische Ende als Erlösung der Menschheit so schnell wie möglich zum Ereignis werden. Und schon hat der Begriff „Apokalypse“ auch in hiesigen Gazetten Einzug gehalten.

Sonst nichts Neues in der deutschen Heimat, die allerdings nicht mehr Land der Dichter und Denker genannt, sondern zum Zukunftsraum der Neuro-Denker und Neuro-Dichter aufgeframt werden will. Die dazu passende futuristische Hymne

  gibt es schon:

„Die Neuro-Wissenschaft hat festgestellt,
Daß Marmelade Fett enthält.
Drum essen wir auf jeder Reise,
Marmelade eimerweise.“

Tatsächlich liegen auch heute frappierende Erkenntnisse der Neurowissenschaftler vor:

„Wir sollten uns viel häufiger umarmen und streicheln, sagt die Neurowissenschaftlerin Rebecca Böhme und erklärt, was menschliche Nähe in unserem Körper auslöst.“ (SPIEGEL.de)

Die neuronale Wirkung altmodischer Berührungen gilt allerdings nur für Erwachsene ab 18 mit vorbildlichem polizeilichem Führungszeugnis. Säuglinge und Kleinkinder dürfen auf keinen Fall durch körperliche Nähe verzärtelt und verwöhnt werden. Untersuchungen der Neuro-Pädagogik haben ergeben, dass Neugeborene unter Heulen und Wehklagen resilienter durchschlafen, als wenn sie von ihren Eltern haptisch dauerbelästigt werden.

Man muss sich der Frage stellen, ob Priester von pädophilen Neigungen nicht so flächendeckend heimgesucht worden wären, wenn man sie in der Kindheit nicht ständig ödipalen Reizen ausgesetzt hätte. Die Behauptung des papa christianorum, seine Diener der Kirche seien Opfer sündiger Verführungen der Welt, kann nicht einfach abgetan werden. Noch immer gilt der alte Satz: die Welt hat die Kirchen, die sie verdient. Damit zurück zur Määnzer Fassenacht, ähh, zur katastrophalen Weltlage.

Dem WELT-Historiker Michael Stürmer war es vorbehalten, den in Deutschland verfemten Begriff Apokalypse zu rehabilitieren und in die Debatte einzuführen.

„Wer nicht bis zum Ende eskalieren kann – Schachspieler wissen das –, verliert schon am unteren Ende der Eskalationsleiter und ist aus dem großen apokalyptischen Spiel.“ (WELT.de)

Game over, s’war nur ein Spiel, werden sie sagen, wenn sie aus sicherer Entfernung vom Monde aus das Inferno ihres Heimatplaneten beobachten können. Stürmer hat den Ehrgeiz, in der apokalyptischen Entscheidungsschlacht bis zum letzten Akt auszuharren. Ohne anschwellenden Gefahren-Kitzel ist das Leben hienieden unerträglich. Weltstrategen sind nicht nur Schachspieler, sondern eskalierende Kitzel-Experten, die das Spiel nicht eher aufgeben, bis alle Beteiligten die Heilsgeschichte bis zur Neige ausgetrunken haben. Doch ohne Sorge, sei ohne Sorge, die Geschichte des Heils beginnt auf dem Mond von vorne.

„Eine Rakete mit der israelischen Sonde „Bereschit“ an Bord ist erfolgreich Richtung Weltall gestartet. „Bereschit“ ist der hebräische Name des 1. Buch Mose in der Bibel.“ (SPIEGEL.de)

Gott erhält eine zweite Chance, sein Fiasko auf Erden durch Planetenhopping zu revidieren und den Mond in sechs Tagen in eine neue Heimat des Menschengeschlechts zu verwandeln.

Unter der tröstlichen Perspektive der Heilsgeschichte-Prolongation können wir uns nun ungestört dem finalen Inferno der Menschheit widmen. Niemand, außer den von Gott Verworfenen, muss das Ende mit Schrecken fürchten. Das Geschick des Menschen auf Erden ist besiegelt. Da capo auf dem Mond.

