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Sofort, Hier und Jetzt LXXVII

Sofort, Hier und Jetzt LXXVII,

in München und Davos, da ist was los, aber immer noch zu wenig – wie man im SPIEGEL lesen kann:

„Die Münchner Sicherheitskonferenz sollte sich daher vor allem mit der Frage befassen, wann ökonomische Konkurrenz in den Krieg führt, um genau das zu verhindern. Man kann nicht mehr über globale Sicherheit reden, ohne über globales Wirtschaften zu reden. Davos und München gehören zusammen.“ (SPIEGEL.de)

Wahrhaft, die Wirtschaftsweisen regieren die Welt. Woran man das erkennt? Sie haben die Stellung der mittelalterlichen Theologen übernommen. Gottesgelehrte wussten früher alles besser als die Weisen dieser Welt. Heute wissen die Ökonomen alles besser als all ihre akademischen Kollegen.

Mittlerweilen wissen sie sogar, dass wirtschaftliche Konkurrenz zum Krieg führen könnte. Oder müsste. Oder gar sollte? Zudem sind sie die besten Psychologen, die mehr über das Verhalten der Menschen zu sagen haben als Freud & Co.

Welche psychische Eigenschaft regiert den Menschen? Der Neid. Sagt ein Neuroökonom namens Armin Falk. Richtig gelesen: die Gesetze des exakten Kapitalismus werden durch exakte Gehirnforschung bestätigt. Bezogen sich die Theologen auf Dogmen der Offenbarung, so beziehen sich moderne Wirtschaftler auf Dogmen der Marktwirtschaft und die prästabilierten Furchen des Großhirns.

„Es widerspricht einem zentralen Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft, der aussagt: Arbeit muss sich lohnen. Neid ist das Unbehagen, dass andere etwas haben, was ich nicht habe. Es gibt negative Formen von Neid, die destruktiv sind und darauf zielen, andere schlechtzumachen.“ (SPIEGEL.de)

Bitte anschnallen, jetzt wird’s wissenschaftlich:

„In der Neuroökonomie kommen bildgebende, elektrophysiologische und

  peripherphysiologische Verfahren zum Einsatz. Am bekanntesten ist hierbei die Magnetresonanztomographie, bei der die Sauerstoffsättigung des Blutes in eng umschriebenen Bereichen des menschlichen Gehirns gemessen wird, was Rückschlüsse auf deren Aktivität in hoher räumlicher Auflösung erlaubt. Elektrophysiologische Methoden (z. B. Elektroenzephalografie) basieren auf der Messung elektrischer neuronaler Signale.“

Armin Falk gehört zu den führenden Neuro-Ökonomen. Da müssen zwei wesentliche Wissenschaften sich um der lauteren Wahrheit willen gefunden haben.

„In der Forschung von Falk geht es, allgemein gesprochen, um eine bessere, empirische Fundierung des ökonomischen Verhaltensmodells. Während das traditionelle ökonomische Modell (Homo Oeconomicus) perfekte Rationalität und Eigennutz postuliert, zeigen die Arbeiten von Falk, dass das menschliche Verhalten in der Regel nur beschränkt rational ist und dass neben einer engen Eigennutzorientierung weitere Motive menschliches Verhalten relevant sind, v. a. soziale Präferenzen wie Fairness und Vertrauen.“ (Wikipedia.org)

Halten wir fest:
a) rational ist egoistisch oder eigennützig. Fairness und Vertrauen müssen demnach irrational sein.
b) ein Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft besagt: Arbeit muss sich lohnen.

Dass Ratio soziale Gefühle ausschließt, können nur Roboter behaupten. Vernunft ist kein Verhalten des Kopfes, der im Zwiespalt liegt mit seinem „Bauch“ oder „Herzen“. Ein vernünftiger Mensch ist kein Spaltprodukt aus Unverträglichkeiten, etwa einem Guten und einem Bösen, wie Theologen den Paulus zitieren:

„Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes. Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. So ich aber tue, was ich nicht will, so tue ich dasselbe nicht; sondern die Sünde, die in mir wohnt …“

Dieses sich selbst hassende Menschenbild hat Europa erobert und mit allen Raffinessen versucht, den griechischen Glauben an den Menschen zu vernichten. Verschiedenen Renaissance- und Aufklärungsbewegungen gelang es dennoch, die Vernunft der Heiden in Relikten zu retten.

