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Jahreswende – Gesinnungswende? Wie sind die Zeichen an der Wand?

Daniel musste eine unbekannte Sprache übersetzen, um dem Machthaber Belsazar die Realität zu dechiffrieren. Er sagte, was ist: Mene, mene, tekel, uparsin. Kann man sich vorstellen, dass die heutigen Daniels der deutschen Kanzlerin diese Botschaft ins Gesicht sagen würden?

Mene: Gezählt, das heißt, Gott hat gezählt die Tage Deiner Königsherrschaft und sie beendet. Tekel: Gewogen, das heißt, Du wurdest auf der Waage gewogen und für zu leicht befunden. Peres (U-parsin): Zerteilt wird Dein Königreich und den Persern und Medern übergeben.“

Journalisten sind keine Propheten? Propheten taten auch nichts anderes, als die Wirklichkeit – die von Gott bestimmte – leserlich zu machen. Ihre Voraussagen der Zukunft waren nichts anderes als Gegenwartsanalysen: Wenn ihr euch nicht ändert, wird die erbärmliche Gegenwart eure Zukunft bestimmen.

Propheten waren Politanalytiker, die den Menschen die Augen über ihren Ist-Zustand öffnen wollten. Da Gott die gesamte Wirklichkeit beherrschte, war deren Wahrnehmung zugleich eine göttliche Offenbarung.

Was in Theokratien die Spezialbegabung weniger Erwählter war – die Wirklichkeit erkennen –, sollte in Demokratien die Fähigkeit jedes Einzelnen sein. Sinnvolle Entscheidungen in der Volksversammlung kann man nur fällen, wenn man die Realität erkennt, wie sie ist. Wenn jeder Einzelne erkenntnis- und wahrnehmungsfähig ist,

  wie es mündige Demokratien fordern, sind Erkenntnisse höherer Wahrheiten überflüssig und ausgeschlossen.

Mündigkeit ist autonome sinnliche Wahrnehmung und selbständiges Denken. Um das Deutungsmonopol ihrer privilegierten Offenbarungen zu verteidigen, bezweifeln Priester und Propheten die Wahrnehmungsfähigkeit der Sinne und die Denkfähigkeit des Gehirns. Sinne, behaupten sie, müssen trügen, eigenständiges Denken führt in die Irre. Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott sieht das Herz an. Die Weisheit der Welt ist vor Gott eine Torheit.

Wenn Journalisten die Wirklichkeit ungefälscht sehen und beschreiben wollen, müssen sie von der Objektivität ihrer sinnlichen Wahrnehmung überzeugt sein. Fakten müssen von allen Beobachtern unterschiedslos festgestellt werden.

Wie aber erklären sie sich dann den subjektiven Perspektivismus ihrer politischen Bewertungen? Sie erklären gar nichts, denn sie sehen keinen Konflikt zwischen Wahrnehmen und Denken. Eigentlich müssten sie sagen: Menschen sind gespalten. Ihre Sinneswahrnehmung ist objektiv, ihr Denkvermögen subjektiv.

Der christliche Denker Kierkegaard „geht aus von der Realität der im Sinnentrug befangenen Christenheit“.

Christen also könnten Journalisten nicht sein, denn sie glauben nicht an den Trug der Sinne. Dennoch halten sich viele für Anhänger der abendländischen Religion – obgleich sie überzeugt sind von der heidnischen Fähigkeit ihrer Sinne, die Realität sachgerecht widerzuspiegeln. Einerseits sind sie empirische Objektivisten, andererseits Subjektivisten im Denken.

Diese Mischung aus rationaler Sinneswahrnehmung und irrationaler Denkaversion entspricht exakt der deutschen Mischung aus gläubig und vernünftig. Journalisten sind musterhafte Deutsche.

Nun das Problem. Was ist der Zweck ihres Schreibens? Ihrem Publikum die Welt zu schildern, wie sie ist, damit jeder sich sein eigenes Urteil bilden kann. Sie selbst enthalten sich eines wertenden Kommentars, um ihre Leserschaft nicht hinterrücks zu beeinflussen.