Was empfiehlt Stürmer den Deutschen, die sich davor drücken, das Spiel bis zum bitteren Ende zu spielen?

„Europäische Verteidigung müsste sich entweder auf eine minimalistische und symbolische Rolle reduzieren – und dann wäre sie sinnlos. Oder aber wieder lernen, dass ohne die USA in definierten Positionen und Stärken europäische Sicherheit gegenüber den Erben der Sowjetunion nicht zu haben ist. Mit den USA wird es schwierig genug, ohne die USA aber unmöglich.“

Mit anderen Worten: entweder ertragen wir Ekel Donald oder wir gehen vor die Hunde. Allein auf weiter Flur sind wir verloren. Selbst Amerika ist unter Trump eine „lose Kanone“. Gesinnungsethischen Rigorismus gegen den Zertrümmerer der westlichen Allianz können wir uns nicht leisten. Moralische Überlegenheit über Trump wird uns mehr kosten als wir zahlen können. Solange wir unter dem amerikanischen Schutzschirm geborgen waren, konnten wir uns lässliche Sünden gegen Realpolitik – wie Friedensbewegung und internationale Gutmenschenpolitik – erlauben. Die Konsequenzen mussten wir ja nicht tragen. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut – kann man sich nur im Schutz robuster Bodyguards leisten.

Die infantile Zeit ist vorüber. Nun heißt es, den heiligen Eid zu schwören, das Vaterland allein aus eigener Kraft zu verteidigen. Doch was findet Stürmer vor? Eine Trümmerlandschaft funktionsuntüchtiger Panzer, Flugzeuge und Gorch Focks.

„Eine Weltmacht hat überall Interessen, oder sie hört auf, Weltmacht zu sein. Die USA nähern sich gefährlich der Zone der Unbestimmtheit, und die Europäer schauen beklommen zu, wie über ihr Schicksal gewürfelt wird.“

Eine Weltmacht an sich gibt es nicht. Eine friedliche Weltmacht hat friedliche, eine imperiale imperiale Interessen. Zu welcher Kategorie gehört Amerika? Bislang war sie eine Weltmacht, deren imperialen Interessen sie als humane ausgab. Das geht solange gut, solange die humanen die Machtinteressen überwiegen.

Bei Dabbelju Bush ging die Hüte-Rolle der USA zu Ende. Nehmen und Geben mussten neu austariert werden. Obama wollte die missionarische Fürsorgerolle erneuern, ohne zu bedenken, dass eine passiv-verlässliche Machtpolitik solange dazu gehört, solange Rivalen den Alphariesen vom Thron stürzen wollen. Er definierte rote Linien, ohne seinen Worten Taten folgen zu lassen.

So begann der Riese unglaubwürdig und unzuverlässig zu werden. Die hohen Predigttöne wurden als Dekadenz verstanden. Man schwächt den Frieden, wenn man einstige Rivalen aus dem Kalten Krieg verächtlich behandelt. Das calvinistisch-erwählte Gods own country war zurück und verlangte den Kotau seiner Gegner. Die Enttäuschung über den demokratischen Missionar, der friedliche Zusammenarbeit angeboten, aber nicht eingehalten hatte, verstärkte die Zeitenwende: weg von internationaler Kooperation, hin zu neu erwachten nationalen Egoismen.

Trump gewann gegen Hillary, weil es ihm gelang, das Gefühl des Ausgebeutet-Werdens der Schwachen aggressiv auf den Punkt zu bringen. Amerika hatte zu viel Mühe und Geld in der Welt aufwenden müssen, um seine Alpharolle aufrechtzuerhalten. Von dieser Globalisierung profitierten die Reichen, die Armen verloren ihre Arbeitsplätze oder kehrten als Invaliden nach Hause zurück. Das konnte nicht ewig gut gehen.

Dem Milliardär gelang es, in der Rolle des Welträchers die Ausgebeuteten für sich zu gewinnen. Der Rückzug auf nationale Egoismen wurde verstärkt durch die Deutung der Zeit als finale Endzeit. Wenn der Herr kommt, gibt es viele Verlierer und wenige Gewinner. Zu den Gewinnern gehört das neue Kanaan. Die Kluft zwischen dem Erwähltsein und der desolaten Lage der Verlierer mitten im Neuen Kanaan wurde unerträglich.