„Die sichtbare Übereinstimmung von Denken und Handeln, diese schlichte Rechtschaffenheit ohne Pathos, diese Bedürfnislosigkeit ohne Eitelkeit der Asketen, diese ruhige Sicherheit und Festigkeit in allen Lebenslagen, die dem Toben der Menge ebenso standhielt wie der drohenden Zumutung eines Gewaltherrschers, nicht zuletzt die heitere Gelassenheit im Tode: das war es, was an diesem einzigartigen Manne bei Mit- und Nachwelt einen unauslöschlichen Eindruck hinterließ.“ (Nestle über einen   griechischen Weisen, der unschuldig zum Tode verurteilt wurde)

Vernunft macht den Menschen zur denkenden, fühlenden Einheit. Was der Mensch fühlt, denkt er. Was er denkt, fühlt er, kann es in Worte fassen und in Taten umsetzen.

„Kein Mensch fehlt freiwillig“, bedeutet: kein Mensch tut Böses freiwillig. Durch eine hasserfüllte Umgebung wurde er zur Unvernunft genötigt. Die verschiedenen Zentren des Menschen wüten nicht gegeneinander. Vernunft ist friedliche Einheit des Menschen mit sich selbst. „Ich bin im Reinen mit mir“: diese abgewetzte Formel der Großspurigen war das tatsächliche Kennzeichen der Weisen.

Die gegenwärtige Krise der Moderne ist der Aufstand dieser schlichten Menschenvernunft – die auch in vielen nicht-christlichen Kulturen zu Hause ist – gegen die Spaltprodukte des Westens, bei denen die Linke nicht weiß, was die Rechte tut. Was sie mit der einen Hand aufbauen, zerstören sie mit der anderen.

Hier sehen wir den tiefsten Punkt der Unfähigkeit des Westens, seiner desolaten Gesamtsituation mit VERNUNFT zu begegnen. Was wir sehen, verdrängen wir, was wir tun müssten, wollen wir weder wissen noch in Politik umsetzen. Was wir erkannt haben, halten wir für Trug, damit wir uns nicht schämen müssen, wenn wir in paralysierter Erstarrung verharren.

Es handelt sich um einen sich rasch ausbreitenden Flächenbrand in den Unterklassen gegen ihre Regierungen, deren Tricks und Machenschaften sie immer mehr durchschauen. Sie werfen ihre Scheu vor Autoritäten weg und beginnen, die Schlauheiten der Mächtigen zu durchschauen. Die Völker hören und lernen voneinander. Die Verwandlung der Erde in ein globales Dorf hat das Gefühl der Zusammengehörigkeit hervorgerufen.

Über Jahrtausende ist es den Männerkulturen gelungen, ihre angemaßte Überlegenheit als göttliche, unfehlbare, höhere, wissenschaftliche auszugeben. Sie entwickelten eine abgesonderte Sprache, eine höhere Denkweise, eine Form der adligen, priesterlichen Inszenierung. Vor all diesen Muskelspielen konnten die Untertanen nur kapitulieren.

Diese Zeiten gehen ihrem Ende entgegen. Die stummen Massen werden beredt – im Shitstorm, jener grässlichen Untergrundsprache, die Freud das Unbewusste nannte. Im Modus des Verachteten, Tabuisierten und Verschmähten wird die Hass- und Trotzsprache nicht ewig verharren. Je mehr sie an die frische Luft kommt, je mehr wird sie den Tricks der komplexen Hochsprachen auf die Schliche kommen.