Doch hier stockt‘s. Muss man seine Meinung unterdrücken, um andere nicht zu übertölpeln und fremd zu bestimmen? Das wäre der Fall, wenn die eigene Meinung so autoritär-unfehlbar daherkäme, dass unsichere Gemüter keine Chance hätten, sich eine eigene Position zu erarbeiten.

In Demokratien sollte dies unmöglich sein. Sie leben von der selbstbewussten Mündigkeit ihrer Mitglieder. Ein Edelschreiber, der seine Leserschaft nicht verachtete, müsste erklären: So, das waren meine Eindrücke und mein Urteil – nun bildet eures. Was also wäre der Grund ihrer Urteils-Enthaltung? Journalisten scheinen von der Richtigkeit ihrer Meinungen so überzeugt zu sein, dass sie schweigen müssen, um andere nicht mit ihrer Überlegenheit zu überrennen.

Glaubwürdig vorgetragene Wahrnehmungen und Kommentare überfahren nicht, sondern tun das Gegenteil: sie regen das Denken der anderen an. Denken provoziert Denken, weshalb Streit und Dialog zur Überlebensqualität der Demokratien gehören.

„Streit lähmt und Streit nervt und Streit langweilt“ – sprach der neue starke Mann in Bayern. Die CSU habe wieder ihre Geschlossenheit entdeckt. Da haben sie eine wahre demokratische Tugend entdeckt. Ein geschlossenes Volk ist völkisch, eine geschlossene Partei christlich, eine geschlossene Nation totalitär.

„Ich ermahne euch aber, liebe Brüder, durch den Namen unsers HERRN Jesu Christi, daß ihr allzumal einerlei Rede führt und lasset nicht Spaltungen unter euch sein, sondern haltet fest aneinander in einem Sinne und in einerlei Meinung.“

„… damit ihr einmütig mit einem Munde Gott, den Vater unseres Herrn Jesus Christus preist.“

Methodisches Streiten ist bei den Deutschen unbekannt. Weshalb sie alle konträren Meinungen ausgerottet haben. Bei ihnen gibt es weder links noch rechts, weder gerecht noch ungerecht, weder wahr noch falsch. Es gibt nur sachliche oder unsachliche – Zahlen. Alle Meinungsverschiedenheiten müssen schnell planiert und in Kompromisse verwandelt werden.

Niemand darf den Eindruck erwecken, etwas besser zu wissen oder überzeugender durchdacht zu haben als andere. Politische Besserwisser sind bei Medien unbeliebt. Ihre Dominanz soll von niemandem angezweifelt oder behelligt werden.

Der ARD-Journalist Jörg Thadeusz kann nur den Kopf über Kollegen schütteln, die sich anmaßen, etwas besser zu wissen:

„Der spätere Obama-Berater David Axelrod hat entschieden, mit dem Journalismus aufzuhören, als er auf jede seiner Fragen die Antwort zu kennen glaubte. Neugier bleibt ein tauglicher Treiber für journalistische Arbeit. Wer belehren möchte, sollte es im Kollegium eines Gymnasiums probieren. Die Beschwörer von Haltung finden bestimmt eine NGO, bei der sie laut, moralisch und generell im Recht sein können. Ich habe eben erst ein Stück eines Kollegen über den Bundespräsidenten gelesen. Was aus einer Haltung geschrieben ist, als wüsste der Autor mindestens besser, wie man chinesischen Präsidenten gegenübertritt, ganz allgemein internationale Krisen löst und ansonsten ein richtig gutes Staatsoberhaupt in Deutschland ist.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Diese „Demut vor der Wahrheit“ wäre der Tod des Journalismus. Wahrheit ist ein großes Wort, sagte der ehemalige SPIEGEL-Chef Georg Mascolo. Distanz also zur Wahrheitsliebe, damit sich niemand die Finger verbrennt. Wahrheit in der Faktenfrage: ja, Wahrheit in der Beurteilung der Fakten: auf keinen Fall.