Im Endkampf um die besten Plätze im Jenseits gibt es keinen Altruismus. Wer sich von Gott berufen fühlt, bietet keinem Verworfenen an, für ihn in die Hölle zu wandern. So weit geht keine Nächstenliebe. Selbst der Erlöser am Kreuz wanderte nur für kurze Zeit in die Hölle, um am dritten Tag schon auf die Erde zurückzukehren und am fünfzigsten gen Himmel zu fahren. Nicht einmal die Bitte des reichen Mannes in der Hölle um einen Tropfen Wasser ließ Abraham durchgehen:

„Als er nun in der Hölle und in der Qual war, hob er seine Augen auf und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich mein und sende Lazarus, daß er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme. Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, und Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun aber wird er getröstet, und du wirst gepeinigt. Und über das alles ist zwischen uns und euch eine große Kluft befestigt, daß die wollten von hinnen hinabfahren zu euch, könnten nicht, und auch nicht von dannen zu uns herüberfahren.“

Christlicher Glaube ist keine Politik, er will die Welt nicht gestalten und retten, er will sie vernichten. Gericht über die Welt will Gott halten, seine Frommen gehören zu den Gerichtsvollziehern.

„Freilich ist das Pneuma (der Geist Gottes) nicht ein Prinzip der Weltgestaltung. In dieser Hinsicht ist der Inhalt des christlichen Handelns gleichgültig geworden.“ (Bultmann, Das Urchristentum)

Bultmann hat in diesem Sätzchen die Politik Merkels vorweg genommen. Das Tun in der Welt dient allein der Heraufkunft der künftigen. Für sich genommen, ist weltliche Politik ein sündiges, gleichzeitig durch Gnade gereinigtes Tun in der civitas terrena, für die Ewigkeit ohne Belang.

Während der Akzent der deutschen Christen auf der ecclesia patiens, der sündig-leidenden Kirche liegt, liegt er bei den Amerikanern auf der ecclesia militans et triumphans, der militanten und siegenden Kirche. Die Eroberung des neuen Kontinents erlebten die ersten Europäer wie einst die Eroberung des Landes, wo Milch und Honig fließt, durch die Kinder Israel. Da gab es keinen augustinischen Dualismus aus Reich Gottes und Reich des Teufels.

Freilich, die Euphorie der ersten Siedler konnte nicht ewig währen. Der Sieg über Hitlerdeutschland freilich versetzte das Riesenreich wieder in das Hochgefühl der wahren Erwählten. Danach ging‘s bergab.

Spätestens bei Ronald Reagan öffnete sich die alte Kluft zwischen Oben und Unten. Die von Deutschen bewunderte Souveränität und Großzügigkeit der Befreier ging verloren. Die „unterentwickelten“ Staaten holten auf, die Rivalen drohten Amerika, die Führungsrolle in der Welt streitig zu machen. Zwar verlor die Sowjetunion den „Kalten Krieg“, doch Gorbatschow schien die Fähigkeit zu besitzen, die Niederlage in einen moralischen Sieg zu verwandeln. Er drohte, Amerikas Führungsrolle durch vorbildlich friedliches und ökologisches Verhalten zu übernehmen.

Das war zu viel für die konservativen Herrenmenschen der USA. Sie verloren den Eifer für demokratische Vorbildlichkeit und ließen ihrer herrschsüchtigen Gier freien Lauf. Zwar wurden noch immer Legenden verbreitet, sie wollten die Welt von Tyrannen befreien – wie Irak von seinem Despoten Sadam. Allein, es waren vor allem Öl- und geostrategische Machtinteressen, die sie zum Kriegszug im Krisengebiet des Nahen Ostens bewogen.

