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Sofort, Hier und Jetzt LXXII

Sofort, Hier und Jetzt LXXII,

in abgründigen, lebensbedrohlichen Situationen, wenn der Mensch mit schierem Überleben davonkommen will, hilft nur noch die Wahrheit, die ungemischte, reine, lautere Wahrheit.

Wer zu viele Gifte inhaliert hat, muss sich aller schädlichen Umwelteinflüsse enthalten, ein Rauchgiftsüchtiger das geringste Quantum an Drogen meiden, ein Alkohol-Kranker jeden Tropfen Alkohol fliehen, ein Raucher darf sich keine Zigarette mehr erlauben – wenn sie davonkommen wollen.

Eine robuste, lebensfördernde, souveräne Natur hat die Menschheit bislang vor dem Tode bewahrt, deren selbstschädigendes Fehlverhalten großzügig ausgeglichen. Die Kraft der Gesundheit bändigte die Attacken des Größenwahns.

Irgendwann ist die Geduld der Natur am Ende. Ihre Heilkraft wirkt nur noch, wenn das gefährdete Lebewesen die Regeln des Überlebens beachtet und sich nicht länger auf die Güte der Natur verlässt. Ab dem Beginn der lauteren Wahrheit – nicht identisch mit einer platonischen Zwangsbeglückung – muss jede Rechnung der Natur vom Menschen eins zu eins beglichen werden. Wer sich fahrlässig verschuldet, darf auf keine Nachsicht mehr hoffen.

In dieser Grenzsituation ist die Menschheit angekommen. Gnadenlos überfordert sie die Kapazitäten der Natur. Universelle Natur ist (wahrscheinlich) unendlich, die planetarische ist begrenzt. Wer sich unterhalb der Grenzen befindet, kann viele Sünden begehen, ohne die Rechnung synchron begleichen zu müssen.

Der Gott der Erlöser hat die Eigenschaften der Natur imitiert: ihre überquellende Souveränität in Gnade, ihre strenge Kausalität in

Schuld und Strafe verschandelt:

„Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte. Er wird nicht für immer hadern noch ewig zornig bleiben. Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat. Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten. So fern der Morgen ist vom Abend, lässt er unsre Übertretungen von uns sein. Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der HERR über die, die ihn fürchten. Denn er weiß, was für ein Gebilde wir sind; er gedenkt daran, dass wir Staub sind. Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr. Die Gnade aber des HERRN währt von Ewigkeit zu Ewigkeit über denen, die ihn fürchten, und seine Gerechtigkeit auf Kindeskind bei denen, die seinen Bund halten und gedenken an seine Gebote, dass sie danach tun. Der HERR hat seinen Thron im Himmel errichtet, und sein Reich herrscht über alles.“

Der Vater will gefürchtet werden, damit er sich seiner Geschöpfe erbarmt. Die Mutter will nicht gefürchtet werden, sie anerkennt ihre Geschöpfe, damit ihre Großzügigkeit von ihnen erkannt werden kann.

Der Vater überragt die Erde himmelhoch. Die Mutter ist identisch mit allem Sein, sie überragt den Menschen, ohne ihn zu erniedrigen.

Für den Vater ist der Mensch ein Staubkörnchen, das auf Erden vergeht, nur als auserwähltes und verworfenes für immer besteht. Für Mutter ist der Mensch ein kostbares Wesen, das im Tod zurückkehrt in die Ewigkeit der Natur. Auserwählte und Verworfene gibt es in der Natur nicht.

Der Vater thront jenseits der Natur im Himmel, die Mutter ist Natur und sonst nichts.

Die bisherige Entwicklung der Menschheit war eine Epoche des Überflusses. Mängel- und Notepochen waren Ausnahmen. Wer sich an die Grenzen der Natur hielt, für den sorgte sie ausreichend und verlässlich. Nur die Erlöserkulturen saugten Mutter Natur solange das Mark aus, bis sie sich, in die Enge gedrängt, mit lebensbedrohlichen Verknappungen zur Wehr setzen musste.