Kompromisse dürfen nur zeitlich begrenzte Experimentalanordnungen sein, um Mittelwege auf ihre Tragfähigkeit zu überprüfen. Nach Ende der Überprüfung muss schonungslos Bilanz gezogen werden, das kompromisslose, nur der Wahrheit verpflichtete Denken muss wieder die Regie übernehmen – bis zum nächsten Kompromiss.

Wer keine profilierte Meinung vertritt, kann keine Kompromisse schließen. Meinungs- und profillos lässt er sich von seinem Streitgegner über den Tisch ziehen. Wenige Dezennien nach Hitler haben die deutschen Medien Angst vor der Wahrheit. Käme Hitler II – würden sie widerstandslos überlaufen mit dem Argument: glauben die Gegner von Hitler II wirklich, im Namen der Wahrheit reden zu dürfen? Angst vor der Wahrheit ist eine vorauseilende Unterwerfungsgeste unter die nächste Despotie, unter das jetzige faschistische Monopol des Fortschritts und einer grenzenlosen Naturverwüstung.

Die Welt geht unter.
Red nicht so besserwisserisch daher: die Welt geht nicht unter.
Und jetzt, was machen wir, wenn wir uns nicht einigen können?
Jetzt schließen wir einen Kompromiss.

Dieser absurde Kompromiss aus Sein und Nichtsein, Ja und Nein, A und non-A, ist der Markenkern der Merkel‘schen Politik.

Ein Demokrat hat die Dinge so zu durchdenken, dass er auf dem Marktplatz mit Selbstbewusstsein auftreten kann: Ich weiß es besser als Du. Ob ich recht habe mit meiner Überheblichkeit? Das wird der öffentliche Streit entscheiden. Das Publikum soll unsre Argumente anhören und ein Urteil fällen.

Wer glaubt, es noch besser zu können als die Disputanten, muss selbst in den Ring. Danach fällt die Entscheidung durch die Mehrheit.

Jede Mehrheitsentscheidung ist ein Kompromiss, der davon überzeugt ist: je mehr Demokraten derselben Meinung sind, je höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie wahrer sein könnte.

Könnte, denn Mehrheiten bestimmen nicht über die Wahrheit, sondern nur über den praktischen Kurs des Gemeinwesens in begrenzter Zeit. Sie bestimmen über einen limitierten Kompromiss, um die Demokratie nicht mit Alles-oder-Nichtsentscheidungen lebensgefährlich zu blockieren.

Geht es um grundsätzliche Entscheidungen, kann es keine Kompromisse geben. Was wäre der Kompromiss aus Demokratie und Faschismus? Aus Meinungsfreiheit und Zensur? Aus Freiheit und totalitärer Überwachung? Aus Mündigkeit und Unterwerfung?

Rudolf Augstein hielt sich selbst nicht an seine Formel: Sagen, was ist. Seine scharfen Kritiken markierten nicht nur das Fehlverhalten der Mächtigen. Für ihn war es selbstverständlich, dass er das Sagen dessen, was ist, komplettierte mit dem Sagen dessen, was seiner Meinung nach sein sollte.

Der heutige Journalismus ist in meinungslosen Zynismus abgestürzt. Das gefährdet auch seine Fakten-Ideologie. Abzulesen am Betrugsfall im SPIEGEL.

Die Wirklichkeit besteht aus unendlich vielen Fakten, die aber keineswegs von gleichem Erkenntniswert sind. Nicht jede Einzelheit repräsentiert die Wirklichkeit in gleich-wertiger Weise. Um die ganze Wirklichkeit der Erde aber geht es. Die Völker sind so zusammengewachsen, dass das Schicksal der Erde über alle entscheidet.

Da Fakten immer ausgewählt werden, entscheidet die Art der Auswahl über ihre Erkenntnisrelevanz. Wie Politiker sich privat geben, ob sie druckreif formulieren, in welcher Umgebung sie leben, wie sie ihre Wohnung eingerichtet haben, wie sie sich räuspern oder spucken: daraus wollen die Geschichtenerzähler des SPIEGEL ihre Schlussfolgerungen ziehen. Doch im Verlauf der Jahre haben sie sich immer mehr in der Ästhetik des Beiwerks verloren und das Wesentliche vernachlässigt: unmittelbar und direkt ihre eigenen subjektiven Eindrücke zu schildern, die den Anspruch erheben, sich der Objektivität zu nähern. Stattdessen versteckten sie sich allzu oft im ornamentalen Ambiente. In der Meinung: die auratische Umgebung oder das Private würden den Protagonisten mehr enthüllen, als ihm lieb ist.