Edelmann Obama wollte mit rhetorischem Aufwand den bigotten Eindruck korrigieren, allein, es gelang ihm nicht. Guantanamo, tägliche Drohnentote, die verächtliche Haltung gegenüber Russland, die schwankende und unzuverlässige Politik in Nahost verwandelten die schönen Parolen in Bigotterie.

Stürmer drängt die Deutschen in ewige Unterwerfung unter Amerika. Was auch immer sie über Trump denken, sollten sie für sich behalten und den äußerlichen Kotau machen. Dass die Völker der Welt, wenn man sie demokratisch betrachtet, alle gleichwertig sind, dass man sich unter Freunden um den besten Kurs streiten könnte: all dies muss Stürmer für eine Fata Morgana halten. Machtunterschiede sind für ihn Rangunterschiede. Eine internationale Friedenspolitik auf gleicher Ebene gibt es nicht für ihn. Diplomatie ist Heuchelei, Moral muss machiavellistischen Machtstrategien weichen.

Stürmers Realpolitik wird von Theo Sommer unterstützt. Zwei alte Männer, die in den Hochzeiten der Republik eine gewisse Rolle spielten, müssen mit ansehen, wie ihr erfolgreiches Wohlstandsprojekt unter dem Gewicht neuer Gegner und alter, aber unzuverlässiger Freunde zu zerbröckeln beginnt. Auch Sommer hält die Wiederaufrüstung Deutschlands für überfällig und zitiert aus Merkels Rede in München:

„Wenn wir keine gemeinsame Kultur der Rüstungsexporte haben, dann ist die Entwicklung von gemeinsamen Waffensystemen natürlich auch gefährdet. Das heißt, man kann nicht von einer europäischen Armee und nicht von einer gemeinsamen Rüstungspolitik oder Rüstungsentwicklung sprechen, wenn man nicht gleichzeitig auch bereit ist, eine gemeinsame Rüstungsexportpolitik zu machen.“ (ZEIT.de)

Im Gegensatz zu Stürmer versucht Sommer die Gründe der deutschen Weichei-Politik zu erkunden:

„Die Diskussion wird aber auch aus einem anderen Grund schwierig werden: Hier stehen sich wieder einmal Moralpolitik und Realpolitik gegenüber – man könnte mit Max Weber sagen, Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Ich zähle mich zu denen, die sich ein starkes Europa wünschen, das sich in der Welt von morgen behaupten kann, ungeachtet Trumpscher Unberechenbarkeit, russischen Ausgreifens und chinesischen Auftrumpfens. Dafür müssen wir die Bereitschaft zur europäischen Interdependenz stärken, zur gegenseitigen Abhängigkeit. Ein paar Federn werden wir da wohl lassen müssen.“

Da müssen wir selbst bei Max Weber nachlesen:

„Wir müssen uns klarmachen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann ‚gesinnungsethisch‘ oder ‚verantwortungsethisch‘ orientiert sein. Nicht daß Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet: ‚Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘– oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.“ (Max Weber)

Der unversöhnliche Gegensatz zwischen Gesinnung und Verantwortung beruht auf dem paulinischen Gegensatz zwischen Gutseinwollen und nicht Gutseinkönnen.

„Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“

Die paulinische Spaltung des Menschen in einen göttlichen und satanischen Teil stand im unversöhnlichen Widerspruch zur sokratischen Einheit des Menschen: was der Mensch durch Vernunft erkannt hat, wird er auch tun. Er kann nicht anders.

Schon bei Aristoteles begann die Aufspaltung des Menschen in verschiedene Charaktervermögen, die nicht einfach harmonieren. Ursache der allmählichen Spaltung war der Verfall der Polis. Wie konnte die Demokratie verfallen und sich durch erbitterte Feindschaften und Klassenkämpfe zerlegen, wenn die Menschen mit sich im Reinen gewesen wären?

Der Zerfall der Polis konnte nur auf dem Zerfall der Persönlichkeit beruhen. Das Moralische polarisierte sich. Die Vernunft zerfiel in eine Instanz, die zwar sagen kann, was der Mensch soll. Doch der Mensch wird von verschiedenen Instanzen beherrscht, die absolut nicht übereinstimmen: sie rissen Denken, Fühlen, Wollen und Tun auseinander. Was er dachte, fühlte er nicht. Was er fühlte, wollte er nicht. Was er wollte, tat er nicht.