Dem Fortschritt der Erlöserkulturen gelang es, drohende Knappheiten mit noch genialeren Absaugmethoden auszugleichen und dem Menschen noch üppigere Luxusgaben zu gewähren.

Die Naturausbeute ist mittlerweilen so effizient, dass sie droht, ins Gegenteil umzukippen, das Überleben der Menschheit zu gefährden und die Ressourcen der Natur zu beenden.

Die Wahrheit seiner Naturabhängigkeit konnte sich der Mensch solange verheimlichen, so lange er in endlosem Überfluss seine gottähnliche Naturüberlegenheit feiern konnte. Immer neue Erfindungen und Entdeckungen vermittelten ihm das Gefühl, weltenweit über der Natur zu stehen. Seine Abhängigkeit konnte er lange ignorieren.

Erst seitdem die Begrenztheit der Natur sich immer schmerzlicher zur Kenntnis entlarvt, empfindet er die Grenzen der Natur als bedrückende Fesseln, die er abwerfen will – oder als lang erwartete Erfüllung einer apokalyptischen Offenbarung.

Ein Vielfaches zu Eins: so war bislang das Verhältnis von Naturgabe und Menschenbeute. Erst seit dem Niedergang der Ausbeute schrumpft das Verhältnis zur Quote Eins zu Eins. Was der Mensch vernichtet, scheint für immer vernichtet. Das bislang geltende Gesetz: „was auszugehen droht, wird durch Neuerfindungen um ein Vielfaches ersetzt“, steht vor seinem Ende. Die wunderbar scheinenden Vervielfältigungs- und Ersatzmethoden verlieren an Substanz.

Bislang konnte die Menschheit sich mit Ersatzmythen über drohende Mängelphänomene hinweg katapultieren. Das gelingt immer weniger. Der Mensch lernt, dass seine Ausbeutungen Löcher reißen, die nicht mehr ignoriert werden können.

Natur erneuert sich unaufhörlich. Doch dem Menschen gelang es, die Erneuerung so zu beschädigen, dass der Mensch Gefahr läuft, seine Milliarden Geschwister immer weniger ernähren zu können.

Wenn Eliten immer mehr daran arbeiten, in einer kleinen Zahl von Erwählten ins Weltall zu flüchten, haben sie den Glauben an Mutter Erde offenbar verloren und setzen auf einen omnipotenten Vater im Universum.

Wir sind in die finale Epoche der Wahrheit eingetreten. Wer nicht an die Fiktion eines allmächtigen Vaters glaubt, muss konstatieren, dass alle Illusionen eines unbegrenzten Fortschritts in den Untergang führen.

Nun ernten wir die Früchte unseres luxuriösen Ausbeuertums als EinszuEins-Folgen unseres Tuns.

Bislang galt das Gesetz der blinden Zuversicht: welche Probleme wir uns auch immer bereiten, durch erfindungsreichen Fortschritt werden wir sie lösen. Nachteile des Fortschritts sind unvermeidbar. Jeder Fortschritt ist ambivalent. Die Hoffnung aber war unbesiegbar, dass alle Nachteile durch die Summe der Vorteile überwunden werden könnten.

Das schwärmerische Gesetz des „Prinzips Hoffnung“ ist im Bereich der Wahrheit unhaltbar geworden. Die scheinbar besiegten Nachteile akkumulierten hinter den Kulissen und drohen inzwischen, die Vorteile zu vernichten.

Im Bereich der Wahrheit gelten die Sätze: Was wir tun, ernten wir; wir ernten, was wir gesät haben. Unvorhergesehene Kompensationen oder Wunder existieren nicht. Wer an sie glaubt, schaufelt der Menschheit das Grab.

Wollen wir saubere Luft, müssen wir für saubere Luft sorgen. Tun wir‘s nicht, werden wir in selbstfabrizierten Abgasen ersticken.

Wollen wir die Menschheit ernähren, dürfen wir die fruchtbare Erde nicht auspressen und übergüllen. Sonst werden wir in Hungersnöten sterben.