Freuds These, der Selbstverrat dringe dem Patienten aus allen Poren, wollen die Journalisten widerlegen, indem sie weniger das Demonstrierte und Plakative beachten, sondern das Verräterische unbewusster Lebensumstände. Ein Psychoanalytiker muss mit dem „dritten Ohr“ hören, um unterhalb der bewussten Rede des Patienten die leise Stimme seines ES zu vernehmen. Ein Beobachter muss mit dem sechsten Sinn sein Beobachungsobjekt auf sich wirken lassen.

Menschen, so die Anthropologie der Medien, geben sich grundsätzlich anders, als sie sind. Hier ist der Freudianismus Fleisch geworden. Die behutsamsten Beschreibungen der Beobachter beginnen mit den Worten: Er gibt sich… Er gibt sich kämpferisch, wohlgemut, skeptisch.

Doch die nächste Frage wird nicht gestellt: Wie ist er denn wirklich? Können wir das erkennen?

Je mächtiger die Medien wurden, je mehr vergasen sie die Kluft zwischen Ich und Es. Sie schauen von außen – und wollen doch das Innere sehen. Ihre anfängliche Vorsicht wurde zur leichtsinnigen Unfehlbarkeit: Wir sagen, was ist, denn es ist, weil wir es sagen. Aus Beobachtern wurden Allwissende.

Ist damit die postmoderne Relativität aller Wahrnehmungen nicht doch bestätigt?

Nein. Es gibt viele, aber nicht unendlich viele Perspektiven. Wer sich bemüht, in einem wirklichen Dialog nicht nur seine eigenen Wahrnehmungen zu äußern, sondern den Wahrnehmungen seiner Gesprächspartner aufmerksam zuzuhören, sich imaginativ in sie hinein zu fühlen, der kann allmählich nachvollziehen, warum die anderen zu ihren Eigentümlichkeiten kommen mussten.

Das war das solidarische Geheimnis des sokratischen Dialogs, dass im Rekurs auf die biografische Entstehung der Meinungen plötzlich das gegenseitige Verstehen aufblitzen konnte. Jetzt verstehe ich, warum du anders denkst: weil du andere Erfahrungen in deinem Leben gemacht hast.

Die Natur hat uns mit gleicher Sensibilität ausgestattet. Wir sind unglücklich, wenn wir uns nicht geborgen fühlen, wir sind happy, wenn wir im Einklang mit unserer Umgebung leben.

Wer die Biografien der Menschen anamnestisch vergleicht, hat die Chance, in seinem Gegner einen Bruder oder eine Schwester zu erkennen. Im Urgrund sind wir eins, nur die zerrissenen und feindlichen Kulturschranken haben uns zu Wesen gemacht, die sich ablehnen oder hassen müssen. Zueinander finden, heißt, neugierig sein auf den anderen und sich von seiner Andersartigkeit nicht abschrecken lassen. Habe ich erkannt, warum er ein anderer Mensch werden musste, kann ich die Brücke zu ihm schlagen.

Für moderne Ohren klingt es schrecklich: Wahre Humanität einer Begegnung zeigt sich, wenn die biografischen Unterschiede transparent werden und sich das Gemeinsame zeigt. Heute gilt das Gemeinsame und Verbindende als das Uniforme und Langweilige. Dabei ist es umgekehrt: erst der Wegfall der künstlichen Panzerungen zeigt die Individualität jedes Menschen als Bereicherung des eigenen Lebens.

Erzwungene Unterschiede führen zu Ablehnung, Aggression und Hass. Die wahren Gemeinsamkeiten sind identisch mit der Unvergleichlichkeit jedes Einzelnen, die man nicht tolerieren muss, weil man sie nicht fremd und feindlich, sondern als glückliche Erfahrung für das eigene Leben empfindet.