Überlegene Wahrheiten waren bislang die Maskeraden der Brillanten und Tüchtigen. Doch je mehr die Basis die Weisheiten der Oberschichten durchschaut, je weniger wird es diesen gelingen, den Unteren ein X für ein Y vorzumachen.

Die Oberen spüren, dass die Ungebildeten ihnen auf die Schliche kommen, weshalb sie in rasendem Tempo in die Zukunft flüchten. Nicht zurückschauen, alle Ursachen verwischen, den Tatort verwüsten, niemanden verantwortlich machen, die eigenen Machenschaften als höhere Geschichte und Offenbarung ausgeben, anderen den Teppich unter den Füßen wegziehen, die Vergangenheit löschen, ein hermetisches Elitenesperanto sprechen: bis jetzt gelang es den Mächtigen und Gewitzten, die Unerfahrenen beliebig an der Nase herumzuführen.

Was etwa soll mit folgenden Sätzen definiert werden?

„Unter ??? ist das Streben von zwei oder mehr Personen bzw. Gruppen nach einem Ziel zu verstehen, wobei der höhere Zielerreichungsgrad des einen i.d.R. einen geringeren Zielerreichungsgrad des (der) anderen bedingt (z.B. sportlicher, kultureller oder wirtschaftlicher ???). Der ??? bringt ein antagonistisches Element in die sozialen Beziehungen. Dies hat den Menschen und den Moralphilosophen seit Jahrhunderten theoretische und ethische Probleme bereitet. Wirtschaftsethik hat deutlich zu machen, dass der ???, sofern er unter einer geeigneten Rahmenordnung stattfindet, eine ethische Begründung hat: Er hält alle Akteure zu Kreativität und Disziplin an und garantiert so, dass die Allgemeinheit sehr schnell in den Genuss der relativ besten Problemlösungen gelangt. ??? ist nach Böhm „das großartigste und genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte”.“ (Gabler-Wirtschaftslexikon.de)

Als ob die ganze Menschheit sich keinen Reim auf die Machenschaften der Erfolgreichen machen konnte. Als ob alle „Ethiker und Philosophen“ das Handtuch geworfen hätten vor den „Antagonismen“ der Nutznießer. Als ob jetzt erst das Licht gekommen sei, um die einzig gültige „Wirtschaftsethik“ zu formulieren.

Ja, es ging um die Definition von Wettbewerb. Der alle Tugenden dieser Welt umfassende Wettbewerb erzieht die Menschheit zu Kreativität, Disziplin und besten Problemlösungen.

Ein nagelneues Wort aus der Linguistik der Monetenmacher darf nicht fehlen: Entmachtungsinstrument. Wer kreativ und diszipliniert ist, hat den Zauberschlüssel in der Hand, um traditionellen Mächten den Hals umzudrehen. Jeder kann‘s schaffen. Jeder kann nach Oben. Jeder kann es den philosophischen Losern der Vergangenheit zeigen, wie man mit BIP und BSP die Probleme dieser Welt löst.

Gewiss, der Urkapitalismus eines Adam Smith und die Freiheitsparolen der Französischen Revolution hatten die Kraft, die Macht des Adels und Klerus zu stürzen. Doch die bürgerlichen Revolutionäre versteinerten und etablierten sich schnell als nächste Adelsschicht, ausgestattet mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, der Macht des Fortschritts und der Gewalt ihres Reichtums. Der dritte Stand ernannte sich zum ersten und schloss den vierten ebenso aus, wie er einst selbst von den alten Mächten ausgeschlossen wurde.

Entmachtung des Establishments? Welch ein Hohn! Nicht mal in Amerika stimmt der Lockruf: jeder hat es in der Hand, es vom Tellerwäscher zum Präsidenten zu bringen. Abgesehen von frühesten Anfängen der Kolonisierung hat die Parole nie gestimmt.