Wollen wir die Gaben der Natur weiterhin genießen, dürfen wir sie nicht überhitzen und austrocknen. Sonst werden wir in Hitzewellen, Tornados, Austrocknungen und Überflutungen dahinsiechen.

Wir müssen zurückkehren zum Gesetz der bedingungslosen Kausalität. Nihil fit sine causa, nichts geschieht auf Erden ohne Ursache. Die Natur haben wir in die Ecke gedrängt, dass sie jeden Faustschlag mit einem Faustschlag erwidern muss – dessen Quantität durch unberechenbare Kettenreaktionen ins Verheerende und Unkontrollierbare expandieren kann.

Zum Prinzip Kausalität gehört das Prinzip Verantwortung. Was wir kausal in Bewegung setzen, dafür tragen wir Verantwortung.

Es gibt keine übermenschliche Geschichte, Evolution oder Heilsgeschichte, die uns führen, wohin wir nicht wollen. Solange es keine außerordentlichen Naturkatastrophen gibt, gilt der Satz: uns erwartet, was wir kausal zu verantworten haben.

In diesem Sinn ist uns die Zukunft – sofern sie eine Verlängerung der Gegenwart ist – nicht verschlossen. In diesem Sinne gilt: die Zukunft hat schon begonnen. Oder: eine magische Zukunft als Erlöserin der Menschheit wird es nicht geben.

Hume begann, an der Kausalität zu zweifeln. Die zeitliche Abfolge zweier Ereignisse würden wir unbefugterweise in kausale Bedingtheit verwandeln und somit verfälschen. (Post hoc ergo propter hoc, Danach wird zum Deswegen).

Der Glaube Newtons an die Gesetzmäßigkeit der Natur wurde von seinem Landsmann gebrochen. Festigkeit und Zuverlässigkeit der Natur begannen ins Wanken zu kommen.

Am Fortschritt der Naturwissenschaften konnte Humes Skeptizismus nichts ändern.

Doch die wissenschaftliche Skepsis an der Kausalität der Natur war eine untergründige Absage an die Kausalität menschlichen Verhaltens. Die Abläufe unserer Geschichte sind keine automatischen Folgen unseres Tuns. Wir sind nicht verantwortlich für die kausalen Folgen unseres politischen Handelns. Sind wir nicht Subjekte unseres Geschicks, können wir keine Verantwortung für unser Tun übernehmen.

Bei Marx beschränkt sich die Kausalität auf die gesetzmäßige Geschichte, die über unsere Köpfe hinweg rollt. Uns bleibt nur die Chance, uns an die Räder des Fortschritts festzuklammern, bis wir in das Reich der Freiheit gelangen. Verantwortung? Keine. Bei den Kapitalisten nicht anders. Der alleswissende Markt dominiert das Geschehen, wir haben zu folgen. Verantwortung? Keine.

Humes Absage an die Kausalität der Geschichte war eine indirekte Absage an die Verantwortung des Menschen. Wenn der Mensch nicht weiß, was er bewegt: wie soll er verhindern, was er nicht ver-schuldet hat?

„Die zunehmende Unvernunft des neunzehnten und des bisher vergangenen zwanzigsten Jahrhunderts ergab sich zwangsläufig aus der Vernichtung des kausalen Empirismus durch Hume. Aus Erfahrung und Beobachtung können wir nichts lernen. So etwas wie einen rationalen Glauben gibt es nicht: „Wenn wir glauben, das Feuer erwärmt oder das Wasser erfrischt, so geschieht es bloß, weil es uns zu viele Mühe kosten würde, anders zu denken.“ Zwar können wir nicht umhin, an Kausalitäten zu glauben, aber kein Glaube lässt sich auf Vernunft aufbauen. Ergo kann kein Handeln vernünftiger sein als ein anderes, da alle gleichermaßen auf Irrationalitäten beruhen.“ (B. Russell, Philosophie des Abendlandes)

Kant erkannte die Akausalität als Gefahr für eine rationale Wissenschaftlichkeit und sorgte für eine apriorische Kausalität. Wenn die unerkennbare Natur nicht kausal sein kann, ist der Mensch dennoch in der Lage, ihr eine Kausalität zu verschaffen. (Wie man über eine unerkennbare Natur sagen kann, was ihr fehlt, ist bis heute das Geheimnis Kants geblieben.)