Eine humane Gesellschaft würde man daran erkennen, dass sie ihre Mitmenschen, die zu Verbrechern und Terroristen wurden, um sich jene Aufmerksamkeit zu erzwingen, die sie als Heranwachsende nicht erfahren konnten, als jene Wesen behandeln würden, zu denen sie sich unter Zwang und Gewalt entwickeln mussten: als Unglückliche.

Alle Eliten erklären: Träume sind Illusionen derer, die den Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, zwischen Geborgenheit der Sippe und dem Überlebenskampf der Nationen nicht verstanden haben. Was in der Familie möglich ist, ist für die kalte Welt eine Fata Morgana. Das Leben in der Welt ist ein Kampf, ein unerbittlicher Wettbewerb. In der Familie erholt man sich, um Kraft zu schöpfen für den täglichen Überlebens-Fight.

Doch die Kluft zwischen Leben mit allen und riskantem Siegen über alle ist eine männliche Erfindung, die zur jetzigen Lebensbedrohung der Gattung geführt hat. Das Leben als Geborgenheit überlässt man den Frauen, damit man die Gefahren der Welt als Sieger und Triumphator absolvieren kann:

„Sie können einfach nicht begreifen, warum auch in einem gewissen Leiden für dich eine tiefe Befriedigung steckt. Sich danach hinzusetzen und zu sagen: „Mensch, ich habe mir das so lange erarbeitet – jetzt habe ich es geschafft“. Und das ist das tollste Gefühl auf dieser Welt. Völlig egal, ob das jetzt die Durchquerung Grönlands, ein Marathon, Triathlon oder etwas anderes ist. Es geht um den Ansatz, den Antrieb, um die Zielsetzung. Und wenn man das dann geschafft hat, ist man unglaublich befriedigt, weil man auch mit sich im Reinen ist. Ich werde während und nach den Expeditionen immer wieder bestätigt in meiner Grundeinstellung, dass ich eigentlich ganz wenig brauche, um glücklich zu sein. Die Harmonie in einer Familie, ein sicheres Zuhause, in dem ich mich wohlfühle, von dem ich aufbrechen, aber in das ich immer wieder zurückkehren kann. Alle Annehmlichkeiten, alle Privilegien in unserer modernen Welt nimmst du nach einer Expedition viel bewusster wahr.“ (WELT.de)

Welch eine katastrophale Fehleinschätzung: „dass ich ganz wenig brauche, um glücklich zu sein“ – wenn ich außerordentlich viel benötige, um die Welt zu umrunden und Abenteuer zu bestehen, die für die meisten Menschen unerschwinglich und lebensfeindlich sind.

„Zu meinem Glück brauche ich wenig, nur die Harmonie einer Familie, ein sicheres Zuhause, in dem ich mich wohlfühle, aus dem ich ausbrechen und zurückkehren kann, wie es meinen asozialen Phantastereien entspricht. Die Frau ist da für das Nest, der Mann muss im ewigen Wettbewerb zum Heros werden“.

Woher kommen wir, wohin gehen wir? Solche Fragen werden heute nicht mehr gestellt, denn sie sind für immer beantwortet. Wir kommen aus dem Elend und gehen in eine unübertreffliche Zukunft – dank des Wohlstands und technischen Fortschritts. Ein Glück außerhalb der quantitativen Vermehrung von Macht kennen wir nicht. Früher war alles besser? Früher war alles schlimmer, in Zukunft wird alles besser sein.

Fortschritt ist kein Wachsen in Humanität. Kinder müssen nicht mehr erzogen werden, denn sie werden als perfekte Wesen im Labor erzeugt. Liebesbeziehungen zu anderen muss ich nicht aufbauen, denn die Evolution sorgt für Ausschüttung von Hormonen. Den Geist des Menschen gibt es nicht mehr, er wurde auf physiologische Vorgänge reduziert.