Bei Aristoteles gab es noch die Möglichkeit, durch tugendhaftes Einüben eine leidliche Einheit herzustellen. Nur dem Weisen gelang die Harmonie aller Seelenteile.

Im Christentum zerfiel die Möglichkeit vollends, durch autonomes Lernen zur Einheit aus Denken, Wollen und Vollbringen zu kommen. Der Mensch zerfiel heillos in unversöhnliche Fragmente, den Früchten des satanischen Sündenfalls.

„Das eigentliche Wesen des Menschen ist nicht der Logos, die Vernunft, der Geist. Richtet man an das Urchristentum die Frage, worin es denn liege, kann die Antwort nur lauten: im Willen. Menschsein ist immer ein Trachten-nach, als ein Wollen.“ (Bultmann)

Doch langsam. Auch Aristoteles hatte den Willen eingeführt, um die streitenden Seelenelemente zu versöhnen. Sein Wille war nicht der Wille der Gläubigen, der nichts anderes mehr wollte – als nichts mehr zu wollen und vor Gott zusammenzubrechen, um nach Erlösung durch unverdiente Gnade zu flehen. Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben. Ich will, hilf meinem kraftlosen Willen.

Die Absage an die Kraft eigenen Wollens war Luthers Absage an die Werke oder sein Glauben an die Rechtfertigung allein durch den Glauben. Griechische Vernunft und autonomer Wille wurden im Christentum der Erlösungsmacht Gottes geopfert. Der Mensch kann nichts und will nichts. Was er nicht kann und kraftlos will, muss er von Gott erbetteln. Streng genommen gibt es den „alten Menschen“ nicht mehr, wenn er durch Erleuchtung und Taufe zum neuen Menschen wird. Äußerlich ist er derselbe, innerlich wohnt Gott in ihm und hat ihn in ein völlig neues Wesen verwandelt.

Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“

Wenn der Mensch ein impotentes Wesen des Willens ist, der nichts wollen darf, ist Gott ein omnipotentes Wesen, das aus reinem Willen besteht. Gott ist kein Wesen der Vernunft. Wie könnte er allmächtig sein, wenn er sich der Logik einer Vernunft unterordnen müsste? Seine Allmacht besteht darin, alles wollen zu dürfen, was er in grenzenloser Will-Kür (Kür seines Willens) will. (Das ist der Ursprung der technischen Grenzenlosigkeit der Moderne.) Sein Wollen untersteht keiner Instanz einer Moral oder logischen Vernunft. Heute hält er seine Schöpfung für meisterhaft, morgen für eine Katastrophe. Heute hält er den Menschen für die Krone der Schöpfung, morgen für einen teuflischen Rohrkrepierer.

Für mittelalterliche Scholastiker war Vernunft das Erbe der Griechen. Wollten sie das griechische Heidentum überwinden, mussten sie die Vernunft dem allmächtigen Willen Gottes untertan machen. Diesen omnipotenten Willen nannten sie – Liebe. Die Liebe Gottes war seine Allmacht, die aller Vernunft überlegen war. Gleichgültig, was Gott tut, er tut es aus reinem Willen, aus konzentrierter Liebe.

„Die Liebe Gottes, die höher ist denn alle Vernunft …“

In der sokratischen Vernunft gab es keine Spaltung des Menschen. Der Begriff „Wille“ kommt bei Sokrates nicht vor. Wenn der Mensch seine Vernunft walten ließ, konnte er nicht anders als vernünftig sein. Die Persönlichkeit war eine Einheit, mit der Natur in Einheit verbunden. Da gab es keine teuflischen Kräfte, die Gesinnung gegen Verantwortung, Denken gegen Tun ausspielen konnten.