Im Bereich der Wahrheit erkennen wir die Dinge der Natur und des menschlichen Handelns, wie sie sind – Irrtümer eingeschlossen. Dennoch sind wir fähig, durch selbstkritisches Forschen unseren Fehlern auf die Schliche zu kommen.

Wären wir nicht in der Lage, die Wahrheit der Dinge zu erkennen, so wären wir unfähig, die bedrohte Lage der Menschheit zu erkennen. Jeder Alarm wäre zu unterlaufen durch die Bemerkung: eine objektive Wahrheit der conditio humana ist ausgeschlossen. Wahrheiten gebe es nur im Plural. So viele Menschen, so viele Wahrheiten. Das ist die Lehre der Postmoderne, die alle Versuche einer allgemeinverbindlichen Erkenntnis ins Reich der Phantasmagorie verweist.

Die Philosophie der Moderne verachtet die „objektive Erkenntnistheorie“ der Griechen. Die Wahrheit der Heiden sei abhängig von einer minderwertigen Natur, die durch den Menschen erlöst werden muss. (Römer 8, 19 ff) Das sei eine Blasphemie.

Weshalb die Modernen dazu übergingen, die Wahrheit zu subjektivieren. Nicht die Natur, sondern das gottebenbildliche Subjekt verleiht der Natur durch imperatives Erkennen eine objektive Wahrheit. Der Mensch steht über der Natur. Das Erkennen der Natur ist sein Herrschaftsmittel.

Gottes Ebenbild überragt die minderwertige Natur. Seine Erkenntnis ist kein passives Abbilden der Wirklichkeit, sondern schöpferische Kontinuität (creatio continua). Indem der Mensch erkennt, schafft er die Realität nach seinem Bilde. Durch Erkennen erschafft der Mensch die Natur kontinuierlich aus Nichts. Ich denke, also bin ich; ich erschaffe, also erkenne ich; ich produziere, also herrsche ich. Das Erkennen der Moderne ist kein Erkennen einer fremden Natur, sondern eine Selbsterkenntnis. Indem ich die Welt erkenne, erkenne ich mich in meiner unvergleichlichen Gottähnlichkeit.

In der Antike war Erkennen kein passives Übernehmen einer fremden Objektivität. Die Ideen, die der Mensch in der Natur erkennt, sind identisch mit den internen Ideen des Menschen (Platon). Im Menschen erkennt die Natur sich selbst. Platons Ideenlehre war eine Konsequenz aus der Mäeutik seines Lehrers Sokrates. Ich erkenne, wenn ich anamnestisch die Ursprünge meines Denkens erkenne. Erkennen ist Erinnern der Wahrheit der Natur, die ich als Kind von meiner Mutter als Geschenk erhielt.

Wäre das antike Denken ein Gehorsamsakt gegen eine fremde Natur, könnte es nicht autonom sein. Ich erkenne die Natur, weil ich mich selber erkennen kann. Im Erkennen der Wahrheit kehrt der Mensch zurück in den Schoß der Natur.

Wenn Ökologie Friede mit der Natur ist, muss sie auf einer Wahrheitstheorie beruhen, die den Frieden denken kann. Die subjektiven Wahrheitstheorien der Moderne beruhen auf dem Zwiespalt zwischen Mensch und Natur: ein gottähnlicher Übermensch steht einer minderwertigen Natur gegenüber, die er durch patriarchalisches Denken zu sich empor erzieht. Wie der Mann das Weib „erkennen“ muss, um es auf seine Ebene empor zu ziehen, muss der Mensch die Natur erkennen, um ihr die Würde einer Magd zu verleihen.