„Arbeit muss sich lohnen“ soll ein Gesetz der sozialen Marktwirtschaft sein? Schwachsinn. In der Nachkriegszeit wurde die Marktwirtschaft zur sozialen gemacht, damit nicht nur die Arbeitenden ihren Anteil bekämen, sondern alle, die keine Erwerbsarbeit hatten oder dazu unfähig waren: Frauen, Kinder, Alte, Arme und Kranke.

„Arbeit muss sich lohnen“ ist eine Variante des Spruches: Arbeit macht frei, den die Nazis in die Tore der KZs eingravieren ließen.

„Heinrich Beta verwendete die Formulierung 1845 in der Schrift Geld und Geist: „Nicht der Glaube macht selig, nicht der Glaube an egoistische Pfaffen- und Adelzwecke, sondern die Arbeit macht selig, denn die Arbeit macht frei. Das ist nicht protestantisch oder katholisch, oder deutsch- oder christkatholisch, nicht liberal oder servil, das ist das allgemein menschliche Gesetz und die Grundbedingung alles Lebens und Strebens, alles Glückes und aller Seligkeit.“ (Wiki)

1848 waltete noch Revolutionsstimmung, die Befreiung von alten despotischen Mächten. Und dennoch irrten die Revolutionäre. Den christlichen Erlösungsglauben hatten sie nur modernisiert und transformiert. Die Instrumente änderten sich, der Erlösungsgedanke blieb. Die neue Parole war nichts als die uralte Botschaft, den Sündenfall durch Arbeit im Schweiße seines Angesichts zu überwinden.

Luther hatte die Sündenarbeit moralischer Werke in Demuts- und Selbstvernichtungsarbeit verwandelt. Francis Bacon hatte die Arbeit der Wissenschaft – Wissen ist Macht – zur Überwindung des Sündenfalls eingesetzt. Fortschritte des technischen Wissens sollten das verloren gegangene Paradies zurückerobern.

Dennoch blieb der Sinn aller Transformationen derselbe: Arbeit ist Erlösung von Sünden. Das Neue Testament hatte Arbeit in die Segens- und Verfluchungsformel gegossen: Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen. Malocher vor dem Herrn werden selig, Heiden und Philosophen, die sich den ganzen Tag auf der Agora herumtrieben, sollten in der Hölle schmoren. Muße, die autonome Lebensgestaltung, wurde als Aufstand gegen Gott geächtet.

Arbeit war keine selbstbestimmte Weise, seinen Unterhalt zu verdienen und seine Fähigkeiten zu entwickeln: Arbeit war Fluch und Erlösung.

Die Nationalsozialisten benutzten die Arbeits-Parole zur Rechtfertigung ihrer Judenvernichtung. Die Mammonisten arbeiten nicht, sie ziehen den ehrbaren arischen Arbeitern nur den Zaster aus der Tasche. Darauf steht die Todesstrafe.

Auch Kapitalismus und Sozialismus sind nichts als Erlösungsideologien mit Hilfe der Arbeit. „Wer hart arbeitet, jeden Tag aufsteht und das ein ganzes Leben lang“, nur der verdient eine Armenrente, mit der er knapp über die Runden kommt. So die SPD, die unter einem gerechten Leben kein würdiges, sondern ein hart arbeitendes Leben versteht.

Nicht zu vergessen: Arbeit heißt „die Welt vernichten oder fluchen“ (Hegel). Mit Arbeit, die auch von Maschinen exekutiert werden kann, muss die Natur vernichtet und verflucht werden. Warum haben SPD, Gewerkschaften und alle Linken keinen Draht zur Ökologie? Weil die Rettung der Natur für sie den Hungertod durch Vernichtung ihrer Arbeitsplätze bedeutet.

Die SPD wird nicht nur ihren Schröder‘schen Hass auf das Lumpenproletariat, sondern ihre christliche Verwerfung der Muße und ihre Naturfeindschaft überwinden müssen.

In der ZEIT erschien zum ersten Mal eine Anamnese der Proletenpartei. Mit manch kritischen Anregungen, die den GenossInnen zur Selbstbesinnung dienen könnten. Die philosophischen Grundlagen des Kapitalismus freilich bleiben unerwähnt.