Moralischer Fortschritt ist untergegangen. An seine Stelle sind wissenschaftliche Erkenntnisse getreten, mit deren Hilfe ich mich verändern lassen kann. Ich muss es nicht selber tun. Der wissenschaftliche oder wirtschaftliche Fortschritt tut alles für mich:

„Wie erzielen halluzinogene Drogen ihre eigentümliche Wirkung? Was Forscher herausgefunden haben, ist frappierend.“ (SPIEGEL.de)

Frappierend ist erstaunlich, überraschend, aber in welcher Hinsicht? Erstaunlich für die Wahrheitsfähigkeit, die moralische Überlebenskompetenz des Menschen? Nichts von alledem. Frappant nur für die Eitelkeit einer menschenfeindlichen Wissenschaft, da sie die geistigen Vervollkommnungsfähigkeiten des Menschen überflüssig macht. Menschliche Qualitäten werden uninteressant.

Moral ist nur für Neurotiker, die sich einbilden, die Menschheit retten zu müssen. Wahre Moral besteht in der Freiheit, sich nach Belieben in den Abgrund zu stürzen. Wer untersteht sich, mir vorzuschreiben, dass ich mich und die Menschheit retten muss?

Helmut Schmidt wird von den Medien hartnäckig falsch zitiert, wenn man ihn Visionäre zum Arzt schicken lässt. Er war Kantianer und hielt fest an Idealen. Ein ausgemaltes Ideal ist eine Vision. Ideale und Visionen sind keine faschistischen Zwangsbeglückungen, sondern Kriterien des eigenen Tuns. An ihnen müssen wir uns messen, an ihnen müssen wir uns orientieren. An ihnen sehen wir, wo wir stehen und wie weit wir noch gehen müssen.

Widerspricht ein Ideal nicht der Stückwerkstechnologie? Nein, wir können nicht fliegen. Anders als im vorsichtigen Tasten geht es nicht. Mit Gewalt schon gar nicht. Totalitäre Regimes, die das Glück erzwingen wollen, werden nichts zustande bringen als Unfreiheit und Elend.

Jeder hat ein Bild von der Welt. Das sollte er sich bewusst machen und seinen Mitmenschen mitteilen, damit wir die Gemeinsamkeit unsrer Lebensvisionen entdecken. Ohne Visionen geht es nicht:

„Visionen der Zusammenarbeit, der Wahrheitsliebe, der Lust am Lernen und am brüderlichen Umgang miteinander“, schrieben einst Donella und Dennis Meadows in ihrem ökologischen Weckruf „Die neuen Grenzen des Wachstums“.

Visionen erfordern keinen wissenschaftlichen, sondern einen moralischen Fortschritt. Genau der aber ist seit einem halben Jahrhundert in einem zynischen Abgrund verschollen. Lieber den verantwortungslosen Kitzel der Selbstgefährdung als die Anstrengung des lebensrettenden Imperativs.

Überall auf der Welt gibt es Aufbruch zu einer humaneren Welt, vor allem unter Frauen und Jugendlichen. Nur die Medien überschlagen sich in Hohn und Spott:

„Wann immer jemand die menschliche Fähigkeit anspricht, anderen mit schwesterlicher oder brüderlicher Zuneigung entgegenzukommen, läuft er Gefahr, Hohn zu ernten.“

Das erlebten die Meadows als Reaktion auf ihr epochales Werk. Das erlebte die ganze ökologische Bewegung jener Aufbruchsjahre, die sich mittlerweilen ins Gegenteil verkehrte. Gelobt sei, was den Menschen schädigt – aber Reichtum und Erfolg bringt. Das wurde zur Losung fast aller Regierungen rund um den Globus.

Im Jahre 1973 schrieb Iring Fetscher:

„Es ist eine legitime Funktion moralischer Denker, die Unentbehrlichkeit moralischer Regeln, Haltungen und Gewohnheiten immer wieder ins Bewusstsein zu rufen und der Auffassung, es gäbe nichts als Interessen, vehement zu widersprechen.“

Gottähnlicher Narzissmus hat sich als Selbstvernichtungs-Methode entlarvt. Interessen müssen moralisch werden, damit die Menschheit überleben kann. Moral ist Freundschaft mit Mensch und Natur.

 

Fortsetzung folgt.