„Und Adam erkannte sein Weib Eva und sie ward schwanger.“

Ein Weib erkennen, heißt, es zu schwängern und mit Hilfe einer zahlreichen Nachkommenschaft die Erde zu bevölkern und zu beherrschen. Erkennen ist ein Akt der Machterringung. Wissen ist Macht: Bacons Hauptdogma der modernen Welteroberung ist die Entfaltung eines biblischen Dogmas.

Im Bereich der Wahrheit muss der Mensch Verantwortung für sein kausales Tun übernehmen. Voraussetzung ist eine objektive Erkenntnis der Realität. Wer erkennt, was er tut, muss auch wissen, wie er den Mängeln seines Tuns begegnen kann. Durch eine wahre Moral.

Kein willkürliches Verhalten kann in die Tat umsetzen, was der Einheitsbildung mit der Natur dient. Vertrauensbildende Maßnahmen beruhen auf wahrer Erkenntnis der Bedürfnisse und Fähigkeiten des Menschen, die ihn zum friedlichen Wesen heranbilden können. Moral und Erkenntnis der Wahrheit bedingen einander. Wer Moral von Wahrheit separiert, vernichtet beide in einem Akt.

Der Mensch ist ein wahrheitsfähiges Wesen. Durch Versuch und Irrtum kann er sich die Wahrheit des Friedens mit Mensch und Natur erarbeiten. Dabei ist er nicht auf sich allein gestellt. Im Gespräch mit seinen Mitmenschen, im Streit mit anderen Wahrheiten kann er erforschen, was nötig ist, um Frieden mit der Natur zu schließen. Metaphysische Wahrheiten über Gott und sonstige Projektionen führen ins Ausweglose.

Die Wahrheitsfähigkeit des Menschen bezieht sich auf seine Überlebensmöglichkeiten, die ihm ein glückliches Leben gestatten. Die politische Gemeinschaft, in der die Wahrheits- und Glücksfähigkeit des Menschen am besten gedeiht – heißt Demokratie. In Gleichheit und Freiheit wird kein Denken durch Macht bedroht und eingeschüchtert. Durch politische Macht, an der jeder ebenbürtig teilnehmen kann, ist seiner Wahrheitsfähigkeit am besten gedient. In jeder Despotie, in jedem totalitären Gebilde wird Selbstdenken durch Gewalt ausgerottet.

Im Bereich der Wahrheit können wir erkennen, was wir kausal verantworten müssen, wie wir Natur behandeln und welches Schicksal wir uns bereiten.

Eine objektive Erkenntnis der Realität ist möglich. Ist sie menschenwürdig und vertrauensbildend – oder müssen wir Alarm schlagen, weil wir unbedachterweise Gefahren heraufbeschworen haben?

Wer heute Alarm schlägt, gilt als Apokalyptiker. Nachdem die Deutschen die Welt schon mit einer totalitären Apokalypse beglückt haben, wollen sie heute von Apokalypse nichts mehr wissen. Schon der Begriff nervt sie. Lieber wollen sie blind in irreversible Gefahren hineinschliddern, als sich selbst ein Bild über die Wirklichkeit zu machen.

„Und wieder einmal ist die Zeit der Apokalyptiker. Mich nerven all diese Untergangsszenarien. Als ich (Jahrgang 1970) jung war, glaubten wir, unsere Wälder würden wegen des sauren Regens sterben, die Sowjetunion und die USA würden die Erde atomar zerbomben und mit einer Volkszählung würde unsere Privatsphäre für immer vernichtet. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich schon erlebt habe, dass es „5 vor 12“ war. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will nichts verharmlosen. Aber ich habe die Hysterie satt, mit der regelmäßig das Ende der Welt beschworen wird. Das schürt Ängste, löst aber kein einziges Problem.“ (BILD.de)

Wer einer Gefahr nüchtern begegnen will, muss sie nüchtern erkannt haben. Nüchtern erkennen, heißt die Wirklichkeit erkennen, wie sie ist, nicht, wie man sie haben möchte. Apokalypse heißt Entschleierung der Realität, wie sie ist. In den Erlöserreligionen wird sie zur Offenbarung. Da der sündige Mensch zur Erkenntnis nicht fähig ist, muss ihm die Wahrheit der Dinge von Oben offenbart werden.