„«Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, aber nicht Revolution machende Partei», benannte im Jahr 1893 ihr Cheftheoretiker Karl Kautsky den merkwürdigen Umstand, dass die SPD den Umsturz der Verhältnisse propagierte, ohne ihn je zu betreiben. Sie gerierte sich als radikale Kraft, ohne radikal handeln zu müssen. «Wir brauchen den heutigen Staat, die heutige Gesellschaft nicht zu zerstören, sie zerstört sich selbst», lautete das Credo, in dem die SPD ihr strategisches Defizit zum Verschwinden brachte. Der Umsturz würde kommen, so oder so. Deshalb schien es ja so wichtig, die Partei mit Vorsicht und Geduld der Macht entgegenzuführen.“ (ZEIT.de)

Man kann nicht radikal sein, ohne die Defizite des „Feindes“ präzis zu benennen. Der Ursprung der SPD ist der Marxismus, vom dem er sich später distanzierte. Auch der Marxismus war nicht radikal, sondern nur ein variierter Erlösungsglaube. Die omnipotente Geschichte würde es schon richten. Solange das Reich der Freiheit nicht seine Tore öffnet, bleibt die religiöse Anbetung der Flucharbeit. Kann es jemanden überraschen, dass der Satz: wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen, in keinem marxistischen Erbauungsbuch fehlen darf?

Warum versagen alle linken Parteien in Europa? Weil sie vergaßen, dass der Kampf gegen den Kapitalismus sich nicht national beschränken lässt. Lafontaine und Schröder verkrachten sich, weil Oskar den globalen Kapitalismus angriff, während Schröder nichts als die nationale Macht haben wollte. Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Auch Corbyn will den Sozialismus auf nationalem Boden. Die EU ist für ihn ein Moloch, an den er sich nicht ran wagt.

Der Sozialismus begann als Internationale. Das war der richtige Ansatz. Doch was wurde daraus? Es war das Kapital, das sich international vernetzte und dessen Macht sich heute über den ganzen Globus erstreckt.

Die einzige funktionierende Internationale der Gegenwart ist heute die winzige Clique der Milliardäre. Wieder einmal sind sie den weltscheuen Proleten voraus, haben ihre übernationalen Netzwerke aus Gold und Algorithmen gestrickt und lassen niemanden durch die Tür, der nicht die geheimen Zeichen kennt.

Welche Tragik, dass Sahra Wagenknecht heute sich auf eben den nationalen Kurs beschränkt, für dessen Ablehnung ihr Partner einst den Bruch mit der SPD riskierte. Globale Wirtschaft und weltumspannender Freihandel erforderten eine globale und kosmopolitische Opposition, die sie mit radikaler Kritik aus den Angeln heben könnte.

„Wir führen einen Krieg gegen die Armen“, erklärte Multimilliardär Warren Buffett in der Pose eines puritanischen Sektenpredigers – „und wir Reichen werden diesen Krieg gewinnen“. Diese Kriegserklärung hat kein Müntefering, Schulz oder Gabriel je gehört. Von den Gewerkschaften ganz zu schweigen, die zur brav bellenden, aber folgsamen Opposition der Industrie geworden sind. Gewerkschaften sind Verächter der Grünen, die sie als potentielle Vernichter ihrer Arbeitsplätze betrachten.

Das Menschenbild der Proleten ist ein Reflex des Hasses und der Verachtung, die sie seit Jahrhunderten erfahren. Der von Natur aus faule Parasit muss zur Arbeit gezwungen werden. Freiwillig macht kein Mensch einen Finger krumm. Dieses Menschenbild ist das Erbe des homo religiosus. Ohne harte Pädagogik wird die faule Bestie nur Unsinn treiben. Deshalb „fördern und fordern“. Was auf Deutsch heißt: zwingen, beschämen und mit Strafen bedrohen.