Gesinnung wird im Neuen Testament zur Übernahme der Gesinnung Christi:

„Ein jeglicher sei gesinnt wie Jesus Christus auch war.“

Verantwortung wird zur Antwort vor Gott. Der Mensch beantwortet die Frage Gottes: Adam, wo bist du? Für Max Weber ist Gesinnungsethik die Ethik der Christen, die sich auf bloßes, hilfloses Wollen beschränken, den Erfolg ihres Betens und Flehens aber Gott anheim stellen müssen. „Der Eigenwert des ethischen Handelns soll allein seiner Rechtfertigung genügen.“ (Weber) Mit anderen Worten: der Mensch muss nur nachweisen, dass er Richtiges wollte. Zum Erfolg seines Wollens kann er nichts mehr beitragen.

Eben diese Schwäche soll, nach Weber, überwunden werden. Der Mensch ist selbst dafür zuständig, dass sein Wollen zum Vollbringen wird. Verantwortung ist keine Antwort mehr an Gott, sondern an seine eigene Persönlichkeit.

Max Weber wollte sich vom lutherisch-gespaltenen Menschen lossagen, auf dass der moderne Mensch mündig werde. Doch auch seine Gesinnung war zu schwach, um die Mündigkeit des Menschen durch widerspruchsfreie Vernunft zu erreichen. Auch er blieb zwischen guter Absicht und unguter Tat gespalten. Gesinnung blieb moralisch, das Tun musste sich der machiavellistischen Amoral unterwerfen.

Augustins Zweireichelehre verurteilte den Menschen zur Bigotterie: Im Reich des Teufels musste er sündigen, im Reich Gottes wurde die Sünde durch Gottes Gnade vergeben. „Liebe und tu, was du willst.“ Das entspricht dem lutherschen Motto: „Sündige tapfer, wenn du nur glaubst.“ Im Glauben sind alle Sünden vergeben.

Das Christentum ist die Religion der perfekten Doppelmoral. Weber wollte diese Doppelmoral überwinden, indem er den modernen Menschen ermahnte, selbst für das Vollbringen zu sorgen. Doch den Zwiespalt zwischen Absicht und Tun, humaner Moral und machiavellistischer Amoral zu überwinden, misslang ihm. Aus religiöser Heuchelei wurde eine säkulare.

Hier stehen Stürmer und Sommer. Aus Angst um Deutschland ermahnen sie zu Aufrüstung und Militanz. Auf moralische Integrität müsste leider verzichtet werden. Wer reine Moral über die schmutzigen Gesetze der Realität stelle, mache sich wehrlos gegen jeden Aggressor. Moral müsse sich beschränken auf die private Sphäre. Im politischen Reich der Starken und Gewissenlosen habe sie nichts zu gewinnen.

Die Einheit von Gesinnung und Verantwortung ist keine perfekte Moral. Wie wir theoretisch irrtumsfähig sind, so sind wir es auch moralisch. Was wir uns vornehmen, können wir nur durch Versuch und Irrtum lernen. Oft werden wir aus Schwäche zu amoralischem Tun genötigt. Doch das Ziel einer moralischen Utopie muss mit allen Kräften angestrebt werden. Wer mit Absicht Amoralisches tut, obgleich er anders könnte, macht sich zum menschenfeindlichen Zyklopen.

Wie können wir heute sagen, Friedenspolitik bringe keinen Frieden, solange wir es nicht versucht haben? Wenn jedes Land gegen jedes andere giftet, werden friedlose Gesinnung und Verantwortungslosigkeit die Welt in ein Inferno stürzen.

Stürmer und Sommer haben die religiöse Spaltung der Moral weder wahrgenommen noch überwunden. Solange die Völker der Welt noch unabhängig voneinander waren, konnte ein einseitiger Pazifismus die Selbstauslöschung der eigenen Nation bedeuten. Altruismus und Egoismus schienen oft unvereinbar, mussten es aber nicht sein. Friede war immer möglich.

Inzwischen ist die Welt zur Einheit geworden. Das Schicksal des Einen wird zum Schicksal des Anderen. Die Unversöhnlichkeit von humanem Wollen und inhumaner Politik wird zur Selbstauslöschung der Menschheit führen.

 

Fortsetzung folgt.