Die BILD-Schreiberin will der Wirklichkeit diktieren, wie sie zu sein hat. Nicht so, dass sie in Angst fällt, nicht so, dass ihr Wohlgefühl beeinträchtigt wird. Nichts soll das satte Behagen in einer naturfeindlichen Ökonomie trüben.

Woher kommt das apokalyptische Denken? Aus der religiösen Prägung der westlichen Geschichte. Weil Heilsgeschichte sich einem Finale nähern muss, ist eine apokalyptische Verschärfung der Geschichte unvermeidlich.

Deutschland will christlichen Werten folgen, dazu gehört der Glaube an eine apokalyptische Wiederkehr des Herrn. Die gesamte Geschichte der Moderne ist eine selbsterfüllende Prophezeiung der Apokalypse. Entweder kommt der Herr und erfüllt seine Zusage – oder der Mensch kompensiert das Versagen des Herrn durch endlosen Fortschritt, der wenigen Erwählten das Glück und der Mehrheit der Verdammten das Unglück bringt.

BILD will christlich sein, doch vom christlichen Glauben will das Blatt nichts wissen. Der Glaube an die Apokalypse gehört immer noch zu den vorgeschriebenen Dogmen der Großkirchen. Die aber hüten sich, die letzten Glaubenssätze ihrer Dogmatik lautstark zu verkündigen, das könnte die Zahl der Kirchenflüchter verstärken.

„Das letzte Buch der Bibel hat Generationen von Christen das Fürchten gelehrt. Da ist die Rede von gewaltigen Naturkatastrophen: von Erdbeben, Feuer, Krieg und Vernichtung. Der Untergang der Welt zeichnet sich ab. Doch alle, die auf Gott vertrauen, sollen wissen: Jetzt ereignet sich das, worauf die ganze Schöpfung wartet: „Dann wird man den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken kommen sehen“ (Mk 13,24ff). Der Menschensohn kommt, wenn niemand es erwartet: Wenn Terror, Gewalt  und Naturkatastrophen alles Leben bedrohen. Solche Aussagen lassen Menschen hoffen, die aufgrund ihres Glaubens schikaniert, bespitzelt und mit dem Tod bedroht werden. Sie geraten nicht in Panik, sondern vertrauen einem Gott, der sie nicht dem Untergang preisgibt.“ (Eine kirchliche Stelle)

Ein Blick in die dogmatischen Bücher der Kirchen hätte genügt, um die BILD-Schreiberin über ihren Glauben aufzuklären. Doch Deutschland ist das Land der systematischen Heuchelei und Ignoranz. Sie glauben, wollen aber nicht wissen, was sie glauben. Ihre bisherigen Vorbilder, die Amerikaner, sind bekennende Biblizisten und glauben fest an die Wiederkehr ihres Herrn. Solche Glaubensmärchen verachten die „aufgeklärten“ Deutschen.

Auch wer an die biblische Apokalypse nicht glaubt, müsste sich die Frage stellen: wenn ich die Realität wahrheitsgemäß erkennen und ihre Gefahren bekämpfen will: was wäre, wenn sie sich tatsächlich in apokalyptischer, sprich, brandgefährlicher Verfassung befände? Kann ich mir die Wirklichkeit wünschen, widdewiddewidd, wie sie mir gefällt?

In den Alltagsphilosophien des Westens fehlen alle Voraussetzungen, die Wirklichkeit unverzerrt zu erkennen, die eigene Kausalität wahrzunehmen, die Realität mit einer humanen Moral zu gestalten. Eben dies wäre die pflichtgemäße Politik jedes Demokraten.

Wer diese Pflicht verhöhnt, ist ein wahrer Apokalyptiker. Was soll ihn das Ende der Welt bekümmern? Er fühlt sich als Erwählter, der alle finalen Schrecken im Schoße Gottes überleben wird.

 

Fortsetzung folgt.