Dieses Menschenbild der Schwarzen Pädagogik ist der Grund, warum die Partei das BGE hartnäckig ablehnt. Sie können sich nicht vorstellen, dass der Mensch von Natur aus freiwillig seine Begabungen entfalten will, dass er die Gesellschaft nicht im Stich lassen kann. Das zoon politicon ist den erbitterten Proleten unbekannt. Sie sprechen von lebenslanger Bildung. Doch was Bildung ist, übernehmen sie von ihren Vorstandsfreunden: Bildung ist nicht die Fähigkeit zu kritischem Denken, sondern Drill für die „Herausforderungen der Zukunft“.

Als sich die Partei von Marx abwandte, war der Schritt notwendig, aber nicht ausreichend. Die Unterordnung unter die sozialistische Heilsgeschichte wurde vertauscht mit der Unterordnung unter die Heilsgeschichte des Marktes, dessen Weisheit kein Mensch ergründen, dessen geheimnisvollen Mechanismen man sich nur unterwerfen kann. An die Stelle der revolutionären Heilsgeschichte traten die göttlichen Elemente Zeit und Zufall.

Gerade ihre Erfolge dienten der wachsenden Abhängigkeit der Proleten vom Kapital. Kann man jemanden grundsätzlich anzweifeln und bekämpfen, mit dem man täglich zusammenarbeitet und von dem man seinen Lohn erhält? Die Lohnabhängigen waren an Bescheidenheit gewöhnt, eben diese Bescheidenheit wurde zur Ursache ihrer wachsenden emotionalen und materiellen Abhängigkeit.

Arbeit muss sich lohnen, ist kein Gesetz Hayeks. Ob sich etwas lohnt, unterliegt keiner „Gerechtigkeit“, sondern der Willkür eines Marktes, der „höher ist als eure Vernunft“. FDP-Lindner wird wissen, warum er Hayek nie zitiert. Den Begriff Gerechtigkeit benutzt er nur zu polemischen Zwecken, wenn er es für ungerecht hält, dass Faulenzer sich einen schönen Lenz auf Kosten der Steuerzahler machen. Hartz-4-Beamte nennen ihre Klientel Kunden. Auf diesen Begriff mussten findige Framer erst mal kommen.

Wie weit Karriere-Proleten sich von der Realität entfernt haben, zeigen beispielhaft die charakterlichen und demokratischen Zerfallserscheinungen bei Schröder und Müntefering. Letzterer hält Opposition für Mist, womit er einen Grundpfeiler der Demokratie in die Luft sprengt. Ersterer verachtet das Gesetz und hat sich in eine prahlende Marionette Putins verwandelt. Mein Leben ist meins und nicht eures, weist er jede Kritik an seinem Pipeline-Job zurück – um mit ihm internationale politische Turbulenzen anzuheizen. Seinen rechts-verachtenden Satz hält er noch immer für richtig, Sexualtäter sollen für immer weggesperrt werden. Trumpisten aller Länder stehen über dem Gesetz.

Die Deutschen sind nicht mehr belehrbar, meinen zunehmend internationale Beobachter. Sie sind in ihre Macht verliebt und verstockt, weil sie selbst nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht. Sie könnten sich nur weiterentwickeln, wenn sie ihre Widersprüche bemerkten. Sie halten sich für die Samariter der Welt, obwohl Merkel die gnadenlose Politik des Wettbewerbs predigt. Sind Agape und Fremdenhass vereinbar?

Nächstenliebe hatte nie die Absicht, die Welt zu verändern. Die Welt, sie sollte vergehen, das war die unwiderrufliche Entscheidung Gottes. Mit Liebe und Sanftmut war da nichts zu machen. Oh Welt, ich muss dich lassen, ich fahr dahin mein Straßen – ins ewige Paradeis. Diese Jenseitshaltung ist Gift für die politische Erhaltung der schnöden Welt.

Und nun sollen die Nationen den Zusammenhang von ethischem Kapitalismus mit drohender Kriegsgefahr erkennen?

Wir dürfen den Wirtschaftswettbewerb nicht verlieren, das ist Merkels Standardrede. Gäbe es einen Zusammenhang von Konkurrenz und Krieg, wäre sie eine gefährliche Kriegstreiberin. Anstrengen, anstrengen, anstrengen. „Deutschland schrammt knapp an einer Rezession vorbei, Deutschland in einem gefährlichen Schwebezustand“: so lauten typische Schlagzeilen der Gazetten, wenn das Land nicht ständig Superzahlen produziert. Immer mit Volldampf voraus und alle Konkurrenten unter Druck setzen. Wo anders kann das enden als im Krieg, wenn friedliche und völkerverbindliche Signale ersatzlos gestrichen werden?

Am Anfang war der internationale Handel als Mittel der Völkerverbindung gedacht. Für A. Smith gab es nur materielle und moralische Vorteile des internationalen Handels. „Smith sieht den äußeren Handel als an und für sich vorteilhaft an, vorausgesetzt, dass er sich selbsttätig entwickelt.“ (Gide/Rist)

Eben das tut er schon lange nicht. Genau genommen hat es nie getan. Denn die koloniale Übermacht des Westens war immer von Bajonetten begleitet, um seine Vorherrschaft nicht zu gefährden. Smith hatte gute Absichten, die Doppelmoral des Westens konnte er nicht sehen.

Autarke Nationen, die mit ihrer Binnenwirtschaft zufrieden wären, hätten keinen großen Appetit, ihre Nachbarn zu überfallen und zu verspeisen. Wer aber mit seiner Wirtschaftskraft vor Kraft nicht laufen kann, die ganze Welt erobern und niedermachen muss, der schreckt auch vor der ultimativen Stufe des Wettbewerbs nicht zurück: dem militärischen Endsieg über den Globus.

Der Urkapitalismus kannte keinen eskalierenden Wettbewerb zwischen den Völkern, der zwanghaft in Sieg und Niederlage enden musste. Adam Smith war viel zu sehr stoischer Weltbürger, als dass er andere Nationen mit ökonomischer Überlegenheit in den Schatten hätte stellen wollen. „Wohlstand der Nationen“ – das war buchstäblich gemeint: alle Nationen sollten vom internationalen Handel profitieren. Smith glaubte noch an eine vernünftige Arbeitsteilung unter den Völkern zu gegenseitigem Nutz und Frommen.

Deutschland und die führenden Exportnationen der Welt hingegen denken nicht daran, ihre Vorherrschaft mit anderen zu teilen. Sie kennen nur eine einzige Form der Abhängigkeit: sie überschwemmen die anderen mit ihren Produkten, die anderen bezahlen – und bleiben möglichst unterentwickelt und abhängig. Doch was, wenn die anderen durch solche Übermacht zugrunde gerichtet werden und die Importe nicht mehr zahlen können? Doch was, wenn die anderen Nationen aufholen und auf Importe der Marktführer nicht mehr angewiesen sind, ja, diese an Effizienz und Erfindungskraft weit übertreffen? Wie China, das dabei ist, den Westen wie ein Tsunami zu überrollen?

Der Neuroökonom Armin Falk hält Neid für eine Charakterschwäche der sozial Schwachen. Zur Erinnerung: In Urzeiten gab es nur den Neid der Götter, die es nicht ertrugen, wenn die Sterblichen glücklich waren. Der christliche Gott drehte das Ganze auf den Kopf und ließ sich von seinen Geschöpfen beneiden, die er zu diesem Zweck absichtlich in Elend und Unglück stürzte.

Die Kapitalisten haben diese List des christlichen Gottes übernommen. Werden sie von Losern beneidet, glauben sie, sich glücklich schätzen zu dürfen. Neid und Missgunst der abgehängten Massen, nicht schnöder Mammon, sind das Opium, mit dem die Reichen ihr unerfülltes Leben überstehen.

 

Fortsetzung folgt.